Befreiung von totalitärer Inquisition durch Glauben an Gott
Von Erich Frost erzählt
EINE führende deutsche Zeitschrift liegt aufgeschlagen vor mir. Das Leben in einem Konzentrationslager ist das Thema eines Romans, der in Fortsetzungen darin erscheint. Es ist die echteste Beschreibung des Lagerlebens, die ich je gelesen habe. Doch ist das Schlimmste nicht gesagt worden. Die Feder sträubt sich, solche Dinge zu Papier zu bringen.
Vor nicht sehr langer Zeit war die Welt entsetzt zu hören, daß die Nazihorden auf ihrem Kreuzzug ostwärts bis an das Ufer der Wolga und in ihrem Blitzkrieg westwärts bis zur Küste des Kanals fluteten. Vom kalten Skandinavien gingen die totalitären Truppen im Stechschritt siegend bis zu den heißen Sandwüsten Afrikas. Jahrelang erlitt der Nazismus keine Niederlagen — ausgenommen jene an der inneren Front!
In Deutschland selbst suchten die Nazis Jehovas Zeugen vergeblich zu liquidieren. Die Zeitenuhr wurde sogar um etwa fünfhundert Jahre zurückgedreht, um die schreckliche Inquisition wieder ins Leben zu rufen, die in den Nazi-Konzentrationslagern in voller Blüte stand. Durch Glauben an unseren Gott sind Tausende wie ich selbst noch am Leben und können die Geschichte erzählen.
Ich denke an Ereignisse zurück, die im Jahre 1919 ihren Anfang nahmen, an Ereignisse, die einen in einen gewissen Konflikt mit dem totalitären Staat brachten. Es war das Jahr, in dem meine Mutter eine Zeugin Jehovas (damals noch als „Bibelforscher“ bekannt) wurde. Ich war an Musik interessiert. Durch ihr eifriges Zeugnisgeben wurden mein Vater und ich veranlaßt, uns am 4. März 1923 in meiner Heimatstadt, Leipzig, als Zeugen Jehovas taufen zu lassen. Ich brach mein Musikstudium ab und begann meinen Lebensunterhalt dadurch zu verdienen, daß ich in Kaffeehäusern und Vergnügungslokalen spielte, und gewann so viel Zeit für die Arbeit im Werke des Herrn. Im Jahre 1924 nahm ich den Vollzeitdienst für Jehova auf, indem ich im Literaturdepot der Gesellschaft in Leipzig zu arbeiten begann. Vier Jahre später wurde ich eingeladen, bei den Vorführungen des Photo-Dramas der Schöpfung, das die Gesellschaft zeigte, mitzuwirken. Tausende erinnern sich noch der schönen Lichtbilder, die die Erschaffung der Erde und Gottes Vorhaben mit den Menschen darstellten. Es war ein wunderbares Vorrecht, das Drama vorzuführen und als „Pilgerbruder“ oder Bibelredner viele Versammlungen zu besuchen.
STURM IM ANZUG
Das Zeugniswerk breitete sich in Deutschland sehr rasch aus. Von 1919 bis 1933 verbreiteten die eifrigen deutschen Zeugen 48 000 000 Bücher und Broschüren und überdies 77 000 000 Exemplare des Goldenen Zeitalters, das nun den Titel Erwachet! trägt. Im Jahre 1932 begann der Geist des Nazismus die Oberhand zu gewinnen. Oft gab es in Verbindung mit den Dramavorführungen häßliche, pöbelhafte Störungen. Das wurde so schlimm, daß das Drama nur noch unter polizeilichem Schutz vorgeführt werden konnte. Während dieser Zeit wurde ich persönlich vielen Nationalsozialisten bekannt.
Als ich im Januar 1933 bei einem Mitzeugen in Nürnberg wohnte, hörten wir durch den bombastischen Rundfunk aus Berlin die Bekanntgabe der Machtergreifung durch Hitler. Wir ahnten, was dies für uns bedeuten würde. Der Sturm brach los, als im April darauf die Polizei die große neue Druckerei und das Bethelheim der Gesellschaft in Magdeburg besetzte und unsere Druckpressen versiegelte. Da keine Beweise einer aufwieglerischen Tätigkeit vorlagen, wurde uns das Eigentum am 28. April zurückgegeben.
