Die breite Straße der religiösen Spaltung
WARUM gibt es so viele Religionen? Allein in den Vereinigten Staaten bestehen dreiundzwanzig Arten von Baptisten, einundzwanzig Richtungen der Methodisten, zwanzig Spaltungen unter den Lutheranern, dreizehn Mennoniten-Gruppen, zehn Arten Presbyterianer und eine ganze Handvoll Kirchen Gottes. Neununddreißig Religionen geben einen derartigen Mangel an Einheit zu, daß sie bereits erklären, über Lehrpunkte könne der einzelne selbst entscheiden. Wahrscheinlich nehmen sie an, daß er mehr darüber weiß als der Gelehrte, oder daß seine widersprechende Idee vom Geist inspiriert ist. Eine Autorität drückte dies wie folgt aus: „Wenn jemand von Denominationen oder Sekten spricht, von diesen und jenen Organisationen und jetzigen und vergangenen Bewegungen, wie kann man da von Christentum in den Vereinigten Staaten sprechen? Ist das nicht ein religiöses Chaos . . . ein Drunter und Drüber?“
Warum nun solche Spaltungen? Die Bibel ist doch nur ein einziges Buch. Die Durchschnittsausgaben von ihr haben 1000 bis 1300 Seiten und das ist nicht überaus viel. Der Große Brockhaus umfaßt dagegen zwölf Bände mit zusammen über 9000 Seiten. Lange Regale füllen sich mit Klassikern wie Schiller, Lessing, Goethe, Heine, Shakespeare und anderen. Auf lediglich 1000 Seiten der Bibel aber bauen 230 von 250 Religionen Amerikas ihre Grundlage auf, oder eine Denomination auf je fünf Seiten dieses Buches. Da sich die Bibel nicht auf jeder fünften Seite in ihrer Lehre widerspricht, so kann man mit Recht fragen: Warum gibt es dann so viele verschiedene Religionen, die behaupten, sie sei ihr Führer? Sind ihre Gelehrten so unwissend, daß sie nicht 1000 Seiten lesen können, um übereinzustimmen? Gibt es andere Gründe?
Mancher Grund für solche Spaltung ist recht kleinlich gewesen. Andere waren geradezu lächerlich; wenige aber nur wirklich christliche Ursachen. Eine Hauptursache ist die Neigung des Menschen gewesen, sich seine Religion selbst zu bilden, statt sich Gott anzupassen. Diese „Verbesserungsversuche“ wurden schon lange vorausgesagt: „Männer werden aufstehen und verkehrte Dinge sprechen, um die Jünger hinter sich herzuziehen. Gerade diese werden unbemerkt verderbliche Sekten einführen, und werden sogar den Gebieter verleugnen, der sie erkaufte [Christus].“ (Apg. 20:29, 30; 2. Pet. 2:1, NW) Als Beweis, daß dies geschehen ist, sagt The Kingdom of God in America [Das Königreich Gottes in Amerika], die heutige Religion „vertrete nicht so sehr die Wirkung des Evangeliums auf die Neue Welt [gemeint ist Amerika, die Red.] als den Gebrauch und den Nutzen des Evangeliums durch die neue Gesellschaft für ihre eigenen Zwecke.“ Die Einheit der Lehre ist verlorengegangen. Der Verlust dieser Einheit stellt somit einen Verlust wahren Christentums dar.
Die religiösen Grenzen sind auf der politischen und wirtschaftlichen Landkarte eingezeichnet worden. William Warren Sweet erklärt in The Story of Religions in America, daß die wichtigste und weitreichendste Spaltung in den amerikanischen Kirchen durch die Negersklaverei kam. Es heißt: „Die Kirchen hörten nicht eher auf, das Gesetz zu denunzieren, als bis sie selbst reiche Baumwollpflanzer wurden. Bei der Annahme der Verfassung waren alle Kirchen einstimmig gegen die Sklaverei. Bei der Eröffnung des Bürgerkrieges waren die Kirchen ein Bollwerk der amerikanischen Sklaverei geworden.“ Wenn somit die Religion nicht die Menschen formen kann, sondern sie durch die Menschen geformt wird, und nicht die Welt beeinflußt, sondern durch sie beeinflußt wird, dann ist es kein Wunder, daß sie sich in so viele verschiedene und entgegengesetzte Richtungen ausgedehnt hat.
