Stellung nehmen auf Jehovas Seite in der großen Streitfrage
Erzählt von Lilian Rütimann
ICH war ein kleines Mädchen von sechs Jahren, als an einem heißen Nachmittag im August des Jahres 1914 Flugzeuge über unsere Köpfe hinwegsausten. Während ich mich in unserem freundlichen englischen Garten an meines Vaters Knie lehnte, lauschte ich den Gesprächen der Erwachsenen, die über den Krieg diskutierten, der gerade begonnen hatte.
Mein Vater war ein aktives Mitglied der liberalen Partei und Leiter einer Zweigstelle der Konsumgenossenschaft in unserem ländlichen Städtchen. Meine Mutter war als Lehrerin an allen erzieherischen Fragen interessiert. Sie hatte kurz zuvor ein Buch mit dem Titel „Der göttliche Plan der Zeitalter“ gekauft. Eifrig lasen meine Eltern nun in diesem Buch, und dann nahmen sie mit zwei anderen Ehepaaren regelmäßig an einem Bibelstudium teil. Im Frühling 1916 ließen sich meine Eltern taufen, um ihren Entschluß, Jehovas Willen zu tun, zu symbolisieren.
Ein Heimbibelstudium wurde mit uns Kindern durchgeführt, und von uns vier wurde erwartet, daß wir an den Versammlungen der Christen, die heute Jehovas Zeugen genannt werden, teilnahmen. Wir schlossen uns mit den vereinzelten Glaubensbrüdern aus den Nachbarorten zusammen und führten in den Städten längs der Themse, d. h. in einem Gebiet von etwa 60 km, bis zur Themsemündung hin, öffentliche Vorträge durch. Durch unsere eifrige Verbreitung von Traktaten und Einladungen bildeten sich in dieser Gegend kleine Gruppen, die inzwischen zu blühenden Versammlungen herangewachsen sind.
Im Herbst des Jahres 1916 nahm mein Vater dem Krieg gegenüber eine streng neutrale Stellung ein. Das rief in unserem Städtchen nicht wenig Unruhe hervor, da er sich bis dahin noch politisch betätigt hatte. Es kam zu einem Gerichtsfall, der in der Zeitung bekanntgemacht wurde, und auch wir Kinder mußten unseren Glauben in der Schule verteidigen. Mein Vater wurde schließlich aus Gesundheitsgründen vom Militärdienst befreit, statt dessen aber in den Dienst der Rationierungs-Kommission gestellt.
Unser ländliches Heim bildete ein offenes Haus für unsere ruhebedürftigen Freunde aus der Stadt, aber für mich war nichts so aufregend wie ein Besuch in London und die Teilnahme an einer „großen“ Versammlung. Dort durfte ich mir zum Beispiel das „Photo-Drama der Schöpfung“ ansehen, eine wunderbare Erklärung der Bibel anhand von Lichtbildern, erläuterndem Text und passender Musik auf Schallplatten. Während eines solchen Besuches in London hörten wir auch von dem inzwischen historisch gewordenen Wachtturm-Kongreß, der 1922 in Cedar Point, Ohio, stattfand.
PERSÖNLICHER ENTSCHLUSS
Das Predigtwerk, das nun unter der Parole stand „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!“, war in vollem Gange. Mein ältester Bruder war nach Indien verreist, und meine Schwester hatte sich schon taufen lassen. Ich nahm dies alles für ganz natürlich hin, bis ein reifer christlicher Freund im Jahre 1924 mir meine persönlichen Vorrechte zeigte. Plötzlich wurde mir klar, daß man nicht einfach ganz selbstverständlich im Glauben aufwächst, sondern einen persönlichen Entschluß fassen muß. Konnte ich das tun?
Von Kindheit an hatte ich mich auf das Millennium gefreut, auf die Zeit, da sich Löwe und Bär zusammen mit dem Rind lagern würden und ein Knabe sie treiben würde. Natürlich wollte ich Jehovas Willen tun, aber sein Wille bestand, wie wir es damals verstanden, darin, die letzten Glieder der Braut Christi für das himmlische Leben einzusammeln. Das bedeutete, alle irdischen Hoffnungen aufzugeben und schließlich zu sterben. Meine Eltern rieten mir, die Kosten sorgfältig zu überschlagen. Ich verstand, daß ich, sofern ich treu bliebe, Jehova und Christus Jesus eines Tages von Angesicht zu Angesicht sehen würde. Diese herrliche Hoffnung war für mich entscheidend. Im Januar 1925, kurz bevor ich siebzehn Jahre zählte, ließ ich mich in London taufen.