Im Juni versammelten sich siebentausend Zeugen in Berlin und faßten eine Resolution, in der sie stark gegen die Gewaltmaßnahmen der Hitler-Regierung protestierten. Diese Resolution wurde in Millionen von Exemplaren verbreitet. Drei Tage danach wurde das Eigentum in Magdeburg zum zweiten Male beschlagnahmt und das Personal, das 180 Personen zählte, zur Abreise gezwungen. Unsere religiösen Feinde freuten sich, als Hitler erklärte: „Ich löse die ‚Ernsten Bibelforscher‘ in Deutschland auf; ihr Vermögen stelle ich der Volkswohlfahrt zur Verfügung; ich lasse ihre sämtlichen Schriften beschlagnahmen.“
Da die Gesellschaft in Amerika das Eigentumsrecht auf das Besitztum hatte, wurden Verhandlungen zwischen dem Staatsdepartement der Vereinigten Staaten und Deutschland geführt. Das Eigentum wurde wieder freigegeben, das Verbot unserer Predigttätigkeit jedoch nicht aufgehoben. Die Versammlungen wurden verboten. Bibeln und bibelerklärende Schriften im Werte von mehr als 90 000 Mark wurden öffentlich verbrannt. Vom Jahre 1934 an verloren viele Zeugen ihre Arbeit, weil sie sich weigerten, zu wählen oder „Heil Hitler!“ zu sagen.
Im Frühjahr 1934 wurde ich verhaftet und sah zum ersten Male eine Gefängniszelle von innen, ich wurde jedoch nach zehn Tagen wieder freigelassen. Kurz danach gelang es mir, in die Tschechoslowakei zurückzugelangen, wo ich zuvor das Photo-Drama aufgeführt hatte. Wie glücklich bin ich heute, daß ich zu einer Zeit, da das Werk in Deutschland verboten und unser Büro geschlossen war, das Drama noch 122mal außerhalb des Landes vorführen konnte! Und doch war es in der Tschechoslowakei nicht so leicht wie zuvor. Oft wurde ich nachts von der Polizei geweckt, die befürchtete, daß ich ein Nazi wäre!
Mittlerweile ergriffen die Brüder in Deutschland unerschrocken entscheidende Maßnahmen. Obwohl die Bewegung verboten war, fanden am 7. Oktober 1934 in allen Versammlungen Zusammenkünfte statt, und sie faßten eine Protestresolution, die sie an die Hitlerregierung richteten, mit der Mitteilung, daß sie Jehova Gott um jeden Preis weiterhin dienen würden. Nach einem ernsten Gebet wurden die Proteste nach Berlin telegraphiert. Gleichzeitig hatten sich Jehovas Zeugen in fünfzig anderen Ländern versammelt und an die Nazi-Regierung kraftvolle Warnungen gekabelt. Ein Bevollmächtigter General Ludendorffs enthüllte später, daß Hitler, als er die kühnen Telegramme gesehen habe, aufgesprungen sei und geschrieen habe: „Diese Brut wird aus Deutschland ausgerottet werden!“
DAS CHRISTLICHE UNTERGRUNDWERK
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland im Mai 1935 schaltete ich mich in das Untergrundwerk ein. In der Nacht des 13. Juni wurde ich in meinem Hotel verhaftet und in das „Columbia-Haus“ von Berlin geführt, wo ich die schlimmsten fünf Monate meines Lebens verbrachte. Unter Kolbenstößen und Fußtritten, stets in Einzelhaft, täglich grausam schikaniert und gedemütigt, erfuhr ich damals, daß Menschen zu Bestien werden können. Die sinnlosen Fragen eines Gestapobeamten konnten mich nicht einer umstürzlerischen Tätigkeit überführen. Unerwartet wurde ich entlassen und verschwand bald wieder im Untergrundwerk, um Jehova weiter zu dienen.
