Das Kamel und das Nadelöhr
DAS Kamel dient dem Menschen schon seit langem als Last- und Reittier, vor allem in Wüstengebieten. Es gibt zwei Arten: das Trampeltier und das Dromedar. Das Trampeltier (Camelus ferus bactrianus) hat zwei Höcker, ist kräftiger als das Dromedar und kann schwerere Lasten tragen. Das Dromedar (Camelus dromedarius), das gewöhnlich gemeint sein soll, wenn in der Bibel vom Kamel die Rede ist, hat nur einen Höcker.
Der Höcker des Kamels dient als eine Art transportable Vorratskammer. Hier ist der Großteil der Nahrungsreserven des Kamels in Form von Fett gespeichert. Wenn es allzulange diesem Speicher Nahrung entnehmen muß, steht der Höcker nicht mehr aufrecht, sondern kippt über und hängt wie ein leerer Sack seitlich vom Rücken herab. Im Altertum wurden die Lasten auf die Höcker gepackt, wie das auch heute noch geschieht (Jesaja 30:6).
Nach dem Volksglauben speichert das Kamel Wasser in seinem Höcker. Doch dem ist nicht so. Man nimmt allgemein an, daß das Kamel so lange Zeit ohne Wasser auskommt, weil es einen großen Teil des Wassers, das es trinkt, zurückhalten kann. Dazu trägt die Beschaffenheit der Nase bei, die es dem Tier ermöglicht, die Wasserdampfkonzentration der ausgeatmeten Luft zu verringern. Das Kamel kann einen Wasserverlust von 25 Prozent seines Gewichts aushalten, ein Mensch dagegen nur 12 Prozent. Es verliert durch Schwitzen nicht so rasch Flüssigkeit wie andere Geschöpfe, weil seine Körpertemperatur ohne merkliche Folgen um 6 Grad Celsius variieren kann. Sein Blut ist insofern einzigartig, als der Flüssigkeitsverlust selbst dann noch minimal ist, wenn das Wasser über mehrere Tage hinweg knapp ist. Es kann auch das verlorene Körpergewicht wieder ersetzen, indem es 135 Liter Wasser in zehn Minuten säuft.
Bildhafter Gebrauch
Gemäß dem mosaischen Gesetz war das Kamel ein unreines Tier und wurde deshalb von den Israeliten nicht gegessen (3. Mose 11:4; 5. Mose 14:7). Als Jesus die heuchlerischen Pharisäer verurteilte, sprach er davon, daß sie ‘die Mücke aussiebten, das Kamel aber hinunterschluckten’. Diese Männer siebten nicht etwa deshalb die Mücke aus ihrem Wein aus, weil sie ein Insekt war, sondern weil sie rituell unrein war; aber zugleich verschluckten sie, bildlich gesprochen, Kamele, die ebenfalls unrein waren. Sie verlangten zwar, daß man das mosaische Gesetz in den kleinsten Einzelheiten einhalte, doch die gewichtigeren Dinge übersahen sie gänzlich — Recht, Barmherzigkeit und Treue (Matthäus 23:23, 24).
Des weiteren sagte Jesus Christus in einer Veranschaulichung, die vom Eingehen ins Königreich handelte: „Es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Königreich Gottes einzugehen“ (Matthäus 19:24; Markus 10:25). Einige sind der Ansicht gewesen, daß das Nadelöhr ein kleines Tor war, durch das ein Kamel, dem die Last abgenommen worden war, nur schwer hindurchkam. Aber das griechische Wort (rhaphís) für „Nadel“, das in Matthäus 19:24 und in Markus 10:25 vorkommt, wird von einem Verb abgeleitet, das „nähen“ bedeutet. Auch das griechische Wort (belónē), das in der Parallelstelle, in Lukas 18:25, erscheint, bezieht sich gewöhnlich auf eine buchstäbliche Operationsnadel. Hinsichtlich dieser griechischen Begriffe heißt es in Vine’s Expository Dictionary of Old and New Testament Words: „Das ‚Nadelöhr‘ auf kleine Tore anzuwenden scheint ein neuzeitlicher Gedanke zu sein; in alter Zeit findet sich davon keine Spur. Der Herr wollte mit seiner Erklärung das menschlich Unmögliche an der Sache zum Ausdruck bringen, und man braucht nicht zu versuchen, die Schwierigkeit abzuschwächen, indem man das Wort Nadel so auffaßt, als bedeute es mehr als das gewöhnliche Werkzeug.“
Mit Hilfe dieser Veranschaulichung, die nicht buchstäblich verstanden werden darf, wollte Jesus folgendes deutlich machen: Wenn es schon für ein buchstäbliches Kamel unmöglich ist, durch ein buchstäbliches Nadelöhr zu gehen, dann besteht für einen Reichen, der sich an seinen Reichtum klammert, noch weniger die Möglichkeit, in das Königreich Gottes einzugehen (1. Timotheus 6:17-19; Lukas 13:24).