Der Predigtdienst von Haus zu Haus war für mich eine ständige Anregung und zugleich ein Erziehungsunterricht. Wir wurden in diesem Dienst damals noch nicht so geschult wie heute, aber einige Vollzeitdiener, die uns in unserem Gebiet zu Hilfe kamen, standen mir mit viel gutem Rat bei. Die Wertschätzung für die Wahrheit grub sich immer tiefer in mein Herz ein.
Die Hauptversammlung, die 1926 im Alexandra Palace, London, abgehalten wurde, war ein hervorragendes Ereignis. Ich glaube, ich werde die freudige Erregung nie vergessen, die uns alle ergriff, als das Buch Befreiung freigegeben wurde. Der öffentliche Vortrag in der Royal Albert Hall „Warum wanken die Weltmächte?“ bildete den Höhepunkt dieses Kongresses. Wir kehrten nach Hause zurück und verbreiteten während der letzten Tage unserer Ferien die Broschüre Das Panier für das Volk. Das Buch Befreiung verschlang ich geradezu. Sein erhabenes Thema — die große Streitfrage zwischen Jehova und Satan und die kommende Rechtfertigung des Namens Jehovas — begeisterte mich. Die Wertschätzung für diese Streitfrage wirkte wie Feuer in meinen Gebeinen. Von da an füllte ich jeden Sonnabendnachmittag nach Büroschluß mein Köfferchen und fuhr mit meinem Fahrrad in unser entferntes Landgebiet, um zu predigen. Am Sonntagmorgen schloß ich mich gewöhnlich meinen Eltern und der kleinen Versammlung im Dienst von Haus zu Haus an.
Meine Schwester nahm im Februar 1927 den Vollzeit-Predigtdienst auf, und so verblieben mein Bruder und ich die einzigen Jugendlichen in unserer Versammlung. Die Gegend, in der ich aufwuchs, ist mehr oder weniger flaches Land, das sich bis zur Themsemündung hin ausdehnt, und manchmal stieg in mir das Verlangen auf, zu reisen und schöne Landschaften zu sehen, aber schnell unterdrückte ich dieses Verlangen, indem ich mir sagte, daß die Zeit dieses Systems der Dinge beschränkt sei und ich besser keine Zeit dafür verlöre. Ich würde ja alles vom Himmel aus viel besser sehen! Jehova beachtete mein Verlangen, und zu seiner Zeit segnete er mich mehr, als ich in meinen Träumen je zu hoffen gewagt hätte.
KEINE MISCHEHE
Als heranreifendes Mädchen war ich von impulsiver, enthusiastischer Art, voller Vitalität, aber ich hatte die verschiedenen Phasen der Wachstumsjahre sicher durchstanden. Nun verliebte ich mich sehr. Leider teilte der junge Mann meinen Glauben nicht, und ich erkannte, daß das schon zu den Kosten gehörte, die ich zu zahlen hatte. Ich wußte ebenfalls, daß ich nie völlig auf Jehovas Seite der Streitfrage stehen könnte, wenn ich diese Zuneigung weiter nährte. Ich legte Jehova ein feierliches Gelübde ab, daß ich nie außerhalb des Glaubens heiraten würde. Das war mein großer Schutz. Ich verdrängte diese Liebe aus meinem Herzen. Das kann man tatsächlich, wenn man die Königreichsinteressen an die erste Stelle setzt.
