Die schlimmste Seuche aller Zeiten
IM Oktober 1918 war der Erste Weltkrieg noch im Gange. Das Ende der Kampfhandlungen war zwar abzusehen, aber die Nachrichten wurden immer noch zensiert. Deshalb war es dem neutralen Spanien überlassen, zu melden, dass in vielen Gegenden erschreckend viele Zivilisten krank wurden und starben. Diesem Umstand hat die Krankheit ihren Namen zu verdanken, der für immer an ihr haften bleiben sollte: Spanische Grippe.
Die Pandemie begann im März 1918.a Viele Forscher gehen davon aus, dass sie ihren Ursprung in dem US-Bundesstaat Kansas hatte. Sie wurde offenbar von frisch eingetroffenen amerikanischen Soldaten nach Frankreich eingeschleppt. Die Zahl der Grippetoten schnellte hoch, doch im Juli 1918 schien das Schlimmste überstanden zu sein. Die Ärzte ahnten damals nicht, dass die Pandemie lediglich neue Kräfte sammelte, um zu einem noch viel tödlicheren Schlag auszuholen.
Als der Erste Weltkrieg am 11. November 1918 zu Ende ging, brach man überall in Jubel aus. Was für eine Ironie, dass die Seuche fast zur selben Zeit die Welt überrollte! Sie hatte sich zu einem Monster entwickelt, das international für Schlagzeilen sorgte. Nur wenige, die damals lebten, blieben völlig verschont, und alle hatten Angst. Ein namhafter Influenzaexperte sagte: „Die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten sank 1918 um 10 Jahre.“ Worin unterschied sich diese Seuche von anderen?
Eine nie da gewesene Seuche
Ein äußerst beängstigender Unterschied war die Plötzlichkeit, mit der diese Grippe zuschlug. Wie plötzlich? John M. Barry zitiert in seinem neuen Buch The Great Influenza einen schriftlichen Bericht aus der Zeit: „In Rio de Janeiro wartete der Medizinstudent Ciro Viera Da Cunha auf die Straßenbahn, als er von einem Mann mit vollkommen normaler Stimme um eine Auskunft gebeten wurde. Der Mann fiel um und war tot. Im südafrikanischen Kapstadt bestieg Charles Lewis eine Straßenbahn, um sich auf seinen fünf Kilometer langen Heimweg zu begeben. Der Schaffner brach zusammen und war tot. Auf diesen fünf Kilometern starben in der Straßenbahn sechs Personen, den Fahrer mitgerechnet.“ Alle waren Grippeopfer.
Hinzu kam die Angst — die Angst vor dem Unbekannten. Die Wissenschaft hatte keine Erklärung, wodurch die Krankheit hervorgerufen wurde und wie sie sich genau ausbreitete. Man traf Vorkehrungen zum Schutz der Gesundheit: Häfen wurden unter Quarantäne gestellt und Kinos, Kirchen und andere Versammlungsorte wurden geschlossen. In San Francisco (Kalifornien, USA) wies man die gesamte Bevölkerung an, Masken aus Gaze zu tragen. Wer sich in der Öffentlichkeit ohne Maske blicken ließ, riskierte eine Geldbuße oder Gefängnis. Doch nichts schien zu helfen. Die Maßnahmen waren zu dürftig und kamen zu spät.
Angst hatte man auch, weil die Grippe wahllos wütete. Aus immer noch ungeklärten Gründen traf die Pandemie von 1919 nicht in erster Linie ältere Menschen, sondern riss robuste junge Leute aus dem Leben. Die Todesopfer der Spanischen Grippe waren mehrheitlich zwischen 20 und 40 Jahre alt.
Außerdem handelte es sich wahrhaftig um eine weltweite Epidemie. Sie erreichte sogar tropische Inseln. Nach Westsamoa (heute Samoa) gelangte die Influenza am 7. November 1918 per Schiff, und innerhalb von zwei Monaten starben 20 Prozent der 38 302 Einwohner. Jedes größere Land der Erde wurde stark in Mitleidenschaft gezogen.
