Aus der Finsternis zum Licht
Von Wenzel Kuhn erzählt
„AUS der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht“ — diese Worte eines Apostels Jesu Christi, die wir in 1. Petrus 2:9 lesen, bedeuten mir sehr viel. Aus der Finsternis dieses Systems der Dinge herauszukommen und zum Licht der Wahrheit des Wortes Gottes zu gelangen war für mich jedoch kein Sonntagnachmittagsspaziergang.
Als Kind armer Eltern, noch vor der Jahrhundertwende zur Welt gekommen, erfreute ich mich einer verhältnismäßig glücklichen Jugend. Ich wuchs in einem kleinen Dörfchen im östlichen Zipfel des Böhmerlandes auf. Ich war noch nicht ganz fünf Jahre alt, als mein Vater starb. Schon früh in meiner Jugend suchte ich über Dinge nachzudenken, die mit dem Glauben an Gott zusammenhingen.
Für meine Betrachtungen war ein Wallfahrtsort, den ich öfter besuchte, gut geeignet. Dort sah ich Dinge, die mich zum Nachdenken veranlaßten: alte Krücken, Brillen und Ähnliches mehr war da aufgehängt, Dinge, die Leute dorthin gebracht hatten, die auf übernatürliche Weise plötzlich gesund geworden sein sollen. „Mutter, kommt das heute auch noch vor, daß jemand so plötzlich geheilt wird?“ fragte ich einmal. „Wahrscheinlich schon“, antwortete sie etwas zögernd, aber sie konnte mir keinen bestimmten Fall nennen. Meine Aufmerksamkeit wurde öfters auch auf die Prozessionen gelenkt, die von nah und fern nach diesem Wallfahrtsort zogen und bei denen die Teilnehmer laut den Rosenkranz oder irgendwelche Litaneien beteten. Manchmal führten sie auch ein Bildnis der Maria mit, das auf einem Holzgestell befestigt war und von vier Männern getragen wurde.
Meine Mutter nahm mich aber auch noch zu anderen Wallfahrtsorten in der weiteren Umgebung mit. Was mir da bei meinen „Studien“ vor allem auffiel, war namentlich die Kleidung auf den Bildnissen Jesu und der Apostel, die so merkwürdig verschieden war im Vergleich zu der prunkvollen Kleidung der Bischöfe und Päpste. Jesus und die Apostel waren stets so gekleidet wie das gewöhnliche Volk. „Warum war denn Jesus niemals in so schönem Priesterornat zu sehen? Er und seine Apostel hätten doch am ehesten solche Prachtkleider verdient“, dachte ich mir, „dabei waren sie ganz gewöhnlich gekleidet. Woher überhaupt dieser auffallende Kleiderwechsel?“ Weiter kam ich bei meinen Betrachtungen nicht; ich stand vor einem für mich unlösbaren Rätsel. Ich wußte damals nicht einmal, daß es überhaupt die Bibel gibt.
Ich war bereits zwölf Jahre alt, als der Pfarrer eines Tages ein Buch mit schwarzen Deckeln in den Religionsunterricht mitbrachte und sagte, das sei die Heilige Schrift; darin ständen Prophezeiungen. „Wohl nur ein Buch für Geistliche“, dachte ich mir.
Als ich mit 14 Jahren aus der Schule entlassen wurde, wählte ich einen Beruf, der mich nicht an der heimatlichen Scholle festhielt, sondern etwas von der Welt sehen ließ. Ich fuhr von Böhmen nach dem österreichischen Tirol und ein Jahr später (1914) in die Schweiz. Erst hier lernte ich im Spätsommer dieses Jahres die Zeugen Jehovas kennen und durch sie die Bibel!
DIE WAHRHEIT BEGINNT MIR ZU LEUCHTEN
Kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz fand ich im Anzeiger für die Stadt Bern unter der Rubrik „Predigtordnung“ eine große Anzahl Glaubensgemeinschaften, deren Gottesdienste man besuchen konnte. Ich besuchte einige. Aber was ich zu hören bekam, gefiel mir nicht. Da sah ich mir diese „Predigtordnung“ nochmals etwas genauer an und fand fast ganz zuletzt eine Gemeinschaft, die sich „Vereinigung Ernster Bibelforscher“ nannte. Bibel? Das Wort hatte ich doch schon einmal gehört — ja, damals in der Schule. „Was für ein Buch ist das eigentlich, die Bibel?“ fragte ich mich. „Das muß ich doch wissen.“ Ich besuchte darauf die Zusammenkünfte der „Bibelforscher“ einmal, zweimal, ja ich ging immer wieder hin. Was ich da hörte, erregte meine größte Verwunderung. Die Bibel ist das Wort Gottes, Gottes Offenbarung an die Menschen, durch die er ihnen sein Vorhaben kundtut!
