Die Königreichsinteressen an die erste Stelle setzen
Erzählt von Helene Hartstang
ICH wurde im Jahre 1902 in Dresden, Deutschland, geboren. Gottesfürchtige Eltern erzogen meine drei Geschwister und mich und nahmen uns regelmäßig mit in die Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas, damals noch als Bibelforscher bekannt. Ich kann mich an das lebhafte Interesse erinnern, das herrschte, als der erste Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society, Charles T. Russell, unsere Stadt besuchte und zu einer großen Menge sprach. Nachdem ich im Elternhaus eine gute Schulung in biblischen Kenntnissen empfangen und Wertschätzung für den Schöpfer erlangt hatte, gab ich im Alter von fünfzehn Jahren mein Leben Jehova Gott hin und brachte diese Hingabe durch Untertauchen im Wasser zum Ausdruck.
Mit dem Vertrauen, daß Jehovas Kraft meine eigenen Bedürfnisse ausgleichen würde, verließ ich mein gemütliches Zuhause und begann einen Lebensweg zu gehen, auf dem ich meine ganze Zeit den Königreichsinteressen widmete. Ich wurde einer Gruppe von Missionaren zugeteilt, die nach Amsterdam, Niederlande, geschickt wurde. Bei der Bearbeitung unseres Gebiets kamen wir in das katholische Dorf Volendam. Dort verbreiteten wir am ersten Tag so viel Literatur im Predigtdienst, daß unsere Vorräte bereits erschöpft waren. Am nächsten Tag kehrten wir mit großen Hoffnungen zurück. Sehr bald näherte sich mir ein Beamter, der fragte, ob ich Drucksachen in meiner Tasche trage. Ich antwortete ihm „Ja“ und sprach dabei englisch, etwas, was ich nie zuvor getan hatte, und er ließ mich weitergehen. Als ich den Dienst beendet und mich mit den anderen am Rande des Dorfes getroffen hatte, erfuhr ich, daß die Leute sie mit Messern bedroht hatten, um sie zu vertreiben. Sie waren über mein Verbleiben besorgt gewesen.
MEIN LEBENSGEFÄHRTE
Im Jahre 1934 wurde ich ein Mitarbeiter im Amsterdamer Zweigbüro der Watch Tower Society. Ich, Helene Micklich, hatte mich oft nach einem guten Gefährten gesehnt, der sein Leben mit mir teilen wollte, jemand, der wie ich immer die Königreichsinteressen an die erste Stelle setzen wollte. Stell dir meine große Freude vor, als Fritz Hartstang mich als seine Frau erwählte. Zu jener Zeit stand er im Vollzeit-Missionarwerk, das er vom Zweigbüro aus durchführte. 1936, das Jahr, in dem wir heirateten, war der Beginn vieler Jahre gemeinsamen Glücks in Jehovas Dienst.
Fritz war von Kindheit an sehr an der Bibel interessiert. Im Alter von fünfzehn Jahren wurde die Jugendvereinigung der evangelisch-lutherischen Kirche, von der er ein Mitglied war, eingeladen, eine Reihe von Ansprachen zu hören, in denen man erwartete, daß die „Bibelforscher“ bloßgestellt würden. Als am letzten Tag der Serie der Vertreter der Bibelforscher nicht mehr als fünfzehn Minuten brauchte, um alles, was an den sechs vorhergehenden Tagen gesagt worden war, zu widerlegen, war Fritz so beeindruckt, daß er zu studieren begann und bald seine Entscheidung, die lutherische Kirche zu verlassen, bekanntgab.
Er begann seine Tätigkeit mit der Verbreitung der Zeitschrift Das Goldene Zeitalter, die jetzt als Erwachet! bekannt ist. Bald hatte er eine Route mit ungefähr hundert Lesern, denen er per Fahrrad jede Ausgabe lieferte. Während eines Kongresses hatte er Gelegenheit, das Büro der Gesellschaft in Magdeburg zu besuchen, und begann den Wunsch zu nähren, eines Tages dort dienen zu dürfen. Wirklich, einige Jahre später erhielt er eine Einladung, ein Mitarbeiter zu werden. Seine Zuteilung war, die Schneidmesser in der Druckerei zu schärfen.
