Unser vielseitiger Geruchssinn
WECKT ERINNERUNGEN, INTENSIVIERT DEN GESCHMACK
WAS riechst du am liebsten? Auf diese Frage gaben eine Reihe von Personen die interessantesten Antworten: gebratenen Speck, salzige Meeresluft, an der frischen Luft getrocknete Wäsche, frisch gemähtes Gras, scharfe Gewürze, den Atem eines Welpen. Als man nachhakte, weshalb gerade das ihr Lieblingsduft sei, konnten alle ein bestimmtes Erlebnis erzählen, das ihnen mit dem ersten Dufthauch wieder lebhaft in Erinnerung kam. Sehr oft waren es Kindheitserinnerungen.
Eine junge Frau erinnerte sich, daß morgens, wenn sie noch im Bett lag, der einladende Duft von gebratenem Speck den Raum durchzog und sie zum Frühstück mit der Familie herauslockte.
Louise (58 Jahre) erzählte, die gute Seeluft erinnere sie an die Sommertage, die sie als Kind in den Vereinigten Staaten an der Küste von Maine verbracht habe. „Wie unbeschwert wir waren! Wir rannten und spielten im Sand, sammelten Muscheln und kochten sie auf dem offenen Feuer“, sagte sie.
Michele (72 Jahre) entsann sich, als Kind ihrer Mutter beim Abnehmen der Wäsche von der Wäscheleine geholfen zu haben; wenn sie die Wäsche dann ins Haus hineintrug, vergrub sie ihr Gesicht darin und atmete den frischen, sauberen Duft tief ein.
Durch den Geruch von frisch gemähtem Gras fühlte sich Jeremy 55 Jahre zurückversetzt und an seine Kindheit auf einer Farm in Iowa erinnert; er sah sich auf einem Wagen voll frisch geerntetem Heu sitzen, das er mit seinem Vater noch vor dem Regen, den sie schon förmlich riechen konnten, in die Scheune einfuhr.
Jessie (76 Jahre) kam der Duft von scharfen Gewürzen in den Sinn, und sie erzählte mit geschlossenen Augen, ihre Familie habe in einem Eisenkessel im Freien apple butter gekocht (eine stark gewürzte Marmeladenart in den Vereinigten Staaten). Obwohl das schon ganze siebzig Jahre her war, hatte sie es nach wie vor in lebhafter Erinnerung.
Carol fiel der kleine knuddelige Welpe ein, den sie mit fünf Jahren auf dem Schoß hielt, und sie hatte den Geruch seines Atems noch in der Nase. Hmm, bei diesem Geruch war ihr, als säße sie in einem leichten Leinenkleidchen im warmen Sonnenschein auf einer alten Veranda.
Wie steht es mit dir? Hat dich je ein Duft so erfreut wie diese Personen und in dir Erinnerungen wachgerufen oder Gefühle geweckt? Hast du schon einmal die belebende, nach Harz duftende Gebirgsluft eingesogen oder dir eine frische, nach Salz schmeckende Seebrise um die Nase wehen lassen? Ist dir bei dem köstlichen Duft, der dir aus einer Bäckerei entgegenschlug, schon einmal das Wasser im Mund zusammengelaufen? Gemäß der Zeitschrift National Geographic sagte der Neurologe Gordon Shepherd: „Wir denken, unser Leben wird von unserem Gesichtssinn beherrscht, aber je näher die Essenszeit heranrückt, um so mehr merken wir, wie sehr die wahren Freuden des Lebens mit dem Geruchssinn zusammenhängen.“
Der Geruchssinn wirkt sich geradezu erstaunlich auf den Geschmackssinn aus. Während die Geschmacksknospen zwischen salzig, süß, bitter und sauer unterscheiden, nimmt der Geruchssinn feinere Schattierungen wahr. Äpfel und Zwiebeln würden ohne ihren Geruch wahrscheinlich ziemlich gleich schmecken. Oder probiere einmal aus, wie sehr ein Stück Schokolade an Geschmack verliert, wenn du dir beim Essen die Nase zuhältst.
Stell dir eine leckere Speise vor — zum Beispiel einen frisch gebackenen Kuchen. Er duftet deshalb so verführerisch, weil er Duftmoleküle an die Luft abgibt. Und da ist auch schon deine eifrig schnuppernde Nase. Sie atmet die Luft ein und schickt die Moleküle durch den erstaunlichen Mechanismus des Geruchssinns.
Eine eingehendere Betrachtung des Riechvorgangs ist im Kasten auf den Seiten 24 und 25 zu finden. Es ist wirklich beeindruckend, wie kompliziert und komplex der Geruchssinn ist.
