Die Welt der wirtschaft — Ihr Aufstieg und Fall
Teil 4: Die industrielle Revolution — Wohin hat sie geführt?
DIE industrielle Revolution, die im 18. Jahrhundert begann, veränderte die Welt wie kaum eine andere Entwicklung zuvor. Technisches Know-how, ausreichend Kapital, die Verfügbarkeit der Rohstoffe, die Möglichkeit, jene Stoffe und die fertigen Produkte preiswert zu transportieren — diese und andere Voraussetzungen für den industriellen Fortschritt kamen zur damaligen Zeit in England zusammen. Dadurch wurde ein noch nie dagewesenes rapides Wachstum der Güterproduktion ausgelöst.
Den Weg dahin hatten jedoch frühere Ereignisse geebnet. Die Kohle, die in Großbritannien leicht erhältlich war, wurde als Treibstoff entdeckt. Und während Kontinentaleuropa von Religionskriegen zerrissen war, erlebte England eine Zeit relativen Friedens. Das Land besaß ein überlegenes Bankwesen, ja selbst der Bruch mit der römisch-katholischen Kirche war von Bedeutung, da der Protestantismus Wert auf den unmittelbaren wirtschaftlichen Wohlstand legte und sich bemühte, sozusagen den Himmel auf Erden zu schaffen.
Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an nahm die Bevölkerung Großbritanniens stark zu. Die Industrie mußte neue Wege finden, den steigenden Bedarf zu decken. Die Entwicklung ging offensichtlich in Richtung neuer und besserer Maschinen. Mit dem Geld, das die Banken zur Verfügung stellten, wurden neue Unternehmen gegründet, in deren von Maschinen beherrschten Fabrikhallen es von Arbeitern wimmelte. Gewerkschaften, die zuvor verboten waren, wurden legalisiert. Britische Arbeiter, die weniger durch Gilden- und Zunftgesetze eingeschränkt waren als ihre Kollegen auf dem Kontinent, arbeiteten im Stücklohn. Das spornte sie zusätzlich an, sich Verbesserungen auszudenken, um den Warenausstoß zu erhöhen.
Außerdem gab es in Großbritannien gutausgebildete Fachleute. Professor Shepard B. Clough erklärt: „Die Universitäten von Glasgow und Edinburgh suchten im ausklingenden 18. Jahrhundert ihresgleichen auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Untersuchungen und Experimente.“ So übernahm Großbritannien die Führung in der industriellen Revolution, die sich in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten ausbreitete und die in den Entwicklungsländern bis heute anhält.
Die Schattenseiten
Zufolge dieser Entwicklungen zog gemäß dem Werk The Columbia History of the World „ein bemerkenswerter Wohlstand in die englischen Städte ein, der sich in einem verbesserten Lebensstandard, einer florierenden Kultur auch auf dem Land und einem wachsenden Stolz und Selbstbewußtsein niederschlug“. Großbritannien erlangte zudem „eine Stellung der militärischen und insbesondere der maritimen Vorherrschaft, die wiederum ‚diplomatische‘ Macht mit sich brachte“. Die Beherrschung gewisser industrieller Prozesse verlieh dem Land wirtschaftliche Macht über seine Konkurrenten. Seine Industriegeheimnisse waren von einem solchen Wert, daß Gesetze geschaffen wurden, um ihre allgemeine Verbreitung zu verhindern.
Als beispielsweise Samuel Slater 1789 Großbritannien verließ, mußte er verheimlichen, wer er war, da es Textilarbeitern nicht erlaubt war auszuwandern. Er umging das Verbot, Pläne für Textilmaschinen ins Ausland zu bringen, indem er sich den gesamten Aufbau einer britischen Spinnmaschine einprägte. Das ermöglichte es ihm, die erste Baumwollspinnerei in den Vereinigten Staaten zu bauen.