Vorbereitungen auf einen Kongreß in Luzern, Schweiz, waren im Gange. Mittlerweile hatten die Nazis eine neue Aktion gegen uns eingeleitet. Fast die meisten der Brüder, die verantwortliche Stellungen bekleideten, waren verhaftet worden. Ich bemühte mich nun, die zerrissenen Fäden aufzunehmen und die Dinge wieder in Gang zu bringen. Unzählige Hintertüren und Fenster verhalfen mir immer wieder im letzten Augenblick zur Flucht vor der Gestapo; meine Mutter und mein Bruder aber wurden verhaftet.
Beim Kongreß in Luzern, im September 1936, waren der Präsident der Gesellschaft, Bruder Rutherford, und auch 2500 Brüder aus Deutschland anwesend. Ich erhielt den Auftrag, das entwurzelte Untergrundwerk wieder zu organisieren, und begann sogleich damit. Auch planten wir, in Deutschland eine schlagartige Verbreitung einer Kongreßresolution vorzunehmen. Am Sonnabend, dem 12. Dezember 1936, zwischen fünf und sieben Uhr abends, wurden in allen größeren Städten 300 000 Exemplare davon in aller Stille in Briefkästen oder unter die Tür gesteckt. Schwärme von Polizisten und SS-Patrouillen konnten keinen einzigen Zeugen dabei erwischen!
Natürlich wurde die Untergrundtätigkeit durchgeführt trotz der Verfolgung und Gefahr, die Freiheit und selbst das Leben zu verlieren. Aber die Brüder mußten geistige Speise erhalten, um Kraft zu haben und um sie auch in ihrem Zeugniswerk zu verwenden. Kontrollen in Eisenbahnzügen waren beständige Gefahren. Schon der Ankauf größerer Papiermengen war verdächtig. Viele Kuriere fielen in die Hände der Gestapo. Mehrere Brüder, die angeklagt wurden, den Wachtturm zur Verbreitung vorbereitet zu haben, wurden hingerichtet. Trotzdem fuhren Gottes Zeugen mit Liebe zu Gott und ihrem Nächsten fort, die gute Botschaft von Gottes Königreich unter Jesus Christus zu predigen. Daß uns dabei verschiedene Mittel zur Verfügung standen, wurde in dem Bericht vermerkt, der auf der ersten Seite des Nationalsozialistischen Rechtsspiegels, des offiziellen Organs der Nazi-Justiz, veröffentlicht wurde. Dort hieß es dem Sinne nach:
„Die Anhänger der verbotenen Vereinigung versuchten auch, die Gemeinschaft unter sich zu bewahren und einander im Glauben zu stärken. Außerdem suchten sie bei jeder Gelegenheit andere Mitbürger zu ihrer Denkweise zu bewegen. Sehr oft richten die Ernsten Bibelforscher, wenn sie Einkäufe oder einen Spaziergang machen, in Parkanlagen sitzen oder auf der Straße stehen, das Wort an Leute, die ihnen fremd sind, und ziehen sie in ein Gespräch über die gegenwärtigen Ereignisse, dann allmählich über ihren Glauben und die verbotene Lehre. Sie erachten es für die Pflicht eines ‚Zeugen Jehovas‘, so zu handeln.“ Ungeachtet dessen, in welche Gefahr sie sich dadurch begeben, sind Jehovas Zeugen daran interessiert, anderen Menschen Glauben einzuflößen, damit auch diese in dieser Zeit des Endes der Welt errettet werden können.
UNTER NAZI-DÄCHERN
Am 27. März 1937 sollte die jährliche Feier zum Gedächtnis an Christi Tod stattfinden. Ich hatte mich mit zehn Brüdern verabredet, um die Untergrundtätigkeit zu besprechen, doch sollte es anders kommen. Am 21. März, um zwei Uhr morgens, dröhnen heftige Schläge und Fußtritte gegen die Wohnungstür. Binnen weniger Sekunden lasse ich ein dünnes Papierröllchen mit wichtigen Aufzeichnungen in der Matratze der Bettcouch verschwinden, und schon treten zehn Mann der Geheimen Staatspolizei ein: „So, ziehen Sie sich an, Frost. Das Spiel ist aus!“ Ich betete zu Jehova und begann mich anzuziehen, während sie das gastliche Zimmer zu einer Räuberhöhle machten. Das Papierröllchen wurde nie gefunden.