Als eine Verminderung in der Zahl der Mitarbeiter im Zweigbüro der Gesellschaft einigen Gliedern die Möglichkeit schuf, den Vollzeitmissionardienst in Auslandsgebieten aufzunehmen, wurden Fritz und ein Gefährte Paris zugeteilt. Zunächst gingen sie nach St-Denis, nicht weit von Paris, und dann nach Saargemünd. Es waren anstrengende Tage, denn man mußte die französische Sprache studieren und gebrauchen und sich einer neuen Umgebung und neuen Bräuchen anpassen. Als Fritz’ Partner später heiratete, wurde Fritz nach Montmorency geschickt.
Während Hitler seine Macht in Deutschland festigte und die Verfolgung der Zeugen anfing, zogen im Laufe der 1930er Jahre mehrere Brüder von Deutschland in die Niederlande. Auch Fritz erhielt schließlich eine Zuteilung, in Tilburg, einer Hochburg des Katholizismus in der Provinz Nordbrabant, zu dienen. Die Gruppe von acht Pionier-Missionaren, mit denen er zusammenarbeitete, leistete in nur zwei Jahren solch ausgezeichnete Arbeit, daß die Geistlichkeit des Ortes Unruhe heraufbeschwörte und ihren ganzen Einfluß benutzte, um die Predigttätigkeit stillzulegen. Man drohte, das Pionierheim in Brand zu stecken, und die Polizei erklärte, daß sie für die Sicherheit der Gruppe vor Pöbelangriffen nicht garantieren könne. So zogen die Brüder nach Leersum um.
Otto, Fritz’ jüngster Bruder, kehrte zu Hause in Deutschland dem Luthertum den Rücken und begann, sich am Predigen der biblischen Botschaft vom Königreich zu beteiligen. Das führte zu seiner Festnahme und späteren Haft im Konzentrationslager Esterwegen. Nach seiner Freilassung schloß er sich Fritz in den Niederlanden an. Zwei Jahre später nahm Otto im Interesse der Untergrund-Predigttätigkeit der Zeugen Jehovas eine Zuteilung der Gesellschaft an, als Kurier zu dienen. Er wurde verraten und ein zweites Mal verhaftet. Der Gestapobeamte, der ihn einlieferte, sagte: „Wir werden deinen Bruder Fritz auch noch bekommen.“
Gegen Ende des Jahres 1933 wurde Fritz dem Pionierheim in Heemstede zugeteilt, wo auch die Glieder des Zweigbüros oder die Bethelfamilie untergebracht waren. Mit einer Gruppe von dreizehn weiteren Pionieren predigte er in der weiten Umgebung und fuhr oft bis fünfzig Kilometer Rad, um Nachbesuche bei interessierten Personen durchzuführen und Heimbibelstudien einzurichten. Bei unfreundlichem Wetter beschäftigte er sich fleißig damit, im Keller die Schuhe der anderen Pioniere zu reparieren, indem er alte Autoreifen für Schuhsohlen und Absätze verwertete. Die Gruppe kaufte ein billiges Fahrzeug, um weit entlegene Gebiete bearbeiten zu können, und wohnte dort bei ihren Besuchen vier bis acht Wochen in Zelten, damit die Reisekosten niedrig gehalten wurden.
Nach unserer Heirat im Jahre 1936 wurde Fritz dem Kreisdienst zugeteilt. Er besuchte die ihm zugeteilten Versammlungen und half ihnen, den Predigtdienst besser zu organisieren. Er arbeitete weiterhin vom Bethelheim aus. Damals standen die Dinge in den Niederlanden immer noch in kleinen Anfängen. Beispielsweise wohnten einem Kongreß in Nimwegen insgesamt 123 Brüder aus dem ganzen Land bei. Trotz der Beschwerden und Schrecken, die in der deutschen Invasion von 1940 gipfelten, arbeiteten wir jedoch unerschrocken weiter.
IN UNRUHVOLLER ZEIT
Die holländische Regierung internierte alle deutschen Männer, Fritz eingeschlossen, als mögliche Spione und setzte sie kurz vor der Übernahme durch die Nazis auf freien Fuß. Dann wurden unsere Brüder von der Gestapo gejagt. Eines Tages drang sie ins Bethelheim ein, und als ich ungefähr um 9 Uhr hinunterkam, sah ich drei fremde Männer, die sich mit dem Bürodiener im Flur unterhielten. Ich kam irgendwie an ihnen vorbei, ergriff hastig mein Fahrrad und eilte in unsere mehr als 900 Meter entfernte Druckerei im benachbarten Stadtteil Haarlem, um die „ausländischen“ Brüder und Schwestern zu warnen. Die Nazis kamen bald an, in der Hoffnung, einen großen Fang zu machen; das verfolgte Wild war jedoch bereits in alle Winkel des Landes geflohen und verschwunden.