GESCHICHTE DER SPALTUNGEN
Die ersten Siedler brachten eine große Zahl Religionen mit sich. Sie waren anglikanisch, puritanisch, gehörten den Pilgrimen, den schottischen Presbyterianern, Calvinisten, Lutheranern, Quäkern, Baptisten, Methodisten und anderen Gruppen an. Aber der Pionier war ein rauher Einzelgänger, der unabhängig und entschlossen seinen eigenen Weg ging, was Religion und Politik betraf. Er nahm diesen bereits verwirrten Religionsstamm und spaltete ihn in unzählige weitere Gruppen. „Denominationen, wie die Dunker und Mennoniten, die europäischen Ursprungs sind, wurden nach Amerika bereits geteilt verpflanzt und noch mehr gespalten, als sie noch mehr westwärts zogen in die unbesiedelten Gebiete“, sagte Sweet, der von dieser Religion der neubesiedelten Gebiete sagte, sie sei „abgewichen, obgleich sie fast ohne Erkenntnis ist, wie das oft der Fall war“. Die Grundlagen für die neuen Religionen waren darum nicht auf der gesunden Lehre aufgebaut, sondern oft auf dieser abgewichenen Anschauung. Während sie weiter und weiter von der wahren Anbetung abkamen, stieg die Zahl der Sekten mehr und mehr an.
Weitere Spaltungen der Religionen Amerikas stellten sich bei dem „Großen Erwachen“ zwischen 1734 und 1790 ein. Das war eine Welle der Glaubenserweckung, die sich von Neu-England nach New Jersey und nach dem Süden ausdehnte. Die neuen Prediger oder „Neuen Lichter“ wurden aber von den konservativeren Elementen oder „Alten Lichtern“ mißgünstig betrachtet und manchmal sogar vertrieben. Jedoch blieben sie nachdrücklich evangelistisch, errichteten ihre eigenen Versammlungen, von denen einige zu neuen Religionen heranwuchsen. Die Unitarier trennten sich so von den Kongregationalisten. Die Presbyterianer teilten sich, in Organisationen der „Neuen Linie“ und der „Alten Linie“. Viele „alleinstehende“ Versammlungen wurden von den Baptisten gegründet. Shubal Stearns, der Gründer einer dieser Gruppen, zog nach Nordkarolina, wo aus seiner Evangeliumstätigkeit eine separate Baptistengruppe entstand, die damals eine verhältnismäßig kleine Gruppe war. Ihr sofortiges Wachstum wurde als „fast unvergleichlich in der Baptistengeschichte“ bezeichnet.
Wie erwähnt, war die Sklaverei die dritte große Ursache für Spaltungen. Sie teilte die Methodisten im Jahre 1844. Die große Baptistenspaltung fand im Jahre 1845 statt. Das presbyterianische Haus teilte sich zwischen Nord und Süd, entlang der Mason-Dixon-Linie. Völlig getrennte religiöse Organisationen wurden errichtet, um der Politik zu entsprechen. Wenn die Politik die Kirche teilen kann, dann ist sie bestimmt schon weit von dem Zustand, von der Politik getrennt zu sein, entfernt, was von Jesus und allen Aposteln gelehrt wurde! Die baptistischen und presbyterianischen Teilungen bestehen bis zu diesem Tag; der methodistische Bruch wurde aber erst im Jahre 1939 geheilt. Frank S. Mead sagt in seinem Handbuch für Denominationen, daß diese Teilung „weder die Lehre noch die Verfassung verursacht hatte; sie war vielmehr rein politisch und sozial“. Die wirkliche Anstrengung besteht nicht darin, das Wort Gottes zu befolgen, sondern die politischen Ansichten der Mitglieder zu unterstützen, ‚um das Evangelium für ihre eigenen Zwecke anzupassen‘.
Die Episkopalisten dagegen teilten sich nicht. Sie zogen einfach aus und schossen aufeinander. Bischof Polk war ein General aus dem Süden. Nach Meads Werk See These Banners Go „beteten Bischof McIlvaine von Ohio und der kämpfende Bischof Polk von Louisiana gegenseitig für sich jeden Sabbath von den Kanzeln, indem sie sich namentlich erwähnten.“ Sie trennten sich lediglich „für den Augenblick, wie wenn zwei Reisende um eine Wasserpfütze auf der Straße herumgehen und wieder zusammen weitergehen, wenn das Hindernis vorüber ist“.
