Welches Land ist frei von Kriminalität?
Es war die größte Beerdigung in Moskau seit Jahren. Tausende von Menschen säumten die Straßen, um dem jungen Russen, dessen Leben am 1. März 1995 durch die Kugeln von Mördern abrupt ein Ende gesetzt worden war, die letzte Ehre zu erweisen. Der 1994 zum Journalisten des Jahres gewählte, hochangesehene Fernsehmoderator Wladislaw Listjew wurde praktisch vor seiner Haustür erschossen.
NICHT einmal drei Wochen später, am 20. März, wurde während des normalen morgendlichen Berufsverkehrs plötzlich ein Giftgasanschlag auf die Tokioer U-Bahn verübt. Mehrere starben; viele andere wurden schwer verletzt.
Am 19. April lenkte Oklahoma City die Blicke der Fernsehzuschauer aus aller Welt auf sich. Mit Entsetzen beobachteten sie, wie Rettungsmannschaften versuchten, aus den Trümmern eines Regierungsgebäudes, das durch einen Bombenanschlag von Terroristen zerstört worden war, verstümmelte Leichen zu bergen. Der Anschlag hatte 168 Menschen das Leben gekostet.
Ende Juni dieses Jahres kamen bei einem ähnlichen Attentat nahe Dahran (Saudi-Arabien) 19 Amerikaner um, und es gab rund 400 Verletzte.
Diese vier Vorfälle verdeutlichen, daß die Kriminalität neue Dimensionen annimmt. Zu den „normalen“ Verbrechen gesellen sich immer mehr brutale Terrorakte. Und alle vier Vorfälle zeigen auf ihre Weise, wie schutzlos der einzelne solchen kriminellen Übergriffen ausgeliefert ist. Jeder kann das Opfer eines Verbrechens werden, ob in seinem eigenen Heim, am Arbeitsplatz oder auf der Straße. Wie aus einer Umfrage in Großbritannien hervorging, sind nahezu drei Viertel aller Briten der Ansicht, das Risiko, Opfer eines Verbrechens zu werden, sei heute höher als vor zehn Jahren. Vielleicht ist die Situation in unserem Land ähnlich.
Gesetzestreue Bürger sehnen sich nicht lediglich nach einer Regierung, die Verbrechen unter Kontrolle bringt. Sie möchten eine Regierung, die die Kriminalität vollständig abschafft. Vergleichende Statistiken lassen zwar erkennen, daß manche Regierungen bei der Verbrechensverhütung erfolgreicher sind als andere, aber insgesamt zeigt es sich, daß die Regierungen den Kampf gegen das Verbrechen verlieren. Dennoch ist es nicht weltfremd oder utopisch, zu glauben, daß eine Regierung die Kriminalität bald abschaffen wird. Welche Regierung ist das? Und wann wird sie aktiv werden?