Die Politik, Wirtschaftsgeheimnisse zu schützen, hat sich bis heute gehalten. Die Zeitschrift Time schreibt: „Unternehmen und Länder gebärden sich bei der Jagd nach Firmengeheimnissen wie Haie bei der Fütterung.“ Das Stehlen von Know-how kann Unternehmen einige Jahre Forschung und gewaltige Ausgaben sparen. „Ob es sich bei dem Produkt nun um ein Medikament oder um Brötchen handelt, die Firmen geben sich soviel Mühe wie noch nie zuvor, um Mittel und Wege zu finden, ihre Firmengeheimnisse zu schützen.“ Jemand, der in der Elektronikindustrie Personal anwirbt, gab zu: „Es gibt eine Menge Habgier da draußen. Wenn es einem gelingt, an die richtige Stelle zu gelangen, ist man im Handumdrehen Millionär.“
Die Textilindustrie liefert das Beispiel für eine weitere Schattenseite des wirtschaftlichen Fortschritts. Als neue Webmethoden die maschinelle Herstellung von Baumwollwaren ermöglichten, wuchs der Bedarf an Rohbaumwolle. Aber die Verarbeitung von Hand erforderte so viel Zeit, daß die Lieferungen den Bedarf nicht decken konnten. Dann erfand 1793 Eli Whitney die Entkernungsmaschine. Innerhalb von 20 Jahren stieg die Baumwollernte in den Vereinigten Staaten auf das 57fache. Doch wie Professor Clough erklärt, war die Erfindung Whitneys auch „für die Ausweitung des Plantagensystems und der Sklaverei verantwortlich“. So sei die Entkernungsmaschine zwar nützlich gewesen, habe aber „viel zu den Spannungen beigetragen, die sich zwischen den Nord- und den Südstaaten aufbauten und schließlich zum Krieg zwischen ihnen führten“.
Die industrielle Revolution stand an der Wiege eines Systems von großen Fabriken in den Händen der Reichen. Nur Begüterte konnten sich die teuren Maschinen leisten, deren Größe und Gewicht eine Unterbringung in stabilen, speziell geeigneten Gebäuden erforderlich machten. Diese Fabriken wurden an Orten gebaut, wo genügend Energie zur Verfügung stand und wohin die Rohstoffe preisgünstig transportiert werden konnten. Daher bestand die Neigung, Wirtschaftsbetriebe in riesigen Industriezentren zu konzentrieren.
Die wirtschaftliche Nutzung der Energie — zuerst Wasser und später Dampf —, die zum Betrieb der Maschinen nötig war, erforderte es, mehrere Maschinen gleichzeitig zu betreiben, weshalb die Fabrikgröße zunahm. Und mit zunehmender Größe wurden die Fabriken immer unpersönlicher. Die Arbeiter arbeiteten nicht mehr für Menschen, sondern für Unternehmen.
Je größer die Unternehmen wurden, desto größer wurde das Problem der Finanzierung. Zusammenschlüsse wurden immer zahlreicher, und die zuerst im 17. Jahrhundert entwickelten Kapitalgesellschaften gewannen jetzt an Bedeutung. (Siehe Kasten.) Das trug zu einer Machtkonzentration in den Händen einiger weniger bei, denn die Investoren oder Aktienbesitzer hatten wenig Kontrolle über die Unternehmensleitung. Geschäftsleute, die gleichzeitig die Direktorensessel mehrerer Firmen bzw. Banken einnahmen, verfügten über eine immense Macht. Clough spricht von „personellen Unternehmensverflechtungen“, wodurch „eine kleine Gruppe die Kreditlinie für andere Unternehmen bestimmen, der Konkurrenz Kredite vorenthalten und so viel Macht in ihren Händen konzentrieren konnte, daß sie in der Lage war, die Politik der Regierungen zu bestimmen und sogar Regierungen zu stürzen, die sich ihr gegenüber feindlich verhielten“ (Kursivschrift von uns).
So gewann die Welt der Wirtschaft durch die industrielle Revolution noch mehr an Macht. Würde sie diese Macht auf verantwortungsbewußte Weise gebrauchen?
Freies Unternehmertum oder kontrollierte Wirtschaft?
In England entfaltete der Kapitalismus seine volle Blüte. Der Kapitalismus mit freiem Unternehmertum und freier Marktwirtschaft hat unzählige Millionäre hervorgebracht sowie den höchsten Lebensstandard in der ganzen Geschichte geschaffen.