Alles wickelte sich nun sehr schnell ab. Die Gestapo hatte Kenntnis von unserem Plan, uns an jenem Freitag zur Gedächtnismahlfeier zu treffen, doch wußte sie nicht, wo. Mehr als einmal schlug man mich, bis ich bewußtlos war, überschüttete mich dann mit Wasser, um mich wieder zum Bewußtsein zu bringen. Bald konnte ich nicht mehr liegen und nicht mehr sitzen. Von Freitag bis Montag aß und trank ich kaum etwas, rief aber unablässig Jehova um Hilfe an, damit ich um der Brüder willen schweigen könnte. Als ich wieder vor die Gestapo-Meute geführt wurde, dachte ich an Daniel in der Löwengrube. Ihr zorniger Wortschwall verriet mir, was ich hören wollte: Die Brüder waren nicht in das Netz geraten, das die Polizei gelegt hatte. Meine Freude war unbeschreiblich.
Im Juli erreichte mich die Nachricht von der Verhaftung meiner Frau. Unser Sohn sollte national erzogen werden. Viele andere Kinder von Zeugen wurden ihren Eltern entrissen und in Nazi-Heime gesteckt. Die meisten dieser Kinder wurden durch diese Feuerprobe gestärkt. Ein Mädchen von dreizehn Jahren schrieb an die Eltern: „Ich muß immer an die treuen Männer Hiob, Daniel und andere denken und nehme sie mir zum Beispiel, und ich möchte lieber sterben als Gott untreu werden.“ Trotz des schweren Druckes weigerten sich diese Kinder, sich der Hitlerjugend anzuschließen. Wegen ihres guten christlichen Benehmens zogen einige Eltern, die Nationalsozialisten waren, sie den eigenen Kindern vor.
VOM GEFANGENENLAGER NACH SACHSENHAUSEN
In den Lagern des Emslandmoors trieben die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die grausame Behandlung einen fast zur Verzweiflung. Vielleicht hat jemand schon etwas von der „Hölle am Waldesrand“ gehört. Der Glaube und die Gesellschaft treuer Zeugen befähigten mich, dort das Schlimmste zu ertragen. Sonntags führten wir, zwischen den Baracken sitzend, ein gemeinsames Bibelstudium durch, indem wir in unserem Gedächtnis das auffrischten, was wir in früheren Jahren aus Gottes Wort gelernt hatten. Mitgefangene wurden eingeladen, mit uns vom „Wasser des Lebens“ zu trinken. Nicht selten hörten sie unseren Besprechungen andächtig zu.
Meine Strafzeit endete nach dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges, und ich wurde nach Berlin zurückgebracht. Neunundneunzig Tage später schlossen sich hinter mir die Tore des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Unvorstellbar war der grausame Empfang durch die SS, unvorstellbar aber auch meine Freude, als mich 280 Zeugen begrüßten, alle erprobt und gestärkt durch ähnliche harte Prüfungen. Das waren die treuen Christen, die im Bestseller The Theory and Practice of Hell (Theorie und Praxis der Hölle) erwähnt wurden: „Als der Krieg ausbrach, wurden die Zeugen im Konzentrationslager Sachsenhausen aufgefordert, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Auf jede Weigerung folgte die Erschießung von zehn Männern aus ihren Reihen. Als vierzig Opfer getötet worden waren, gab es die SS auf … Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß — um psychologisch zu sprechen — die SS der Herausforderung der Zeugen Jehovas niemals ganz gewachsen war.“ Welche Freude und welcher Trost, unter ihnen zu sein! Besser denn je verstand ich die Worte der Bibel: „Eisen wird scharf durch Eisen, und ein Mann schärft das Angesicht des anderen.“ — Spr. 27:17.
