Neuzeitliche Geschichte der Zeugen Jehovas
25. Teil: Ausdehnung in Europa und Afrika (1945-1955)
EUROPA mit seiner Bevölkerung von nahezu 400 Millionen ist die Heimat der westlichen Zivilisation. Politisch scheint Europa das Zentrum des Ringens um die Weltmacht zu sein und ist es gewesen, seitdem die Griechen unter Alexander vor nahezu 2300 Jahren die europäische Vorherrschaft über die asiatischen und afrikanischen Mächte errangen. Kulturell ist Europa der Sitz der Gelehrtheit der heidnisch beeinflußten alten Welt, ferner der Musik, der Kunst und Dramatik, des Sportwesens und der Philosophie, die den Sinn von Millionen beschäftigen. Zum vollen Umfang europäischen Denkens gehört das konservative, rechtsgerichtete Denken, das verwurzelt ist in der alten Familienaristokratie, in Klassenvorrechten (Kastengeist) und Traditionen, die vom römischen Katholizismus am Leben erhalten werden. Es haßt eine Änderung und Einmischung, kommt sich selbst vornehm und anderen überlegen vor und ist fern von jeder neuen Denkart. Die Denkweise stuft sich ab gegen die Mitte hin, wo der liberale Sinn herrscht, der zum großen Teil die Folge der protestantischen Reformation ist und demokratisch und progressiv nur einen allmählichen Wechsel wünscht. Theoretisch denkt man, alle Menschen seien von Geburt aus gleich, und jeder könne durch seine eigenen kapitalistischen oder sozialistischen Bestrebungen Sicherheit und Rettung erlangen. Auf der extremen Linken der Skala europäischen Denkens finden wir den radikalen Sinn von atheistischer Denkart, der sich für einen revolutionären Wechsel zugunsten der Herrschaft der Massen und der Verteilung des Reichtums interessiert. Durch das System des Materialismus wird der Mensch im großen Apparat einer Nation zur bloßen Nummer.
Was für günstige Gelegenheiten hat denn die wahre christliche Denkart im Kampfe gegen solch verschanzte, mächtige Stellungen des europäischen Geistes?
Schon seit dem Jahre 1880 ist in Europa die Literatur der Watch Tower Society in Umlaufa. Mit der Zeit wurden drei Zentren die Bollwerke der Zeugen Jehovas: England, Zentraleuropa (mit der Schweiz an der Spitze) und Nordeuropa (mit Dänemark und Schweden an der Spitze). Von diesen Punkten aus wurde der ganze Erdteil bedient, wobei Deutschland schließlich für die Ausdehnung das fruchtbarste Feld wurde. Während des ersten und zweiten Weltkrieges blieben diese drei Zentren intakt und wurden zu Ausgangspunkten für die schnelle Wiederbelebung in allen anderen Teilen Europas. Im Jahre 1942 wirkten die Zeugen in 13 Ländern, und es gab auf dem Kontinent Europa 22 796 tätige Evangeliumsdiener (die Mitverbundenen in Deutschland, die Hitler verboten und ins Gefängnis gesteckt hatte, nicht mitgezählt). Am Ende des zweiten Weltkrieges folgte eine rasche Wiederaufnahme der Tätigkeit in den Ländern, in denen das Werk verboten gewesen war, und zwar angekurbelt durch den Besuch des Präsidenten Knorr, der in Begleitung seines Sekretärs, M. G. Henschel, im Winter der Jahre 1945/1946 eine Besichtigungstour unternommen hatteb. Im Jahre 1947 meldeten die neubelebten Zeugen in 19 Ländern Europas 74 196 Evangeliumsdiener im Felddienste. Im Jahre 1946 begann die Gesellschaft Missionare, die in Gilead ausgebildet wurden, nach Europa zu entsenden, und in jenem Jahre gab sie hunderttausend Dollar zur Eröffnung von Zweigbüros und zum Ankauf von Druckereimaschinen ausc. Das Werk hat sich damals rasch erholt. Die Ergebnisse im Sammeln der anderen Schafe sind erstaunlich gewesen. Im Jahre 1955 gab es 227 374 predigende Zeugen Jehovas in Europa. Unter diesen befanden sich 278 gileadgeschulte Missionare, die ihre ganze Zeit dem Werke widmen.