Ein Erlebnis aus jener Zeit blieb klar in meinem Sinn haften, und es diente mir in meinem Leben gleichsam als Leuchtturm. Ich hatte einen sehr ereignisreichen Nachmittag im Dienste auf dem Lande verbracht: Einige Leute benahmen sich sehr grob, aber eine Frau, die krank im Bett lag, bat mich, mit ihr zu beten. Ich dachte dann über die große, von Satan aufgeworfene Streitfrage nach und mein Herz wurde weit, als ich über die Auswirkungen der satanischen Rebellion nachdachte. Als sich die Sonne dem Westen zuneigte, bestieg ich mein Fahrrad zur Heimfahrt. Es war eine lange, ziemlich steile Abfahrt. Ich fuhr im Freilauf und freute mich darüber, wie der Wind um meine Ohren pfiff und meine Haare zerzauste. Ich biß die Zähne zusammen und sagte mir immer wieder: „Ich werde den Teufel bekämpfen, bis ich sterbe!“ In schweren Stunden kam mir diese Abendszene immer wieder in den Sinn, sie wirkte wie ein Stimulans auf mein Gemüt: „Laß deinen Mut nie sinken! Gib es nie auf! Kämpfe auf Jehovas Seite der großen Streitfrage!“
Im Frühling des Jahres 1930 besuchten wir eine Tagung — ich glaube, wir nannten sie damals Bezirksdienstversammlung — in einem Badekurort an der Themse, in der Nähe meines Elternhauses. Viele kamen auch von London, da es sich nur um eine Bahnfahrt von einer Stunde handelte. Es war für mich ein freudiges Erlebnis, da ich wieder mit Bekannten von der jüngeren Generation zusammenkommen konnte. Während wir uns nach dem Predigtdienst am Meeresstrand etwas entspannten, lernte ich einen ernsten, jungen Schweizer kennen. Ich stellte seinen fremden Akzent fest und sagte ihm, daß ich zur Zeit Deutschstunden nähme. Alfred — so hieß er — war freundlich, still und in sein Studium vertieft, aber er schien sich etwas einsam zu fühlen. In unserem Familienkreis, wo man sich fröhlich neckte, kam er sich verloren vor.
Alfreds Herkunft und Erziehung war sehr verschieden von der meinen: Er wuchs in einem freundlichen Schweizerheim auf und nach Beendigung der Sekundarschule und einer kaufmännischen Lehre begab er sich nach Belgien, um sich sprachlich und im Finanzwesen zu vervollkommnen. Bevor er die Schweiz verließ, sah er noch das „Photo-Drama der Schöpfung“ und erhielt damals auch einige Schriften des Wachtturm-Verlages. Während er sich unter den Mitgliedern der Schweizer Kirche in Belgien betätigte, stiegen ihm viele Fragen auf, die ihm sein Pfarrer nicht beantworten konnte. Er erinnerte sich an das Buch Der göttliche Plan der Zeitalter, und während seiner Ferien in der Schweiz verbrachte er viel Zeit beim Studium dieses Buches und anderer Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft. Nach einem Besuch im Büro dieser Organisation in der Schweiz fuhr er nach Belgien zurück und schloß sich einem holländischen Bruder an. Das Werk der Gesellschaft in Belgien war damals noch im Anfangsstadium. Nachdem der berühmte Finanzmann Loewenstein, sein Chef, aus seinem Flugzeug über dem Ärmelkanal zu Tode gestürzt war, wurde Alfred eingeladen, nach London zu gehen, um für einen Schweizer Finanzmann zu arbeiten. Auf diese Weise führten uns die Wege zusammen.
Wir verlebten zusammen ein sehr glückliches, segensreiches Jahr. Im Mai 1931 wurden wir im Londoner Tabernacle getraut und fuhren dann nach der Schweiz. Auf diese Weise machte ich meine erste Bekanntschaft mit diesem schönen Lande, das jetzt meine Heimat ist. Später besuchten wir die Pariser Hauptversammlung, auf der Alfred als Dolmetscher diente. Dort lud uns Bruder Rutherford, der damalige Präsident der Gesellschaft, ein, im Pariser Büro zu arbeiten. Ich sah darin Jehovas Willen, und als mein Mann meine Einstellung dazu erfahren wollte, brauchte ich keine Sekunde Zeit, um mich zu entscheiden. Wir kehrten zunächst nach England zurück, um unser Heim, das wir erst kurz vorher eingerichtet hatten, zu veräußern und uns zusammen auf ein neues Leben vorzubereiten.
LEBEN IN EINEM BETHELHEIM
Im Pariser Büro hatte ich nun zwei Sprachhindernisse zu überwinden: Deutsch im Bethel und Französisch im Predigtdienst. Es war nicht leicht für mich, und ich fühlte mich oft einsam. Dann merkte ich, daß ich Mutter werden würde. Alfred war überaus glücklich, als uns mitgeteilt wurde, daß wir im Betheldienst bleiben dürften. Die Übersetzungsabteilung hatte nämlich viel zu tun, um eine Schar enthusiastischer, fleißiger, englischer und schweizerischer Vollzeitpioniere, die in Frankreich Predigtdienst verrichteten, mit Literatur zu versehen.