Wie sich Düfte auf uns auswirken
Parfümeure, Chefköche und Weinhändler wissen seit Jahrhunderten, daß Düfte den Sinn betören und die Sinnesorgane erfreuen können. Heute versuchen Geruchspsychologen und Biochemiker die Macht der Düfte auf andere Weise zu nutzen. In Experimenten mit Düften vom Maiglöckchen bis zum Gewürzapfel haben Duftexperten in Schulen, in Bürogebäude, Pflegeheime und sogar in eine U-Bahn Düfte gepumpt, um deren Wirkung auf den Sinn und das Verhalten von Menschen zu erforschen. Sie behaupten, daß manche Gerüche die Stimmung beeinflussen, Menschen freundlicher stimmen und damit deren Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz ankurbeln und sogar die geistige Beweglichkeit steigern können.
Wie die Zeitschrift The Futurist schreibt, stehen die Leute in Tokio (Japan) inzwischen vor Gesundheitsstudios Schlange, um 30 Minuten lang einen „Duft-Cocktail“ zu sich zu nehmen, der angeblich den Streß des Stadtlebens verringern soll. Japanische Wissenschaftler haben zudem die Wirkung der Waldluft auf den Menschen erforscht und empfehlen zur Beruhigung gereizter Nerven einen Waldspaziergang. Der Duft des Terpentins (Harzes), das einige Bäume absondern, entspannt erwiesenermaßen nicht nur den Körper, sondern insbesondere auch den Geist.
Nicht alle Gerüche sind gut für die Gesundheit; im Gegenteil! Was den einen erfreut, macht den anderen unter Umständen krank. Seit langem weiß man, daß intensive Düfte, sogar Parfümdüfte, Asthma verschlimmern und bei einigen Personen allergische Reaktionen auslösen können. Dann gibt es Gerüche, die wohl jeder widerwärtig findet — giftige Rauchschwaden aus Fabrikschloten und Abgase aus Auspuffrohren, der widerliche Gestank von Müllhalden und Klärbecken sowie der Dampf flüchtiger Chemikalien, die in vielen Industriebetrieben verwendet werden.
Natürlich kommen gefährliche Chemikalien auch in natürlicher Form in unserer Umgebung vor, aber meistens in solch geringer Konzentration, daß sie harmlos sind. Ist man jedoch solchen Chemikalien in hoher Konzentration übermäßig ausgesetzt, können selbst die unverwüstlichen Geruchsnervenzellen verkümmern. Beispielsweise stufen Experten Lösungsmittel, wie sie in Farben und in vielen Industriechemikalien zu finden sind, als Gefahr für das Riechsystem ein. Der Geruchssinn kann auch durch Krankheiten beeinträchtigt oder zerstört werden.
Schätzt du das Geschenk?
Sicherlich ist es der Geruchssinn wert, vor derartigen Gefahren so gut wie möglich geschützt zu werden. Erkundige dich also über die Risiken, die mit irgendeiner Chemikalie, mit der du arbeiten mußt, verbunden sind, und triff zum Schutz deines Geruchsapparats in vernünftigem Rahmen die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen. (Vergleiche 2. Korinther 7:1.) Dann sollte man ebenfalls an die Sensibilität anderer denken. Ein hohes Reinlichkeitsniveau, was unser Heim und unseren Körper angeht, kann in dieser Hinsicht viel ausrichten. Manche sind bei der Verwendung von Parfüm lieber etwas vorsichtiger — vor allem wenn sie mit anderen eine Zeitlang auf engem Raum zusammen sind, zum Beispiel in einem Theater oder in einem Kongreßsaal. (Vergleiche Matthäus 7:12.)
Im allgemeinen ist der Geruchssinn allerdings ein pflegeleichtes Geschenk, das nicht viel Sorgfalt oder Achtsamkeit erfordert, uns aber dennoch tagtäglich zu den kleinen Freuden des Lebens verhilft. Wenn du ein Geschenk erhältst, über das du dich sehr freust, möchtest du dann nicht dem Geber dafür danken? Heute danken Millionen von Menschen dem Schöpfer aufrichtig für den von ihm so wunderbar gemachten menschlichen Körper. (Vergleiche Psalm 139:14.) Man kann sich nur wünschen, daß noch mehr Dank und Lobpreis zu unserem liebevollen, großzügigen Schöpfer aufsteigt und für ihn — wie im Fall der Opfer, die die Israeliten im Altertum darbrachten — ein ‘beruhigender Wohlgeruch’ sein wird (4. Mose 15:3; Hebräer 13:15).