Es wurde uns wiederholt gesagt, daß sich uns die Tore des Lagers öffnen würden, wenn wir eine Erklärung unterzeichneten, in der wir unserem Glauben absagen würden. Fräulein Geneviève de Gaulle, die Nichte von Charles de Gaulle von Frankreich, bestätigte dies durch die Worte, mit denen sie auf unsere Schwestern im Lager Ravensbrück Bezug nahm: „Sie würden auf der Stelle die Freiheit erlangt haben, wenn sie ihrem Glauben abgeschworen hätten; sie wurden aber nicht müde zu widerstehen, ja es gelang ihnen sogar, einige ihrer Bücher und Traktate ins Lager zu bekommen, woraufhin einige von ihnen den Tod durch Erhängen fanden.“ Durch dieses furchtlose Zeugnisgeben wurden 300 junge Russinnen in jenem Lager Zeugen Jehovas. Obwohl es den Zeugen Jehovas verboten war, mit anderen Gefangenen zu sprechen (was jemandem, der zuhörte, fünfundzwanzig Schläge und Einzelhaft eintragen konnte), waren sie entschlossen, bis zum Ende standzuhalten, um Jehovas Macht, die er zugunsten der Seinen betätigt, kundwerden zu lassen. Einer der Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald erzählte, daß die Zeugen ihren Glauben „ungeachtet der Verbote und Bestrafungen“ bezeugt hätten. Ihre Sorge galt nicht nur sich selbst, sondern auch anderen. Im Lager Neuengamme bei Hamburg veröffentlichten unsere Brüder sogar eine regelrechte Zeitung, betitelt Nachrichten über Gottes Königreich.
Im Vernichtungslager Auschwitz (Oswiecim) wurde einer der Brüder hingesandt, die Heizung in dem Raum zu reparieren, in dem dreißig Schwestern arbeiteten. An sechs aufeinanderfolgenden Tagen sprach er während der Mittagszeit über Gottes Wort zu ihnen und stärkte sie so von neuem, wofür sie Jehova dankten. Ein wohlwollender Posten saß dabei, Gewehr bei Fuß, und hörte interessiert zu. Es war nichts Außergewöhnliches, daß Wachtposten sich mit den Brüdern in Gespräche einließen. Die uns gefangenhielten, bekamen stets ein offenes, unerschrockenes Zeugnis, weil wir wußten, daß ihr ewiges Leben und auch das unsrige auf dem Spiele standen. Eine Schwester, die dazu bestimmt wurde, im Büro eines SS-Obersturmführers zu arbeiten, wurde von diesem oft mit den Worten gewarnt: „Ich werde Ihnen noch den Kopf abschlagen lassen!“ Ohne sein Wissen benutzte sie seine Ausstattung, um für einen Lagerkongreß Schriften herzustellen. Oft sprach sie zu ihm über Jehovas Vorhaben, und nach und nach wurde er freundlicher. Durch ein solch furchtloses Predigen und die Bekundung von Nächstenliebe wurde oft in der Löwengrube der Glaube geboren. Hier und dort sagten sich die SS-Leute in verschiedenen Lagern von ihrem Nazi-Eid los und erklärten ihren Glauben an Jehova. Diese „Saulusse“, unsere Verfolger, wurden „Paulusse“, unsere Mitgefangenen! Auch von den politischen Gefangenen wurden viele Männer und Frauen Zeugen Jehovas. Selbst ein Wasserfaß diente als Taufbecken!
Unser Glaube an Jehova war niemals unangebracht. Was Björn Hallström, ein wohlbekannter schwedischer Journalist, später berichtete, traf auf unsere Brüder während der ganzen Nazi-Inquisitionszeit zu: „Sie wurden schlimmer als irgendeine andere Gruppe behandelt, aber durch ihren Glauben an Gott gelang es ihnen besser als allen anderen, die Dinge zu überleben.“
Außerhalb der Lager vermochte die Gestapo nur etwa die Hälfte der Zeugen zur selben Zeit in ihr Garn zu locken. Während etwa 10 000 von uns eingesperrt waren, fuhren ebenso viele Tausende draußen fort, die gute Botschaft von Jehovas Königreich zu verkündigen. Sie hielten nachts oder in Wäldern geheime Zusammenkünfte ab. Selbst Beerdigungen verschafften ihnen kostbare Gelegenheiten der christlichen Gemeinschaft.