Dann war da noch das ungeheure Ausmaß. In Philadelphia (Pennsylvanien, USA) zum Beispiel grassierte die Krankheit schon zu einem frühen Zeitpunkt und besonders heftig. Mitte Oktober 1918 waren kaum noch Särge zu bekommen. „Ein Hersteller meinte, er könnte innerhalb von zwei Stunden 5 000 Särge loswerden, wenn er sie hätte. Im Leichenschauhaus der Stadt gab es zeitweise zehnmal so viele Leichen wie Särge“, schreibt der Historiker Alfred W. Crosby.
In relativ kurzer Zeit raffte die Grippe mehr Menschen dahin als jede andere Pandemie dieser Art in der Geschichte. Allgemein wurde die weltweite Zahl der Todesopfer auf 21 Millionen geschätzt, doch verschiedene Experten halten diese Angabe mittlerweile für zu niedrig. Manche Epidemiologen gehen inzwischen eher von 50 Millionen oder vielleicht sogar von 100 Millionen Toten aus! Der bereits erwähnte Autor Barry meint dazu: „An der Influenza starben in nur einem Jahr mehr Menschen als am schwarzen Tod des Mittelalters in einem ganzen Jahrhundert. Es starben in nur 24 Wochen mehr Menschen daran als in 24 Jahren an Aids.“
Unvorstellbarerweise forderte die Spanische Grippe in Amerika in nur einem Jahr mehr Todesopfer, als in den beiden Weltkriegen amerikanische Soldaten fielen. Die Autorin Gina Kolata erklärt: „Diese Seuche war so verheerend, dass ein ähnliches Virus heutzutage in nur einem Jahr mehr Menschenleben fordern würde als Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Schlaganfälle, chronische Lungenleiden, Aids und Alzheimer zusammen.“
Kurz gesagt war die Spanische Grippe die verheerendste Pandemie aller Zeiten. Welche Hilfe hatte die Wissenschaft zu bieten?
Die Wissenschaft stand machtlos da
Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatte die Medizin, wie es aussah, große Fortschritte in der Krankheitsbekämpfung gemacht. Selbst während des Kriegs rühmten sich die Ärzte ihrer Erfolge in der Eindämmung ansteckender Krankheiten. Damals hieß es in der Zeitschrift The Ladies’ Home Journal, amerikanische Häuser brauchten bald keinen Raum mehr, um Tote aufzubahren, sondern dieser Raum solle von nun an living room heißen, da er für die Lebenden da sei. Doch dann kam die Spanische Grippe und die Medizin war so gut wie machtlos.
Crosby schreibt: „Alle Ärzte von 1918 waren an dem größten medizinischen Misserfolg des zwanzigsten Jahrhunderts beteiligt — beziehungsweise aller Zeiten, wenn man die absolute Zahl der Toten zum Maßstab nimmt.“ Um der Medizin nicht die Alleinschuld zu geben, erklärt Barry: „Die Wissenschaftler waren sich damals völlig über das Ausmaß der Bedrohung im Klaren, sie konnten sekundäre bakterielle Lungenentzündungen behandeln und rieten zu gesundheitlichen Maßnahmen, die Zehntausenden von Amerikanern das Leben hätten retten können. Doch die Politiker ließen ihren Rat außer Acht.“
Was weiß man heute, rund 85 Jahre später, über diese schreckliche Pandemie? Wodurch wurde sie verursacht? Könnte sie zurückkehren? Wenn ja, ließe sie sich bekämpfen? Einige der Antworten werden für viele überraschend sein.
[Fußnote]
a Eine Epidemie ist der Ausbruch einer Krankheit in einem örtlich begrenzten Gebiet — in einer Gemeinde, einer Stadt oder einem ganzen Land. Eine Pandemie ist eine globale Epidemie.
[Herausgestellter Text auf Seite 6]
Die Todesopfer der Spanischen Grippe waren mehrheitlich zwischen 20 und 40 Jahre alt
[Bild auf Seite 4]
Eine Schulklasse von 1919 in Canon City (Colorado, USA)
[Bildnachweis]
Mit frdl. Gen.: Colorado Historical Society, 10026787
[Bild auf Seite 4, 5]
Ein Polizist
[Bildnachweis]
Foto: Topical Press Agency/Getty Images
[Bild auf Seite 5]
Baseballspieler mit Schutzmasken
[Bildnachweis]
© Underwood & Underwood/CORBIS