[Kasten/Diagramm auf Seite 24, 25]
Wie der Geruchssinn arbeitet
Erstens: Der Geruch wird erfaßt
GERÜCHE gelangen beim Einatmen in die Nasengänge. Auch beim Hinunterschlucken von Nahrung werden Moleküle von der Mundhöhle in die Nasenhöhle gedrängt. Zuerst muß die dufttragende Luft jedoch die „Wachen“ passieren. Die Nase entlang verläuft der Trigeminusnerv (1), der ein Niesen auslöst, wenn er scharfe oder Reiz auslösende Chemikalien wahrnimmt. Dieser Nerv reagiert auch auf die angenehme Würze einiger Gerüche.
Als nächstes werden die Duftmoleküle von Luftwirbeln nach oben gedrückt, die durch turbulente Luftströmungen um drei knöcherne, gebogene Vorsprünge, die sogenannten Nasenmuscheln (2), entstehen. Die inzwischen befeuchtete und erwärmte Atemluft trägt die Moleküle in das Epithel (3), die hauptsächliche Riechfläche. Dieses daumennagelgroße Zellgewebe befindet sich in einem schmalen Gang hoch oben in der Nase und ist voll von ungefähr zehn Millionen Sinnesnervenzellen (4), deren Spitzen jeweils zahlreiche haarähnliche Fortsätze haben, Zilien genannt, die in eine dünne Schleimschicht eingebettet sind. Das Epithel ist so sensibel, daß es in einem einzigen Lufthauch ein 460 millionstel Milligramm bestimmter Gerüche aufspüren kann.
Wie Gerüche jedoch genau wahrgenommen werden, ist immer noch ein Geheimnis. Immerhin kann der Mensch ganze 10 000 verschiedene Gerüche unterscheiden. Um uns herum gibt es über 400 000 Duftstoffe, wobei Chemiker ständig neue Düfte kreieren. Wie kann unsere Nase in solch einem Wirrwarr von Düften noch etwas erkennen? Mit Hilfe von mehr als 20 verschiedenen Theorien hat man versucht, dieses Geheimnis zu lüften.
Erst vor kurzem konnten Wissenschaftler einen Teil des Rätsels lösen. 1991 entdeckte man Anzeichen dafür, daß es winzige Proteine gibt — Duftrezeptoren —, die mit der Zellmembran in den Zilien verbunden sind. Offensichtlich binden diese Rezeptoren auf verschiedene Weise unterschiedliche Duftmolekültypen, wodurch jeder Duft seine individuelle Note erhält.
Zweitens: Der Geruch wird weitergeleitet
Um die Information an das Gehirn weiterzuleiten, werden verschlüsselte elektrochemische Botschaften durch die Riechnervenzellen (4) gejagt. Der Wissenschaftsjournalist Dr. Lewis Thomas bezeichnete diese Nervenzellen als das „fünfte Wunder der modernen Welt“. Es sind die einzigen primären Nervenzellen, die sich alle paar Wochen nachbilden. Im Gegensatz zu den geschützten Sinnesnervenzellen im Auge und im Ohr haben sie keine Schutzwand zwischen sich und den sie umgebenden Reizen. Statt dessen treten die Riechnerven vom Gehirn aus direkt mit der Außenwelt in Verbindung. Die Nase ist somit ein Treffpunkt von Gehirn und Umwelt.
Die Nervenzellen führen alle an dasselbe Ziel: zu dem paarigen Riechkolben (5) an der Unterseite des Gehirns. Er bildet die Hauptrelaisstation zu anderen Teilen des Gehirns. Zuerst wird dort jedoch die Flut von Duftinformationen ausgewertet; lediglich das Wichtigste wird ausgewählt und dann weitergeleitet.
Drittens: Der Geruch wird wahrgenommen
Der Riechkolben ist eng mit dem limbischen System (6) des Gehirns verflochten, einem gekonnt verschlungenen Geflecht von Strukturen, das beim Speichern von Erinnerungen und beim Auslösen von Emotionen eine Schlüsselrolle spielt. Gemäß dem Buch The Human Body wird hier „die kalte Welt der Wirklichkeit in einen brodelnden Kessel menschlicher Gefühle umgewandelt“. Das limbische System ist mit dem Geruchssinn so sehr verwoben, daß man es lange als Rhinencephalon bezeichnet hat, das heißt „Riechhirn“. Die enge Verbindung von Nase und limbischem System erklärt vielleicht, weshalb wir auf Gerüche gefühlsmäßig reagieren und dabei nostalgisch werden. Aha, der gebratene Speck, die duftende Wäsche, das frisch gemähte Gras, der Atem eines Welpen!
Je nachdem, was für einen Geruch das limbische System registriert, aktiviert es den Hypothalamus (7), der seinerseits die Hauptdrüse des Gehirns, die Hypophyse (8), dazu anregen kann, verschiedene Hormone zu produzieren — beispielsweise Hormone, die den Appetit oder die Sexualität steuern. Kein Wunder also, daß der Duft einer Speise uns plötzlich hungrig macht oder daß ein Parfüm als ein wichtiger Faktor bei der sexuellen Anziehungskraft betrachtet werden kann.