Was für ein beglückendes Gefühl ich damals empfand, als ich meine erste Bibel in der Hand hielt, kann ich kaum beschreiben. Ihr Inhalt nahm mich ganz gefangen. Der Erste Weltkrieg hatte eben rings um die Grenzen dieses Landes herum zu toben begonnen, und die „Bibelforscher“, wie sich die Zeugen Jehovas damals noch nannten, zeigten mir in ihren Büchern, daß dieses Ereignis den Beginn der Zeit des Endes des bösen Systems der Dinge bedeute. Die chronologischen Beweise, die diese Schriften dafür boten, fesselten mich. „Ist es wirklich möglich, daß jemand durch die Bibel solche Ereignisse voraussehen konnte?“ überlegte ich mir. Die Beweise dafür hatte ich ja in der Hand. „Nur hier kann ich noch mehr über diesen großen Gott erfahren“, dachte ich, und ich hatte mich nicht getäuscht. Ich erlebte eine Überraschung nach der anderen. Ich lernte, daß Gott einen besonderen Namen hat, „Jehova“, einen Namen, den ich bisher noch nie gehört hatte.
In den ersten paar Monaten, nachdem ich mit diesen biblischen Wahrheiten bekannt geworden war, hatte ich große Mühe, mich aus meiner geistigen Finsternis herauszuarbeiten, um zu einer bestimmten und klaren Überzeugung zu gelangen. Ich ging sonntags noch weiter zur Kirche, wie mich meine Mutter es gelehrt hatte. Während aber der Priester die Messe las, zog ich meine Bibel aus der Tasche, die ich mir statt des Gebetbuches mitgenommen hatte, und las darin. Doch bald wurde mir bewußt, daß das auf die Dauer nicht so weitergehen konnte. Nach einer nochmaligen Überprüfung der ganzen Sachlage beschloß ich, aus der Finsternis zum Licht des Wortes Gottes, der Bibel, zu kommen.
VERÄNGSTIGTE MUTTERLIEBE SUCHT EINZUGREIFEN
Daß ich über die großartigen Wahrheiten, die ich im Laufe der Zeit immer klarer erkannte, nicht schweigen konnte, war nur natürlich. Voll Freude schrieb ich auch meiner Mutter darüber. Doch sie teilte meine Begeisterung ganz und gar nicht, sie zeigte sich vielmehr sehr beunruhigt. „Du bist ja direkt auf dem Weg zur Hölle“, und noch vieles Ähnliches schrieb sie mir zurück. Als sie aber sah, daß ihre Warnungen und Drohungen erfolglos blieben, wandte sie sich schriftlich hier an die Pfarrei in Bern, damit diese sich meiner annehmen möchte. Einer der Geistlichen ließ mich zu sich kommen, und ich hatte dreimal eine längere Unterredung mit ihm. „Was haben Sie gegen die Kirche, daß Sie sich von ihr abwenden wollen?“ wurde ich gefragt. „Sie lehrt nicht, was Gottes Wort sagt“, war meine Antwort, und ich führte als Beispiel die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele an. Bei all diesen Unterredungen gelang es dem Pfarrer nicht, mich von dieser Lehre zu überzeugen. Als Folge davon konnte ich das Licht der Wahrheit des Wortes Gottes nur noch klarer sehen, das nach Hesekiel 18:4 sagt: „Die Seele, welche sündigt, die soll sterben.“ Mit dieser unumstößlichen Wahrheit fielen für mich die Lehren von der ewigen Qual, dem Fegefeuer, der Gebete für die Toten usw. wie ein Kartenhaus zusammen. Ich trat aus der Kirche aus.