Diese erstaunliche Nachkriegsausdehnung ist nicht ohne Widerstand von kommunistischer Seite her vor sich gegangen. Als Rußland nach 1948 allmählich den Eisernen Vorhang in Europa herunterließ, wurden Tausende der Zeugen einer Verfolgung ausgesetzt, die so schlimm ist, wenn nicht schlimmer, wie jene unter der Nazibesetzung. Nach nur drei oder vier Jahren des Freiseins von Konzentrationslagern mußten von neuem Tausende in solch teuflische Einrichtungen zurückkehren oder wurden als Sklaven zur Arbeit in die russischen Bergwerke gesandt oder, was noch schlimmer ist, nach Sibirien verbannt. Allein in der Ostzone Deutschlands sind 1016 Männer und Frauen, Zeugen Jehovas, insgesamt zu 6865 Jahren Gefängnis verurteilt worden, und vierzehn wurden getötetd.
Man denke zum Beispiel an die tragische Geschichte der Zeugen Jehovas in Polen. Im Jahre 1939, vor dem Anfang des zweiten Weltkrieges, gab es 1039 predigende Zeugen, die tapfer der bitteren Verfolgung von seiten der fanatischen katholischen Hierarchie standhielten, die die Zeugen jahrelang einem Katakombendasein ausgesetzt hattee. Wohl war die Freiheit nach der Nazityrannei im Jahre 1945 süß, erwies sich aber als von nur kurzer Dauer. Eilends begannen die polnischen Zeugen den theokratischen Gottesdienst in ihrem Lande neu zu organisieren. Im Jahre 1946 erreichten sie eine neue Höchstzahl von 6014 Predigern. Dann, im Jahre 1947, trafen Gileadmissionare ein, um ihnen bei der Organisierung zur Ausdehnung weitere Hilfe zu bieten. Im Jahre 1948 gab es 10 385 predigende Evangeliumsdiener, und im Jahre 1950 war die überraschende Gesamtzahl von 18 116 erreichtf. Nichts schien diese mutigen polnischen Kämpfer um wahre Anbetung an der Einsammlung der „Schafe“ Jehovas hindern zu können. Im Jahre 1950 befand sich Polen selbst hinter dem Eisernen Vorhang. Die Zeugen wurden in jenem Jahre verboten, das Zweigbüro wurde geschlossen, die Führer wurden verhaftet, und die Gileadmissionare mußten das Land verlassen. Wiederum nahmen die polnischen Zeugen ihre frühere „Katakomben“-Tätigkeit auf, um die Fackel der christlichen Anbetung helleuchtend zu erhalten, damit die vielen anderen „Schafe“, die noch fliehen möchten, den Weg zu Jehovas Ort der Sicherheit finden könnten.
In der Tschechoslowakei offenbarten sich die Zeugen ebenfalls als wahre Kämpfer für die christliche Freiheit. Ehe Hitler im Jahre 1938 dieser fortschrittlichgesinnten Demokratie in Zentraleuropa die Freiheit raubte, gab es dort 1166 tätige Evangeliumsdiener. Während der Hitlerzeit wurde durch eine unterirdische Tätigkeit eine beschränkte Verbindung unter Jehovas Zeugen in der Tschechoslowakei aufrechterhalten. Im Jahre 1945, zur Zeit des Sturzes Hitlers, wurde das Werk rasch wiederbelebt, und im Jahre 1946 gab es dort 1209 tätige Zeugen. Als die Tschechoslowakei im Jahre 1948 hinter dem Eisernen Vorhang zu verschwinden begann, wurde die Tätigkeit der Zeugen verboten, ihr Zweigbüro geschlossen, und viele wurden verhaftetg. Kam dadurch die Ausdehnung des Einsammlungswerkes zum Stillstand? Nein. Im Jahre 1950 gab es dort 2882 tätige Prediger des Königreiches Jehovas, und seither hat ihre Zahl weiter zugenommen. Ähnliche Erfahrungen können von den Zeugen in Jugoslawienh, in Bulgarien, Ungarn und Rumänien berichtet werden. Selbst in Rußland gab es im Jahre 1948 mehr als achttausend Diener des Königreiches Jehovas, die tätig blieben und auf vielerlei kluge, einfallsreiche Weise den biblischen Predigtdienst fortsetzteni. Von Tausenden wird zudem berichtet, daß sie in Sibirien in der Verbannung weilen. Für das Jahr 1954 war es großartig, zu sehen, daß immer noch 64 123 Zeugen Jehovas in allen diesen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang tätig sind.
Das Bild der Ausdehnung in Europa zeigt sich deutlich aus der nachstehenden Tabellej.