DIE HANDSCHRIFT AN DER WAND
Als Strafe dafür, daß wir „Rädelsführer“ waren, erhielten sechzehn von uns je fünfundzwanzig Schläge mit einer Stahlrute, worauf die Versetzung in die Strafkompanie folgte. Schließlich landeten wir als sogenannte SS-Baubrigade auf der Felseninsel Alderney, die zwischen der französischen und der englischen Küste liegt. Obwohl wir durch die, die uns gefangenhielten, viel Ungemach zu erdulden hatten, hatten wir doch auch Gelegenheiten, unsere Mitgefangenen vor Gefahren und Leiden zu bewahren. So, wie sich alles entwickelte, begann Hitlers Stern zu sinken, nachdem seine Armeen in Stalingrad angehalten worden waren. Im Lager der Nazis begann man, die Handschrift an der Wand zu verstehen.
In einer sternklaren Juninacht des Jahres 1944 stand ich unten am Hafen und beobachtete die Invasion der Alliierten. Dann erfolgte unser Rücktransport nach St. Malo, den wir in alten Schiffen antraten. Mit der Bahn ging es weiter, je sechzig Mann in einem Güterwagen, durch Frankreich, Belgien, Holland und zurück nach Deutschland. Die Absicht, uns in der Kieler Bucht auf Schiffen zu versenken, zerschlug sich, als unser Transport nach Österreich abgedrängt wurde. Am 5. Mai 1945 wurden wir schließlich von Panzertruppen befreit.
Etwa zur selben Zeit öffneten sich durch den Druck der vorrückenden alliierten Heere die Tore verschiedener Konzentrationslager, und Tausende der Elendsgestalten ergossen sich über das zerbombte Land. Sie marschierten noch unter Bewachung, und die SS erschoß jeden, der zu schwach war weiterzugehen oder der am Wegesrand plünderte. Es gab viele Tote. Jehovas Zeugen halfen einander weiter. Oft predigten sie Dorfbewohnern, die ihre Wertschätzung dadurch zum Ausdruck brachten, daß sie das, was sie an Nahrungsmitteln besaßen, mit ihnen teilten, was eine weitere Fürsorge Jehovas war. Die frohen Worte eines Zeugen wurden bald typisch: „Jetzt bin ich frei. Ich bin dem himmlischen Vater und unserem Führer, Jesus Christus, dankbar, daß ich seinen Namen weiterhin lobpreisen kann.“
Die Inquisition hatte ihren Zweck verfehlt!
WIEDERAUFBAU
Jehovas Geist spornte uns zur Tat an. Viele von uns dachten nicht daran, heimzukehren, obwohl wir noch ein Heim hatten. Unsere erste Sorge galt dem Eigentum der Gesellschaft in Magdeburg. Dort stand man gerade im Begriffe, das Gebäude in ein Hotel für die Russen zu verwandeln. Den sowjetischen Offizieren verständlich zu machen, wer Jehovas Zeugen sind, erwies sich als eine zermürbende Aufgabe. Unsere Arbeit in der Ostzone wäre wahrscheinlich nie in Fluß gekommen, wenn wir nicht tagtäglich betont hätten, daß in Magdeburg früher die Zentrale unserer Organisation gewesen sei und wir die Absicht hegten, von diesem Büro aus auch weiterhin unsere Organisation in allen vier Zonen zu leiten. Schließlich gab man nach, und das Werk ging in der kommunistischen Zone wie anderswo weiter.
Bald waren die deutschen Versammlungen von neuem organisiert. Zuerst predigten wir fast ausschließlich mit der Bibel und einem Traktat, doch konnten wir wenigstens in Freiheit zusammenkommen und einander helfen. Bei jenen Zusammenkünften kurz nach dem Krieg fielen unsere Brüder und Schwestern bisweilen vor Entkräftung von den Bänken. Von Jehovas Zeugen aus Amerika erhielten wir CARE-Pakete und von unseren Brüdern aus Amerika und der Schweiz auch eine große Kleiderspende. Das wurde sehr geschätzt und war für uns eine große Hilfe.
Eifrig besuchten 9000 von uns im Jahre 1946 einen Kongreß in Nürnberg. Auch in Magdeburg veranstalteten wir einen Kongreß, bei dem 6000 anwesend waren. Unnachahmlich waren die Blicke und Gesten der Russen, die uns singen hörten und zusahen, wie Hunderte zur Taufstätte schritten. Jede Zusammenrottung auf den Straßen war ja streng verboten, doch nachdem wir die Taufe erklärt hatten, störte man uns nicht. Diese Freiheit unter der neuen Totalherrschaft in Ostdeutschland sollte jedoch nicht lange dauern.