Bei der weiteren Durchführung des Predigtwerkes unter großen Schwierigkeiten gab es manche Verluste. Einige Brüder wurden verraten und in Konzentrationslager geschleppt. Fritz wurde heimlich nach Belgien gesandt, um sich dort der Königreichsinteressen anzunehmen. Ungefähr sechs Monate später folgte ich ihm. Die meiste Zeit lebten wir wie gehetztes Wild, denn der Feind hatte durch einen beschlagnahmten Brief erfahren, wo wir uns ungefähr aufhielten. Mit großen Photoaufnahmen von uns, die sie bei sich hatten, suchten sie überall, aber irgendwie wurden wir sicher bewahrt. Der Chef der Gestapo in Belgien, der Fritz eine Falle legen wollte, saß eines Tages am Fenster seiner Wohnung und hörte das Dröhnen von Flugzeugen. Weil er sie für deutsche Flugzeuge hielt, ergriff er keine Vorsichtsmaßnahmen und wurde im Maschinengewehrfeuer tödlich getroffen. Wie es nun einmal so geht, waren die Flugzeuge aus England.
Oftmals hatten wir starke Beweise dafür, daß sich Jehovas Engel um uns lagerten, um uns zu schützen. Bei einer Gelegenheit fuhr Fritz mit der Straßenbahn nach Hause. Ein Gedanke fuhr ihm durch den Kopf: „Ich muß eine Haltestelle früher aussteigen.“ Die nächste Haltestelle war die Endstation dieser Linie. Bei seiner Ankunft waren wir alle vor Angst kreidebleich, und er wunderte sich warum. An der Endhaltestelle waren alle Fahrgäste von der Gestapo untersucht worden. Ein anderes Mal fand in der Wohnung einer Schwester eine Besprechung zwischen Fritz als Zweigdiener, drei Kreisdienern, dem Versammlungsaufseher von Antwerpen und einem anderen Bruder statt. Die Schwester wohnte alleine im Erdgeschoß. Während der Besprechung klingelte es, und wer stand dort? Drei Gestapobeamte! Sie erkundigten sich nach einem Juden und seinem Sohn, von denen man annahm, daß sie im ersten Stock wohnen würden. Die Schwester erzählte ihnen, daß die Juden beim Ausbruch des Krieges geflohen waren. Einer der Beamten stand daraufhin Wache am Eingang, während die anderen beiden jeden Winkel der oberen Stockwerke und des Dachbodens durchstöberten. Die Brüder beteten, daß Jehova die Augen der Feinde mit Blindheit schlagen möge. Wären sie entdeckt worden, hätte das bedeutet, daß alle maßgebenden Aufseher Belgiens mit einem einzigen Schlag gefangengenommen worden wären. Aber Jehova ließ das nicht zu. Die Gestapo ging fort, und das taten auch die Brüder, einer nach dem anderen, um nie wieder in das Haus zurückzukehren. Unerwartet kehrte die Gestapo zwei Wochen später wirklich zurück, und diesmal durchsuchte sie das ganze Gebäude sowie den dazu gehörigen Grund und Boden ohne Erfolg, obwohl noch einige Dokumente der Gesellschaft dort versteckt waren.
In jenen Tagen hatten wir echten Glauben und Mut nötig, und Jehova sorgte dafür durch die Spalten des Wachtturms, der seinen Weg zu uns über die Schweiz und Frankreich fand, wo er in die vielen Sprachen Europas übersetzt wurde und dann von vertrauenswürdigen Kurieren in alle Teile Europas gebracht wurde. Wie David vor alters konnten auch wir sagen, daß uns an nichts mangelte.