Doch selbst die glühendsten Verfechter des Kapitalismus räumen ein, daß er auch seine Schwächen hat. Zum Beispiel ist unter diesem das Wirtschaftswachstum unzuverlässig. Seine Instabilität führt periodisch zu wirtschaftlichen Hochs und Tiefs, zu Hochkonjunkturen und Wirtschaftskrisen. Schwankungen, die in früheren Zeiten durch äußere Einflüsse wie Kriege oder das Wetter herbeigeführt wurden, werden jetzt teilweise von dem Wirtschaftssystem selbst geschaffen.
Eine zweite Schwäche besteht darin, daß der Kapitalismus einerseits gute Waren produziert, andererseits aber häufig schlimme Nebenwirkungen wie etwa Rauch, Wasserverschmutzung und ungesunde Arbeitsbedingungen mit sich bringt. Die industrielle Revolution hat dies klar zutage treten lassen — man denke nur an den teilweise auf ihr Konto gehenden Treibhauseffekt mit seinen unerwünschten Folgen.a
Ein dritter Nachteil des Kapitalismus ist darin zu sehen, daß er nicht für eine gerechte Verteilung des Reichtums und der Produkte sorgt. Nehmen wir als Beispiel die Vereinigten Staaten. Im Jahr 1986 erhielt das untere Fünftel der Familien weniger als 5 Prozent des Gesamteinkommens des Landes, wohingegen das obere Fünftel fast 45 Prozent einnahm.
Während der Kapitalismus sich im Zuge der industriellen Revolution weiter ausbildete, blieben seine Schwächen nicht unbeachtet. Männer wie Karl Marx verurteilten ihn und forderten seine Ablösung durch eine kontrollierte oder zentral geplante Wirtschaft. Nach ihrer Auffassung sollten die Regierungen die Produktionsziele festsetzen, die Preise regulieren und die Geschäfte unter weitgehendem Ausschluß der einzelnen führen. Doch heute, nach Jahrzehnten der Erprobung in der Sowjetunion und in Osteuropa, hat dieses System seinen Reiz verloren. Eine zentrale Planung funktioniert am besten, wenn eine Notfall- oder konzertierte Planung erforderlich ist, z. B. im Kriegsfall oder bei der Entwicklung von Raumfahrtprogrammen. Im Geschäft mit dem täglichen Brot enttäuscht sie jedoch ziemlich.
Die Anhänger des Kapitalismus werden allerdings wie Adam Smith, auf dessen Lehren sich der Kapitalismus weitgehend stützt, zugeben müssen, daß das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft nicht völlig zu vermeiden ist. Wenn Probleme wie Inflation und Arbeitslosigkeit mit einigem Erfolg angegangen werden sollen, muß dies auf Regierungsebene geschehen. Daher haben sich die meisten Nationen mit einem freien Unternehmertum vom reinen Kapitalismus gelöst und sind zu einem gemischten oder modifizierten System übergegangen.
In Verbindung mit diesem Trend sagt das Werk 1990 Britannica Book of the Year voraus: „Es scheint wahrscheinlich ..., [daß] Wirtschaftssysteme einige ihrer maßgebenden Unterschiede verlieren, durch die sie sich in der Vergangenheit ausgezeichnet haben, und statt dessen ein Kontinuum anstreben, in dem sowohl Elemente der Markt- wie auch der Planwirtschaft in unterschiedlichen Proportionen eine Koexistenz eingehen. Gesellschaften mit einem solchen Kontinuum bezeichnen sich vielleicht immer noch als kapitalistisch oder als sozialistisch, doch sie werden wohl genauso viele gemeinsame Aspekte bei den Ansätzen zur Lösung ihrer Wirtschaftsprobleme aufweisen wie weiterhin bestehende grundlegende Unterschiede.“
Problemverschärfung
Im Jahr 1914 begann der Erste Weltkrieg, und die Welt der Wirtschaft stand Gewehr bei Fuß, um für die Kanonen, Panzer und Flugzeuge zu sorgen, die die kriegführenden Nationen benötigten und deren Herstellung die industrielle Revolution ermöglicht hatte.