Im Jahre 1947 kam der Präsident der Gesellschaft, Bruder Knorr, nach Deutschland. Ein Vertrag für das Gebäude und den Grund und Boden in Wiesbaden, auf dem nun unser vergrößertes Bethelheim steht, wurde unterzeichnet. Hier in Westdeutschland freuten wir uns zu sehen, wie die wenigen tausend Zeugen, die es am Ende des Krieges gegeben hatte, sich fortwährend mehrten. Heute verkündigen 68 000 eifrig die frohe Botschaft von Jehovas neuer Welt. Mein Herz fließt über vor Freude und Dankbarkeit gegenüber Jehova dafür, daß er dies bewirkt hat. Ich schätze auch die glücklichen Wochen, die ich in den Jahren 1950, 1953 und 1958 anläßlich der internationalen Kongresse in New York verleben durfte. Jehova bereitete auch für uns hier in Deutschland weitere Kongresse, so zum Beispiel im Jahre 1955, als 125 000 Besucher nach Nürnberg und Berlin kamen. Wieviel können doch Gottes Diener in wenigen Jahren tun und erleben!
DIE BEFREIUNG GEWISS!
Als die Kommunisten in den Nazikonzentrationslagern noch unsere Mitgefangenen waren, sagten sie oft drohend: „Sollten wir je an die Macht kommen, hängen wir euch Himmelskomiker auf!“ Im Jahre 1950 begann die totalitäre Inquisition im kommunistischen Ostdeutschland von neuem, indem man die Bewegung der Zeugen Jehovas verbot. Das Büro in Magdeburg wurde von neuem beschlagnahmt. Und nochmals haben unsere Brüder, in dem Glauben, daß Jehova sie befreien kann, die Herausforderung angenommen.
Verstehst du, warum meine Gedanken oft den „Vorhang“, der Deutschland entzweit, durchdringen und dort bei jenen Zeugen weilen, die viele Jahre in Nazilagern litten und heute in kommunistischen Gefängnissen schmachten? Gegenwärtig sind 407 treue Zeugen in Ostdeutschland eingesperrt. Ich denke da an siebzigjährige Brüder wie Bruder X und Bruder Y und andere, nur ein wenig jüngere, wie Bruder Z, Bruder A und Bruder B, von denen jeder wegen seiner Treue zu Jehova fast zwanzig Jahre seines Lebens in den Händen grausamer Feinde Gottes festgehalten worden ist.
Berichte, die durchsickern, zeigen, daß sie mutig und vertrauensvoll sind. Unsere dortigen Brüder bleiben standhaft, sie halten die Königreichshoffnung stets sich selbst und ihren Nächsten vor Augen. Dadurch bekunden sie täglich, daß Jehova durch Christus, seinen König, inmitten seiner Feinde herrscht. Die totalitäre Inquisition kann Glieder des Volkes Jehovas wohl gefangensetzen und sie drangsalieren, wenn Jehova es zu einem Zeugnis zuläßt, nichts aber kann den Geist Jehovas in Fesseln legen!
Mögen Christen, die unter totalitären Inquisitionsmethoden leiden, und auch ihre Bedrücker niemals vergessen, daß Jehova während der Zeit der Nazi-Inquisition beständig mit seinen Zeugen war. Er nährte und tröstete sie, wenn sie erschöpft zu ihm schrieen. Er belebte und erquickte sie, wenn sie schwach wurden und fast verzagten. Er sicherte jenen, die bis zum Tode treu waren, Befreiung durch eine Auferstehung zu. Und zu seiner bestimmten Zeit wird er die Tore weit aufmachen und sein Volk befreien.
Befreiung auf Grund des Glaubens an Gott ist gewiß. Wir stehen an der Schwelle der neuen Welt der Gerechtigkeit. Bereits haben Jehovas Zeugen das Lied angestimmt: „Dank sei Gott, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus!“ — 1. Kor. 15:57, NW.