Zahl der Zahl der Zahl der
Jahr Länder Prediger Predigtstunden
1942 13 22 796 5 344 006
1947 19 74 196 12 819 994
1952 24 158 867 19 147 879
1955 24 227 374 23 720 651
Nahezu 24 Millionen Stunden christlicher Predigttätigkeit im Jahr ist gewiß eine gewaltige Kraft zur Bombardierung des europäischen Sinns. Zufolge Jehovas Barmherzigkeit geht dieser Feldzug weiter, damit sich ehrlichgesinnte Europäer von der Knechtschaft falschen Denkens frei machen können, um zu der Denkweise einer neuen Hoffnung auf ewiges Leben in Gottes neuer Welt zu gelangen. Im Jahre 1955 gab es auf 1746 Einwohner je einen predigenden Zeugen Jehovas. Im Jahre 1955 erhielt Europa das größte Zeugnis, das dort je von Jehovas Zeugen gegeben wurde, und dies auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges. Obwohl sie immer noch eine kleine Minderheit sind, sind sie doch eine wachsende Minderheit, deren Stimmen in jedem Teil des Kontinents vernommen werden.
AFRIKA
Man pflegte Afrika wegen seines Heidentums in geistiger Hinsicht den „schwarzen“ Kontinent zu nennen. Doch seit dem Vorrücken des wahren Christentums durch Jehovas Zeugen vom Jahre 1945 an bleibt dieser Kontinent mit seinen 203 Millionen Einwohnern nicht mehr ein unaufgeklärtes Gebiet der Welt. Im nördlichen Teil dieses mächtigen Kontinents herrscht die mohammedanische Denkweise. Diese ist fanatisch, religiös, unvernünftig und sehr sinnlich. Die Frauen werden auf einer untergeordneten Stufe gehalten, und die Polygamie ist weit und breit Gewohnheit. Die Sitten sind sehr verderbt, es herrschen Krankheiten, die Bestreitung des Lebensunterhaltes ist nicht leicht, es herrscht Mangel an Bildung und Wertschätzung für höhere geistige Werte. Was die Europäer auf diesem Kontinent betrifft, nehmen sie eine überlegene Haltung ein, bewahren eine Geistesverfassung, die derjenigen ihrer Verwandten in Europa ähnlich ist und bleiben abgesondert von den schwarzen und farbigen Eingeborenen. Was den Afrikaner betrifft, so ist sein Sinn tief in heidnischen Bräuchen und im Aberglauben verwurzelt. Er bleibt seinem patriarchalischen System der Stammesangehörigkeit treu ergeben und hat eine entschiedene Abneigung gegen den ihn besiegenden und ausbeutenden weißen Herrn und beargwöhnt ihn. Der Afrikaner hat wenig natürliche Zuneigung und versteht nicht, was es bedeutet, seinen Nächsten oder selbst seine Frau und Kinder zu lieben. Die Frauen werden gemäß den Bestimmungen des Stammessystems als Austausch von Vieh gekauft, damit sie Kinder hervorbringen und so ihr Dorf aufbauen. Man glaubt dort an die abgeschiedenen „Geister der Vorfahren“, die einem helfen oder einen bestrafen könnten, je nach der Fürbitte der Lebenden. Ferner hat man die Neigung, „Geschäfte“ mit solchen „Geistern“ zu machen, nicht etwa auf der Grundlage der Liebe zu ihnen, sondern auf der Grundlage der Furcht und zur Erlangung materieller Vorteile als Austausch der vorgeschriebenen Tieropfer. Grausame Medizinmänner sind die lieblosen Werkzeuge gewesen, um dieses System in Gang zu halten.
Wie haben Jehovas Zeugen gegenüber einer solchen Verschiedenheit europäischen, mohammedanischen und primitiven heidnischen Denkens gehandelt? Schon zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Watch Tower Society Mitverbundene in Südafrika gehabt und dort ein Zweigbüro errichtet, und dann, in den 1920er Jahren, begann das Erziehungswerk nordwärts in afrikanische Teile vorzurücken. Auch wurde in den 1920er Jahren in Britisch-Westafrika ein Anfang gemacht, wo bald ein Zweigbüro errichtet und das Werk landeinwärts vorangetrieben wurde. In den frühen 1930er Jahren wurde das Werk in Ägypten in Gang gebracht, von wo aus es sich langsam über den obersten Teil Afrikas ausdehnte. Zufolge dieses dreiteiligen Vorrückens kam es, daß sich bis zum Jahr 1942 etwa 10 070 Zeugen in elf afrikanischen Ländern vorfanden. Dann wurden im Jahre 1947 20 Gileadmissionare nach Afrika gesandt. Im Dezember 1947, Januar 1948 und dann wieder im Jahre 1952 besuchte der Präsident der Gesellschaft fast sämtliche Zweigstellen in Afrika, unterhielt sich mit den afrikanischen Zeugen und studierte ihre Predigtproblemek. Die Zahl der tätigen Zeugen wuchs weiter an, bis man im Jahre 1955 in 34 Ländern 98 146 Zeugen, darunter 108 Wachtturm-Missionare zählte. Dies bedeutet in 13 Jahren 875 Prozent Zunahme!