Dann wurde das Pariser Bethel von einem schweren Schlag getroffen: Unsere Arbeit hatte den Bischof, der in der Nähe wohnte, beunruhigt, und wir Ausländer mußten innerhalb von ein paar Tagen das Land verlassen. Das bedeutete, daß fünf Bethelbrüder und ungefähr ein Dutzend Pioniere neue Arbeitsgelegenheiten finden mußten, um Jehova weiter dienen zu können. Alfred und ich reisten mit einer amerikanischen Pionierin in die Schweiz.
So kam es, daß unsere Tochter zehn Tage später in der Schweiz geboren wurde. Als sie ein paar Monate alt war, zogen wir ins Berner Bethel und konzentrierten Herz und Sinn darauf, dort auf Jehovas Seite der großen Streitfrage zu dienen. Man denke aber nicht, daß wir von da an nur auf Rosen gebettet gewesen seien. Mein Mann wurde von seiner Arbeit vollständig in Anspruch genommen, es war, als ob — wie man in England sagt — beide Enden der Kerze gebrannt hätten, während ich nicht nur meine Arbeit im Bethel verrichten, sondern noch ein kleines Mädchen aufziehen mußte. Oft widerstrebte mir das geregelte Bethelleben mit seinen strengen Richtlinien, die so sehr im Gegensatz zu meiner sorgenfreien Mädchenzeit standen. Oft war ich verzweifelt und fühlte mich eingeengt wie ein Vogel in seinem Käfig. Manchmal war ich entmutigt, und die Wellen drohten über mir zusammenzuschlagen. Dann aber dachte ich an die große Streitfrage.
Nach und nach lernte ich alle Hausarbeiten verrichten: das Waschen und Bügeln, das Kochen und Flicken. Unsere Bethelfamilie in Bern zählte damals um sechzig Personen. Die Geschäftigkeit, das Kommen und Gehen im Hause unterbrachen die Monotonie der Berge von Tassen und Tellern, die es jeden Tag zu spülen gab, und der nie versiegenden Körbe voll Socken zum Flicken, die wie aus einem bodenlosen Abgrund hervorzukommen schienen!
Die Jahreszeiten kamen und gingen und mit ihnen der Frühjahrsputz, das Konservieren von Früchten und Gemüsen und die Einkellerung bis zur letzten Kiste Äpfel. Ja, ich lernte das Vorrecht sehr schätzen, dieser Familie dienen zu dürfen und einzelne zu pflegen, wenn sie krank waren. Auch lernte ich die tapferen Frauen schätzen und lieben, mit denen ich zusammenarbeitete. So vergingen die ersten zehn Jahre.
KRIEGSJAHRE
Eine Begebenheit aus dieser Zeit kann ich nie vergessen. Alfred war nach der Tschechoslowakei gesandt worden, um sich dort der Interessen unserer Brüder anzunehmen. Die Deutschen waren gerade im Begriff ins Sudetenland einzumarschieren. Während die deutschen Truppen vordrangen und viele der Einheimischen vor ihnen flüchteten, reiste mein Mann ihnen entgegen. Meine kleine Tochter befand sich vor ihrem Eintritt in die Schule bei den Großeltern in England, von wo ich sie später zurückholen sollte. Der Krieg stand sozusagen vor der Tür, und unsere kleine Familie war in drei Ländern verstreut. Dann kam Chamberlain mit seinem Regenschirm; Hitler besänftigte sich für kurze Zeit, und der Krieg wurde verhütet. Unsere Familie war wieder heil beisammen.
Aber der Krieg war unvermeidlich. Ich war gerade wegen einer Operation im Krankenhaus, als sich Frankreich Deutschland ergab. Ich war kaum wieder zu Hause, als das Berner Bethel von den Militärbehörden besetzt und durchsucht wurde. Daraufhin wurde gegen die Gesellschaft ein Gerichtsverfahren eingeleitet und mein Mann auf Grund der Neutralitätsfrage zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Unsere Bethelfamilie schrumpfte auf etwa 30 Mitarbeiter zusammen. Ich kochte eine Zeitlang für sie. Alfred kehrte gerade noch rechtzeitig aus der Strafanstalt zurück, um einem Kongreß in Zürich beizuwohnen, auf dem sich unsere Tochter taufen ließ und damit ihre Hingabe an Jehova und ihre Stellungnahme auf seiner Seite in der Streitfrage zu symbolisieren.