In dem Werk The Columbia History of the World wird bemerkt, daß zwar die „Industrialisierung zur Lösung vieler materieller Probleme des Menschen beigetragen hat“, andererseits aber auch „einen Anteil hatte an sozialen Problemen von enormem Ausmaß und gewaltiger Komplexität“.
Heute — 78 Jahre nach 1914 — haben wir mehr denn je Ursache, diesen Worten zuzustimmen. Passenderweise trägt die nächste Folge unserer Serie den Titel „Das Großunternehmertum verstärkt den Druck“.
[Fußnote]
a Siehe Erwachet! vom 8. September 1989.
[Kasten auf Seite 18]
Der Aktienmarkt — vom Anfang bis zum Ende
Im 17. Jahrhundert war es üblich, ein neues Geschäft zu gründen, indem man das Kapital mehrerer Investoren zusammenlegte. Geschäftsanteile wurden zu einem festgesetzten Preis angeboten. Das so entstehende Aktienkapital ist als eine der wichtigsten Erfindungen bei den Unternehmensformen bezeichnet worden. In der Mitte des 16. Jahrhunderts hatten es die Engländer verschiedentlich mit solchen Unternehmen versucht, doch erst nach der Bildung der englischen Ostindischen Kompanie im Jahr 1600 fanden sie eine weite Verbreitung.
Mit der Zahl der Aktiengesellschaften wuchs auch der Bedarf an Aktienhändlern. Anfangs trafen sie sich mit ihren Klienten an verschiedenen Orten, manchmal im Kaffeehaus. Später wurden für den Aktienhandel spezielle Zentren, die Börsen, gegründet. Die Londoner Börse wurde 1773 ins Leben gerufen. Doch die älteste Börse der Welt war wohl entweder die in Amsterdam, die nach Ansicht einiger 1642 den Betrieb aufnahm, oder vielleicht auch die in Antwerpen, die anderen Quellen zufolge im Jahr 1531 eröffnet wurde.
Aktiengesellschaften bieten folgende Vorteile: Sie stellen genügend Kapital für Großunternehmen zur Verfügung; sie erlauben es der Allgemeinheit, sogar kleine Kapitalbeträge arbeiten zu lassen; sie begrenzen den Verlust des Investors bei einem Rückschlag des Unternehmens; sie erlauben es dem Aktionär, leicht an sein Geld heranzukommen, indem er einfach einige seiner Anteile oder alle verkauft; und sie ermöglichen es, Anteile weiterzuvererben.
Unerwartete Schwankungen bei den Aktienkursen können jedoch eine Katastrophe bedeuten. Außerdem kann der Markt, wie verschiedene Skandale an der Wall Street in jüngster Zeit gezeigt haben, auf illegale Weise manipuliert werden, zum Beispiel durch die zunehmende Praktik des Insiderhandels. Dabei verwenden oder verkaufen Eingeweihte wichtige Vorabinformationen — vielleicht das Wissen um das bevorstehende Zusammengehen zweier Unternehmen — und profitieren so von den Kursbewegungen der Aktien jener Unternehmen. Der Freund eines Mannes, der 1989 dieser Praktik angeklagt wurde, schrieb dessen Handlungsweise der Habgier zu. Auch wenn in vielen Ländern Bemühungen laufen, den Insiderhandel zu untersagen, heißt es doch in der Zeitschrift Time: „Gesetze allein werden nicht ausreichen, das Problem zu lösen.“
An Jehovas schnell herannahendem Gerichtstag wird das Problem zufriedenstellend gelöst werden. Silber und Gold werden wertlos sein. Aktien und andere Wertpapiere werden nicht mehr Wert haben als das Papier, auf dem sie gedruckt sind. In Hesekiel 7:19 ist zu lesen: „Ihr Silber werden sie auf die Straßen werfen, und ihr Gold wird zu etwas Abscheulichem werden.“ Und in Zephanja 1:18 wird gesagt: „Weder ihr Silber noch ihr Gold wird sie am Tag des Zornausbruchs Jehovas befreien können.“
[Bild auf Seite 17]
Die Einführung der Baumwollentkernungsmaschine führte zu einer Ausweitung der Sklavenarbeit
[Bildnachweis]
The Old Print Shop/Kenneth M. Newman