Nach dem Krieg besuchten uns der Präsident der Watch Tower Society, N. H. Knorr, und sein Sekretär, M. G. Henschel, und halfen uns, die Predigttätigkeit neu zu organisieren. Bald jedoch, im Jahre 1947, mußten wir das Land, das uns so lieb geworden war, verlassen. Belgien wies deutsche Staatsangehörige aus. So kehrten wir in die Niederlande zurück. Unsere Dienstvorrechte waren bei weitem nicht vorbei. Bruder Knorr lud uns ein, die 16. Klasse der Wachtturm-Bibelschule Gilead und den besonderen, von der Gesellschaft vorbereiteten Missionarschulkurs für Fortgeschrittene zu besuchen. Nie im Leben werde ich die Freude und die Liebe der Brüder dort vergessen. Obwohl der Kurs nicht leicht war, war es eine gesegnete Zeit der Gemeinschaft und des Studiums mit unseren Brüdern aus den verschiedenen Erdteilen. Im Jahre 1951 kehrten wir mit dem Schiff in die Niederlande zurück, um den Betheldienst dort wiederaufzunehmen.
FREUDIG TROTZ LEIDEN
Am Tage nach unserer Rückkehr erkrankte Fritz ernsthaft und mußte sich einer Nierenoperation unterziehen. Obwohl andere Krankheiten folgten und ihn weiter schwächten, brachte er es doch fertig, zehn weitere Jahre seinen Dienst im Zweigbüro und in der örtlichen Versammlung auszuführen. Außerdem hatte er die große Freude, zwei internationale Kongresse der Zeugen Jehovas in den Vereinigten Staaten zu besuchen. Das letzte Mal war es 1958, als er bevorrechtet war, einen kleinen Anteil am Programm im Yankee-Stadion zu haben. Ich erhielt das Vorrecht, ihn bei dieser Gelegenheit zu begleiten. Im Jahre 1962 mußte er sich einer Magenoperation unterziehen, und von da an wurde er immer schwächer. Dennoch diente er nur wenige Monate nach der Operation als Vorsitzender eines Kongresses in Tilburg, wo er vor dreißig Jahren sein Missionarwerk in den Niederlanden begonnen hatte. In einem neu errichteten Stadion, nur etwa 180 Meter vom ehemaligen Pionierheim entfernt, hatte er die Freude, auf der ersten der vier Bezirksversammlungen in jenem Jahr zu sprechen. Mehr als 6000 Personen waren anwesend. Wie er sich doch gefreut haben muß, als er über jene dreißig Jahre zurückblickte!
Schließlich zog er sich eine Krebserkrankung zu. Sie zehrte an seiner Lebenskraft, bis er am 5. April 1964 starb. Jene letzten Monate nahmen ihn sehr mit, denn er mußte ein Vorrecht nach dem anderen, die ihm so große Freude bereiteten, aufgeben. Sehnlich erwartete er die Gelegenheit, noch einmal das Brot und den Wein bei der jährlichen Feier des Abendmahls des Herrn zu sich zu nehmen. In Gegenwart des Hilfsversammlungsaufsehers und einiger weniger Brüder, die an sein Bett kamen, bat er selbst um den Segen für die Symbole. Dann sangen wir Lied Nummer 5, und er wurde wieder sehr ruhig.
Zwei Abende vor seinem Tod raffte er alle seine Kräfte zusammen und betete hörbar in Gegenwart einiger Glieder der Bethelfamilie zu Jehova. Am nächsten Tag las ihm sein jüngster Bruder Otto etwas aus den Briefen des Apostels Paulus an die Korinther vor. Nach ungefähr einer Stunde war er erschöpft und sagte: „Es ist genug. Ich freue mich über die schönen, trostreichen Worte.“ Am nächsten Vormittag schlief er ungefähr um elf Uhr ein. Fünf Stunden lang weilte ich ohne Unterbrechung an seiner Seite, um seine Lippen anzufeuchten, bis er die Augen das letzte Mal öffnete und er ohne jegliche Furcht vor dem Tod und ohne Todeskampf mit einem ruhigen, zufriedenen Blick starb. Es war ein glücklicher Augenblick für ihn, von seinen Leiden erlöst zu sein. Für mich war es ein harter Schlag, denn ich würde meinen glaubenstreuen Gefährten sehr vermissen. Dank sei Jehova dafür, daß er uns beiden gewährte, ihm achtundzwanzig Jahre lang zu dienen, und daß er mir die Kraft gegeben hat, meinen Verlust zu tragen. Möge unser gemeinsamer Wunsch, die Königreichsinteressen an die erste Stelle zu setzen, mich weiterhin erfüllen, so daß ich, so wie Fritz, meinen irdischen Lauf vollende.