Das Kriegsende war in Sicht. Während die Deutschen zurückgedrängt wurden, trafen bereits Berichte ein aus Ländern, die früher unter der Verwaltung des zentraleuropäischen Zweigbüros der Gesellschaft gestanden hatten, und diese Berichte mußten übersetzt werden. Ich wurde in diese neue Sphäre der Tätigkeit hineingezogen und packte diese Arbeit mit großer Freude an. Der Krieg ging zu Ende und die beglückendste Phase der theokratischen Tätigkeit begann für uns. Kaum waren unsere Grenzen geöffnet, kam Bruder Knorr, der neue Präsident der Gesellschaft, begleitet von seinem Sekretär, Bruder Henschel, zu uns auf Besuch. Die Brüder brachten uns die neuesten Berichte aus anderen Teilen der Welt.
REISEN
Für meinen Mann begann nun der interessanteste, aber auch bewegteste Abschnitt seines Lebens. Als Dolmetscher durfte er Bruder Knorr auf seinen Reisen in verschiedene Länder begleiten, wo er liebe Freunde wiedersah und erfahren konnte, wie sie diese furchtbaren Kriegsjahre überstanden hatten. Unsere Druckerei war jetzt emsig damit beschäftigt, die Herstellung der neuesten Publikationen nachzuholen, und unsere Familie nahm wieder zu. Im Jahre 1946 fuhren die ersten Delegierten nach Amerika zum Kongreß in Cleveland und besuchten anschließend daran die Wachtturm-Bibelschule Gilead. Ich hatte kaum gehofft, eines Tages selbst in diese Schule gehen zu dürfen, und war dann höchst erfreut, als Bruder Knorr uns mit unserer Tochter nach Gilead einlud. Im Januar 1950 reisten wir nach New York, um die 15. Klasse der Gileadschule zu absolvieren. Das Ganze war eine wunderbare Erfahrung. Unsere dreiköpfige Familie graduierte im Yankee Stadion zu Beginn des Kongresses 1950. Alfred und ich kehrten ins Berner Bethel zurück, während unsere Tochter nach Italien gesandt wurde, um sich den Königreichspredigern dort anzuschließen.
Die kurze Friedensatempause, welche die Ostländer nach der Befreiung von den Nazis genießen durften, ging mit dem Überhandnehmen des Kommunismus, der unser Werk in jenen Ländern lahmlegte, zu Ende. Die Reisen meines Mannes wurden seltener und gefahrvoller. Dieses Jahrzehnt brachte immer mehr Arbeit im Dienst für unsere Brüder, unterbrochen von einer großartigen internationalen Versammlung nach der anderen in verschiedenen Ländern. Auf dem großen New Yorker Kongreß im Jahre 1958 konnte Alfred einen Bericht über das Werk hinter dem Eisernen Vorhang geben. Das Abspielen einer Tonbandaufnahme mit Königreichsliedern, gesungen von unseren Brüdern in diesem Teil der Welt, gab diesem Bericht einen würdigen Rahmen.
Im Jahre 1956 erfuhr mein Leben eine wichtige Änderung, als die Übersetzungsabteilung für die deutsche Sprache aus Rationalisierungsgründen nach Wiesbaden verlegt wurde. Sozusagen über Nacht waren meine lieben Mitarbeiter weg und damit auch meine kostbare Arbeit. Aber im Bethel bleiben keine Hände leer. Schnell wurde ich mit der Zeitschriftenabteilung vertraut gemacht, wo ich tiefe Befriedigung im Dienst an meinen Brüdern empfand. Auch hier verspüre ich zu meiner stetigen Bewunderung und Freude den Pulsschlag des Predigtwerkes, das die ganze Erde umspannt.