Dies hat viel erzieherische Arbeit und geduldige Schulung von seiten der selbstlosen europäischen Prediger-Zeugen und ihrer Gileadmissionare erfordert. Schulkurse mußten durchgeführt werden, um viele der Afrikaner lesen und schreiben zu lehren. Sozusagen jeder Teil der Versammlungsorganisation mußte vereinfacht werden, und Regeln und Bräuche mußten eingeführt werden für Leute, die von biblischen Dingen vorher keinen Begriff gehabt hatten. Es mußten christliche, moralische Richtlinien eingeführt werden, z. B., daß ein Ehemann nur eine Ehefrau haben soll und daß ihre Ehe richtig legalisiert sein muß, ferner daß Hurerei auf der Seite gelassen und daß auf Reinheit bestanden werden muß, bevor jemand dauernd mit der Gesellschaft in Verbindung treten kann. Den Afrikaner zeichnet ein auffallendes Merkmal aus: der Nachahmungstrieb. Die weißen und die seit langem geschulten einheimischen Prediger mischen sich gesellschaftlich unter diese begierigen neuinteressierten Afrikaner und geben ihnen ein gutes Beispiel von christlicher Liebe und liebendem Verbundensein. Die Afrikaner haben schnell entdeckt, daß dies nicht heuchlerisch, sondern aufrichtig und ehrlich gemeint ist. Es wird ihnen die gleiche christliche Würdigung zuteil, wenn sie zur Reife gelangen. So wird christliche Liebe und warme Gemeinschaft gepflegt, um das richtige christliche Denken und höhere Normen des Verbundenseins zu entwickeln, damit sie im Verein mit ihren Brüdern der Neuen-Welt-Gesellschaft in anderen Erdteilen die gleiche Stellung wie sie einnehmen können. Da diese Afrikaner nicht belastet sind mit dem modernen „Komfort“ des Lebens, haben sie Zeit, die Bibel zu studieren, um etwas von Gottes neuer Welt zu erfahren. So bauen sie ihre Hoffnung auf ewiges Leben auf.
Die moralische und intellektuelle Umwandlung der afrikanischen Zeugen ist ein überraschendes Schauspiel, selbst für die weltlichen Regierungsbehörden. Die folgende Tabelle zeigt die christliche Mehrung in Afrika, was verspricht, daß noch viele weitere von den anderen Schafen Jehovas in jenem Kontinent in die „eine Herde“ eingesammelt werden sollen.
Zahl der Zahl der Zahl der
Jahr Länder Prediger Predigtstunden
1942 11 10 070 2 200 163
1947 17 24 896 6 298 189
1952 32 72 228 15 460 243
1955 34 98 146 20 222 817
Die Predigtbesuche von Haus zu Haus nach der Methode der Zeugen Jehovas sowie ihre Rückbesuche, um Bibelstudien mit Neuinteressierten abzuhalten, werden in Afrika einheitlich durchgeführt, gleichwie in anderen Erdteilen, und dies nach dem von Jesus und den Aposteln vor 1900 Jahren gegebenen Beispiel. Auf diese Weise wurden im Jahre 1955 über zwanzig Millionen Stunden christlicher Tätigkeit des Predigens an Hand verschiedener einheimischer Bibelübersetzungen geleistet, und dies in dem Kontinent, der früher das „schwarze“ Afrika war. Während des Jahres 1955 gab es 98 146 Zeugen, das heißt je einen predigenden Zeugen Jehovas auf 2068 Personen, die in Afrika wohnen.
(Fortsetzung folgt)
[Fußnoten]
a Watch Tower, 1881, Oktober-November, S. 5, 6; Wachtturm vom 15. März 1955, S. 177 (Schweizer Ausgabe, 1. April 1955, S. 101).
b Wachtturm, 1946, S. 77-79, 92-95, 125-128, 172-174, 188-192, 206-209, 221-224.
c Jahrbuch 1947, S. 285.
d Yearbook 1954, S. 161.
e Jahrbuch 1940, S. 255, 256.
f Jahrbuch 1951, S. 26.
g Jahrbuch 1950, S. 273-275.
h Zunahme der Prediger von 130 im Jahre 1944 auf 1164 im Jahre 1954.
i Jahrbuch 1949, S. 244.
j Yearbook 1954, S. 273.
k Wachtturm, 1948, S. 155-130, 172-176.