Als meine Mutter sah, daß mich der Pfarrherr nicht zur „Umkehr“ hatte bewegen können, schrieb sie mir, es hätte sie weniger geschmerzt, wenn ich in den Krieg gezogen und gefallen wäre, als daß ich zu einem anderen Glauben übergetreten sei. Ein andermal sandte sie mir von sich ein Photo, auf dem sie ihr Gesicht ganz mit Tinte überdeckt hatte. Damit wollte sie sagen: „Ich schäme mich wegen dir, ich mag dich nicht mehr sehen!“ Daß ihr damit ernst war, zeigte sie mir später noch. Im Jahre 1928 vereinbarten wir eine Zusammenkunft in Österreich — das erste Wiedersehen nach 15 Jahren. Als ich in den Raum trat, wo ich sie treffen sollte, bemerkte ich gerade noch, wie sie sich schnell hinter Möbel versteckte. Ich begrüßte zuerst die anderen Anwesenden und sprach mit ihnen über die Reise und wartete ruhig, bis sie wieder hervorkam. Später nahm ich sie mit in die Schweiz, um sie zwei Wochen in meiner Nähe zu haben. Wir hatten einige interessante Wortgefechte. Aber sie verstummte immer wieder, wenn ich sagte: „Was die Heilige Schrift sagt, ist für mich maßgebend.“
Als meine Mutter sah, daß sie die Wahrheit des Wortes Gottes nicht überwinden konnte, gebrauchte sie ihre letzte Waffe: Tränen! Ihre Worte waren nicht selten mit viel Tränen begleitet. Das war freilich nicht immer leicht mitanzusehen, aber ich konnte nicht zulassen, daß Tränen meine Liebe zu Gottes Wort wegschwemmten, wodurch ich des wunderbaren Lichts der Wahrheit wieder beraubt worden wäre. Nach einer anderen Auseinandersetzung, als sie wieder einmal sehen mußte, daß alle ihre Bemühungen fruchtlos blieben, sagte sie unter Tränen: „Ach, hätte ich dich doch nie zur Welt gebracht!“ „Du bist hart wie Stein“, war ihr letztes Wort in diesem Gespräch. Tränen sah ich von da an keine mehr.
BETHELDIENST UND KONGRESSE
Nachdem ich zu Gottes wunderbarem Licht der Wahrheit berufen worden war, beschloß ich, meinen Beruf aufzugeben und als Vollzeitdiener das Reich Gottes zu verkünden. Ich meldete mich zu diesem Dienst. „Du könntest eigentlich ins Bibelhaus kommen, wir haben hier genug Arbeit für dich“, wurde mir gesagt. Damals war in Bern bereits ein Zweigbüro, das man zu jener Zeit noch „Bibelhaus“ nannte. So wurde ich ein Glied dieser Institution und lernte eine Setzmaschine bedienen.
Im Jahre 1935 hatte ich die Freude, mit einigen Brüdern zusammen nach Amerika zum Kongreß in Washington, D. C., fahren zu dürfen. Ich hatte bisher noch nie eine so große Zahl wahrheitsliebende Menschen beisammengesehen wie damals in Washington — 9000! Ich durfte mitanhören, wie dort erstmals bekanntgegeben wurde, daß die „große Volksmenge“, von der in Offenbarung 7:9-17 die Rede ist, nicht eine himmlische Klasse von untergeordnetem Rang sei, sondern eine irdische Klasse von treuen Menschen, die unter Gottes Königreich auf der Erde leben werden. Diese „neue Wahrheit“ erinnerte mich an eine Begebenheit, die zehn Jahre zurücklag. Damals hatte nämlich schon jemand, der sich zu den Zeugen Jehovas zählte, ähnliche Gedanken aus eigener Überlegung heraus geäußert und verbreitet. Aber wo war er jetzt? Verschwunden in der Senkgrube der Vergessenheit! Das lehrte mich, zu warten und nicht vorgreifen zu wollen, auch dann nicht, wenn man glaubt, etwas besser zu verstehen, als es Gottes Organisation im Augenblick lehrt.
Im Jahre 1953 wurde mir ermöglicht, den Kongreß im Yankee-Stadion in New York zu besuchen. Solche Zusammenkünfte scheinen mir Beweise der göttlichen Gunst zu sein. Sie führen einem stets wieder vor Augen, welch erstaunliche Organisation des Lichts Jehova auf der Erde hat, die die „Speise zur rechten Zeit“ austeilt. — Matth. 24:45.
Bestimmt ist die Arbeit in einem Bethel, wo solche „Speise zur rechten Zeit“ zubereitet und herausgegeben wird, ein sehr gesegnetes Vorrecht, denn sie bringt eine Befriedigung mit sich, die man von keiner weltlichen Beschäftigung hat. Ich bin Gott sehr dankbar dafür, daß er mich aus der geistigen Finsternis zu seinem herrlichen Licht gerufen hat.
(Bruder Kuhn, der den „Preis der Berufung Gottes nach oben“ anstrebte, von dem in Philipper 3:14 (NW) die Rede ist, versah seinen Dienst im Bethel in Bern bis zu seinem Tod, am 5. Oktober 1963, treu, obgleich er in den letzten Jahren krank war.)