Das limbische System beeinflußt auch den Neokortex (9), einen eher verstandesmäßigen, analytischen Nachbarn im Gehirn. Hier werden die Informationen von der Nase mit dem Input der anderen Sinnesorgane verglichen. Im Nu werden Signale wie zum Beispiel ein beißender Geruch, ein knisterndes Geräusch und ein Dunstschleier zu der Schlußfolgerung kombiniert: Es brennt!
Der Thalamus (10) ist ebenfalls von Bedeutung, da er möglicherweise als Mittler zwischen dem „gefühlsmäßigen“ limbischen System und dem recht gegensätzlichen „verstandesmäßigen“ Neokortex fungiert. Der olfaktorische Kortex (11) hilft, ähnliche Düfte zu unterscheiden. Verschiedene Gehirnteile können dem Schaltzentrum, dem Riechkolben, auch Botschaften zurücksenden. Wozu? Damit der Riechkolben die Geruchsempfindlichkeit verändern kann, indem er sie entweder herabsetzt oder gar unterdrückt.
Vielleicht hast du auch schon gemerkt, daß ein Gericht nicht mehr so appetitanregend duftet, wenn dein Hunger gestillt ist. Oder warst du schon einmal unausweichlich einem alles durchdringenden Geruch ausgesetzt, der sich mit der Zeit zu verlieren schien? Das lag dann an dem Riechkolben, der vom Gehirn informiert wurde. Dabei wurde er wahrscheinlich von den Rezeptorzellen in den Zilien unterstützt, die angeblich schnell ermüden. Das ist, vor allem bei einem widerlichen Gestank, recht hilfreich.
Ganz schön beeindruckend dieses System, nicht wahr? Und das, obwohl wir es nur am Rande gestreift haben! Dem ausgeklügelten und raffinierten Geruchssystem sind ganze Bücher gewidmet worden.
[Diagramm]
(Siehe gedruckte Ausgabe)
[Kasten auf Seite 26]
Geruchsstörung
Millionen von Menschen leiden an einer Geruchsstörung. Sie haben nichts oder nur wenig von einem Frühlingsduft oder einem schmackhaften Gericht. Eine Frau beschrieb den plötzlichen Verlust des gesamten Riechvermögens folgendermaßen: „Jeder kann sich unter Blindheit und Taubheit etwas vorstellen, und sicherlich würde ich meine Behinderung niemals dagegen eintauschen wollen. Aber das volle Aroma eines Kaffees oder der süße Duft von Orangen ist so selbstverständlich geworden, daß man bei dem Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns beinahe das Gefühl hat, man hätte vergessen, wie man atmet“ (Newsweek).
Geruchsstörungen können sogar lebensbedrohend sein. Eva erklärt: „Da ich nicht riechen kann, muß ich sehr vorsichtig sein. Mir schaudert bei dem Gedanken an den Winter, wenn ich wieder alle Türen und Fenster meiner Wohnung schließen muß. Das Gas, das ausströmen würde, falls die Zündflamme meines Gasherds verlöschen würde, könnte ich nämlich gar nicht bemerken.“
Wodurch wird eine Geruchsstörung hervorgerufen? Dafür gibt es Dutzende von Ursachen, aber drei treten am häufigsten auf: Kopfverletzungen, Virusinfektionen der oberen Atemwege und Erkrankungen der Nebenhöhlen. Wenn Nervenbahnen unterbrochen werden, das Epithel unempfindlich gemacht wird oder die Luft aufgrund von Verstopfungen oder Entzündungen das Epithel nicht erreichen kann, verliert sich der Geruchssinn. Da solche Störungen immer häufiger auftreten, sind Institute für die klinische Erforschung von Geschmacks- und Geruchssinn gegründet worden.
In einem Interview erzählte Dr. Maxwell Mozell von der Universität des New Yorker Zentrums für Gesundheit und Wissenschaft in Syracuse: „Wir hatten hier schon Patienten, die ... [einen üblen Geruch in der Nase haben, den nur sie wahrnehmen]. Sie riechen entsetzliche Gerüche. Eine Frau roch ständig Fisch. Man muß sich einmal vorstellen, wie es ist, Tag für Tag nur noch Fisch oder verbranntes Gummi zu riechen.“ Nachdem man einer Frau, die 11 Jahre lang mit einem unangenehmen Geruch in der Nase gelebt und demzufolge an Depressionen gelitten hatte, einen der Riechkolben operativ entfernt hatte, ging es ihr sofort besser.
[Bild auf Seite 23]
Atem eines Welpen
[Bild auf Seite 23]
Gebratener Speck
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Frisch gemähtes Gras