HERZELEID
Alfreds Widerstandskraft schien durch die fortwährende geistige und körperliche Beanspruchung nachzulassen. Zu seinem bereits schlechten Gesundheitszustand gesellte sich im Frühjahr 1959, kurz vor einer wichtigen Reise, noch eine Grippe, von der er nicht vollständig genas. Nach der Rückkehr von seiner Reise schien er sehr ermüdet und still, jedoch befriedigt zu sein. Wir waren glücklich, Ende April eine Kreisversammlung miteinander besuchen zu dürfen. Es war noch nicht sehr spät, als wir heimkehrten, und so genossen wir in unserem „Schloß“ — wie Alfred unser Heim zu nennen pflegte — noch das seltene Glück einer stillen Stunde.
Ich bereitete ein kleines Nachtessen zu, und während wir es einnahmen, zog Alfred sein Notizbuch hervor und notierte darin die verschiedenen Ereignisse der nahen Zukunft, unter anderem auch Bruder Knorrs nächsten Besuch. Wir unterhielten uns darüber in freudiger Erwartung. Diese Daten überblickend, kamen spontan die Worte über meine Lippen: „Was auch immer die Zukunft uns bringen mag, Alfred, wir haben schöne, wertvolle Jahre des Dienstes zusammen verbracht, nicht wahr?“ Mit tiefer Dankbarkeit behalte ich diese letzten stillen Momente in kostbarer Erinnerung, denn in der nächsten Nacht wurde er krank und starb ein paar Stunden später an einer Herzkrise — völlig aufgebraucht in treuem Dienste! Völlig erschüttert und von Trauer überwältigt, sank ich an seinem Bett auf die Knie und gab meiner festen Überzeugung Ausdruck: „Mein Liebster, ich weiß, daß du eine frühe Auferstehung erfahren wirst!“ Einige Monate später starb auch meine Mutter. So mußte ich erfahren, welch grausamer Feind der Tod für den Menschen ist!
Während der nun folgenden Wochen und Monate, ging ich weiter meinen vielen Pflichten nach, aber ich arbeitete manchmal mehr wie ein Automat, sonderbar unbeteiligt und abwesend, doch dennoch stets auf Jehova als meinen Turm der Stärke schauend. Ich lebte inmitten der geliebten Bethelfamilie und erfuhr ihre Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Anderen zu dienen ist das beste Heilmittel. Ja, langsam heilen die Wunden. Die Lücke jedoch bleibt, aber ich lerne mich mit den Tatsachen abfinden. Jehovas Namen zu lobsingen ist unser großer Schutz, wenn die Wogen der Trauer uns zu überwältigen drohen.
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Nun bin ich Großmama und mein Haar ist weiß geworden. Wie tröstlich ist es für mich, wenn ich meinen Enkel sehe und er ruft: „Großmama, komm und erzähl mir eine Geschichte aus der Bibel!“
Viele sind in den 30 Jahren, in denen ich zu dieser Bethelfamilie gehören durfte, gekommen und wieder gegangen, und ich habe sie alle liebgehabt. In diesem Schwarm von geschäftigen Arbeitern, deren Leben durch das Erklingen einer Glocke geregelt wird, lernt man, die individuellen Eigenschaften eines jeden zu berücksichtigen, allen ein Freund zu sein, aber mit den einzelnen nicht zu vertraut zu werden, sich unparteiisch und anpassungsfähig zu zeigen und das bißchen Privatleben zu respektieren, das jeder zu genießen wünscht. Ja, der Betheldienst ist ein inhaltsvolles, segensreiches Leben.
Am Ende meiner Geschichte angelangt, erhalte ich von einer lieben Freundin aus Kalifornien ein Briefchen mit der Einladung, sie auf der nun bald beginnenden Kongreß-Weltreise zu begleiten. Ich beuge mein Haupt in tiefer Dankbarkeit für diese unverdiente Güte Jehovas, unseres Gottes, der uns „über die Maßen mehr“ segnet, „als was wir erbitten oder erdenken“ können. In meinem Herzen glüht dieselbe lebendige Hoffnung, die vor vielen Jahren für mich entscheidend war: Jehova und Christus Jesus zu sehen und einen Anteil zu haben an der Rechtfertigung des Namens Jehovas! Mit Wertschätzung erhebe ich meine Stimme gemeinsam mit der großen Zahl von Lobpreisern, voll Vertrauen in den siegreichen Ausgang der großen Streitfrage.