DIE STRASSE VERBREITERT SICH
Dieser Gebietsstreit teilte nicht nur diese gleichen Religionen in weiß und farbig, was neue Denominationen für die Neger mit sich brachte, sondern auch nationale Teilungen zersplitterten die Gruppen. Obgleich die urchristliche Versammlung keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien machte, und obgleich Jakobus sagte, daß Klassenunterschiede eine Sünde seien, sind doch die östlichen orthodoxen Kirchen innerhalb der Vereinigten Staaten in albanische, bulgarische, griechische, rumänische, russische, serbische, syrische und ukrainische Gruppen geteilt. Die Lutheraner haben sich in dänische, finnische, norwegische und andere Gruppen aufgeteilt. „Die Kirchen Amerikas“, sagt H. Richard Niebuhr, „sind wie die Kirchen in Europa oft viel mehr dem Einfluß einer provinziellen oder klassenmäßigen Umwelt unterworfen gewesen als dem Glauben des allgemeinen Evangeliums“. — 1. Kor. 12:13; Jak. 2:1-9.
Der vierte und fünfte hauptsächlichste Grund der Teilung waren die phänomenalen Bewegungen gegen die Mission, die die neubesiedelten Gebiete im neunzehnten Jahrhundert bewegten und auch die Instrumentalmusik. Die Bewegung gegen die Mission entstand aus den Einwänden, Geld nach dem Osten zurückzusenden, um die Missionare zu bezahlen, und durch die Eifersucht der Prediger der neubesiedelten Gebiete über die beredsamen, besser ausgebildeten Neuankömmlinge. Die Bewegung erfaßte das ganze neubesiedelte Gebiet, besonders Kentucky und Tennessee, und traf die Baptisten so empfindlich, daß es noch heute drei Gruppen gibt, die die „Dickfelligen“ oder „Gegenmission“-Baptisten genannt werden.
Dieser Grund, zusammen mit einer Debatte über jenes besondere laute Instrument, die Orgel, spaltete die Jünger Christi so sehr, daß ein Viertel ihrer Mitglieder sich selbständig machte und die „Kirchen Christi“ bildete. Das Anti-Orgel-Argument besagt: „Keine Sache ist zur öffentlichen Anbetung gesetzmäßig, wenn sie nicht ausdrücklich im Neuen Testament verordnet ist. Instrumentale Musik ist nicht in dieser Weise verordnet. Darum ist sie auch nicht gesetzmäßig.“ Bis zu welchem Ausmaß es damit getrieben wurde, geht aus Lard’s Quarterly (1864) hervor, wo es heißt: „Mögen alle Prediger sich entschließen, niemals ein Versammlungshaus unserer Brüder zu betreten, in welchem eine Orgel steht. Möge niemand, der einen Brief von einer Kirche erhält, jemals sich mit einer verbinden, die eine Orgel benutzt. Laßt ihn vielmehr außerhalb der Kirche leben, statt in eine solche Höhle zu gehen. Mögen alle, die gegen die Orgel sind, sich von der Kirche zurückziehen, wenn eine hereingebracht würde.“ (Kursivschrift vom Verfasser) Heute glauben eine Million Menschen, Gott interessiere es sehr, ob musikalische Begleitung den Sängern hilft, den Ton zu halten. Sie haben natürlich keine Einwände gegen andere Neuerungen, die nicht in der Schrift erwähnt sind, wie das Radio, Liederbücher, bunte Fenster usw. Aber sie rechtfertigen sich, indem sie sagen, dies seien nach ihrer Meinung keine Elemente der Anbetung, jedoch eine gespielte Note sei ein solches Element. Instrumentale Musik scheint jedoch in dem sogenannten „Neuen Testament“ anerkannt zu sein. — Off. 5:8; 15:2.