[Kasten/Karte auf Seite 4, 5]
EINE VON KRIMINALITÄT GEPRÄGTE WELT
EUROPA: In dem Buch L’occasione e l’uomo ladro konnte man lesen, daß die Zahl der Eigentumsdelikte in Italien in einem kurzen Zeitraum „eine Höhe erreicht hat, die man früher für unmöglich gehalten“ hätte. In der Ukraine, einer ehemaligen Sowjetrepublik, kamen im Jahr 1985 auf 100 000 Einwohner 490 Straftaten, im Jahr 1992 waren es 922 Straftaten. Und die Zahl steigt weiter an. Kein Wunder, daß die russische Zeitung Argumenty i fakty schrieb: „Wir wünschen uns sehnlichst, unser Leben in dieser angstvollen Zeit zu meistern, zu überleben, am Leben zu bleiben. ... Da ist die Angst davor, mit dem Zug zu fahren, denn er könnte entgleisen oder mutwillig zerstört werden; die Angst davor, zu fliegen, denn Entführungen sind nicht selten, oder das Flugzeug könnte abstürzen; die Angst davor, mit der U-Bahn zu fahren, denn es könnte zu einer Kollision oder einer Explosion kommen; die Angst davor, die Straßen entlangzugehen, denn man könnte in eine Schußlinie geraten oder überfallen, vergewaltigt, zusammengeschlagen oder getötet werden; die Angst davor, mit dem Auto zu fahren, denn es könnte in Brand gesteckt, in die Luft gejagt oder gestohlen werden; die Angst davor, die Flure eines Wohngebäudes, ein Restaurant oder einen Laden zu betreten, denn man könnte verletzt oder umgebracht werden.“ Die ungarische Zeitschrift HVG bezeichnete eine sonnige Stadt in Ungarn als eine Art „Zentrale der Mafia“ und schrieb, in den letzten drei Jahren sei sie der „Ausgangspunkt für jede neue Art von Verbrechen [gewesen] ... Da die Öffentlichkeit sieht, daß die Polizei auf den Kampf gegen die Mafias nicht vorbereitet ist, schraubt sich die Spirale der Angst immer höher.“
AFRIKA: Wie es in der nigerianischen Zeitung Daily Times hieß, werden die „höheren Schulen“ eines westafrikanischen Landes „von einer Welle des Terrors heimgesucht; diese wird von Mitgliedern der Geheimbünde ausgelöst und bringt nahezu jede sinnvolle schulische Tätigkeit zum Erliegen“. Weiter konnte man lesen: „Diese Welle schwappt in immer mehr Länder hinüber, und dabei gehen Menschenleben und Sachwerte verloren.“ Über ein anderes afrikanisches Land schrieb die in Südafrika erscheinende Zeitung The Star: „Es gibt zwei Formen von Gewalt: interkommunale Auseinandersetzungen und herkömmliche kriminelle Gewaltakte. Erstere gehen erheblich zurück, letztere steigen sprunghaft an.“
AMERIKA: Die kanadische Zeitung The Globe and Mail meldete für Kanada eine konstante Zunahme an Gewaltverbrechen während der letzten 12 Jahre; dies sei Teil einer „Entwicklung, die im letzten Jahrzehnt einen Anstieg der Gewaltakte um 50 Prozent mit sich brachte“. Unterdessen berichtete die kolumbianische Zeitung El Tiempo, in einem der letzten Jahre seien in Kolumbien 1 714 Menschen entführt worden, „eine Zahl, die doppelt so hoch ist wie die Zahl aller Entführungen außerhalb Kolumbiens im gleichen Zeitraum“. Nach Angaben des Justizministeriums von Mexiko wurde in einem der vergangenen Jahre in der Hauptstadt Mexikos alle vier Stunden ein Sexualverbrechen begangen. Eine Sprecherin betonte, im 20. Jahrhundert herrsche die Einstellung vor, der einzelne sei nichts wert. „Wir leben in einer Generation, die nach dem Motto lebt: ‚Nach Gebrauch wegwerfen‘“, sagte sie zusammenfassend.
AUSTRALIEN: Laut Schätzungen des Instituts für Kriminologie in Australien belaufen sich die Kosten für Verbrechen im Land auf „mindestens 27 Milliarden Dollar jährlich oder fast 1 600 Dollar pro Kopf“. Das macht „ungefähr 7,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ aus.
WELTWEIT: In der Veröffentlichung The United Nations and Crime Prevention wird von „einer steten Zunahme krimineller Handlungen auf globaler Ebene in den 70er und 80er Jahren“ gesprochen. Es heißt: „Die Zahl der angezeigten Straftaten stieg von ungefähr 330 Millionen im Jahr 1975 auf annähernd 400 Millionen im Jahr 1980 und hat 1990 schätzungsweise eine halbe Milliarde erreicht.“
[Bildnachweis]
Karte und Erdkugel: Mountain High Maps® Copyright © 1995 Digital Wisdom, Inc.
[Bildnachweis auf Seite 3]
Erde auf Seite 3, 6 und 9: NASA photo