Der Wunsch besonderer Männer, ihre Gruppe zu leiten, war ein anderer Grund für religiöse Spaltungen. Solche Teilungen wurden durch die Mormonen vollzogen. Als ihr Gründer, Joseph Smith, starb, folgte die größte Gruppe, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, Brigham Young nach Utah, wo sie Salt Lake City [die Salzseestadt] erbauten. Eine zweite Gruppe, die Reorganisierte Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, wurde durch die Söhne von Joseph Smith geleitet. Eine dritte formte die Kirche Christi (Das Los des Tempels); eine vierte die Kirche Jesu Christi (Bickertoniten), die Sidney Rigdon folgten; eine fünfte, die Kirche Jesu Christi (Cutleriten), die Alpheus Cutler, einem der ursprünglichen Ältesten des Mormonismus, folgten, und die sechste Gruppe, die Kirche Jesu Christi (Strangiten), die James J. Strang folgten, der behauptet, er besitze schriftliche Empfehlungsschreiben von Joseph Smith.
NOCH WEITERE SPALTUNGEN
Andere folgten seitdem ihren eigenen Einfällen und Ideen und verwirrten dadurch das Bild noch mehr. Die Theorie über „zweierlei Samen“ wird von den „Zwei-Samen-in-einem-Geiste“-Vorherbestimmungsbaptisten (eine der Gegenmissionsgruppen) vertreten und besagt, daß Gott in Eden dem Menschen den guten Samen eingab und Satan der Teufel den Menschen den schlechten Samen. Sie glauben, daß bereits die Säuglinge mit dem einen oder anderen Samen geboren werden. Missionstätigkeit ist darum zwecklos, denn ein Mensch mit einem schlechten Samen ist sowieso hilflos und jemand mit einem guten Samen wird auf alle Fälle zur Kirche kommen. Beim letzten Bericht (vor acht Jahren) war ihre Mitgliedszahl auf 200 Personen gefallen. Ihre Lehre ist auf eine Falschauslegung des Textes in 1. Mose 3:15 über den Samen des Weibes zurückzuführen.
Ein anderer Schreiber gab den Kommentar: „In irgendeiner großen Stadt kann man die unmöglichsten Sekten finden, die häufig nur aus ein oder zwei Kirchen bestehen. Ein unzufriedener Prediger kann eine Gruppe leicht wegführen und seine eigene neue Denomination bilden. . . . Die meisten kleinen Gruppen haben in ihrer Chronik bestimmt einen Kirchenstreit aufzuweisen. Wenige nur haben wirklich sehr unterschiedliche Lehren oder Bräuche.“ Es wird geschätzt, daß es mehr als 3000 solcher unabhängigen Gruppen gibt.
Vor einiger Zeit, im Jahre 1890, sagte ein kleines Buch, Kurze Geschichte der Kirche in den Vereinigten Staaten, „Die Vermehrung der kirchlichen Organisationen ist stets ein Merkmal des amerikanischen religiösen Lebens gewesen.“ Viele nennen sie gern die „vielen Wohnungen“ im Hause des Vaters und verdrehen damit den Text in Johannes 14:2, der sich auf himmlische Segnungen bezieht. Trotz des schändlich verschwommenen Mischmasches von Ansichten, das dazu geführt hat, daß die Lehren immer mehr auseinander laufen und die Lehrsätze vielseitiger werden, schwebt den meisten der Gedanke vor, daß all die verschiedenen Straßen zum gleichen Ziel führen. Aber das ist nicht der Fall. Während sie ihren eigenen Lehren nachgehen, können sie sich nicht mit Christus versammeln. Er war es, der die religiösen Führer seiner Tage, die der Tradition folgten und nicht für die rechte Lehre eintraten, aber göttliche Vollmacht für ihre Taten beanspruchten, Heuchler, blinde Leiter, Narren, Schlangen, Otternbrut nannte, die zur Vernichtung bestimmt sind. (Matth. 12:30; 23:1-39) Jene, die Leben und Wahrheit suchen, müssen diese breite Straße verlassen, ihre Bibeln abstauben und aus ihren tausend Seiten den Unterschied zwischen all diesem Mischmasch der sich widersprechenden Lehren und dem wahren inspirierten Worte Jehovas kennenlernen. Aber zur Besprechung dieses Punktes und seiner Wichtigkeit müssen wir auf den folgenden Artikel verweisen: „Der enge Weg führt zum Leben“.