Ein abenteuerliches, aber befriedigendes Leben
Von George Gibb erzählt
FÜR viele junge Menschen ist das Leben heute langweilig. Einige verschreiben sich dem Sport und dem Vergnügen, während andere in ferne Länder reisen und das Abenteuer suchen. Leider sind daher viele frustriert und sehen keinen Sinn im Leben.
Auch ich reiste, als ich jung war. Ich verließ Schottland, meine Heimat, und strebte nach Gestaden, die Tausende von Kilometern entfernt lagen, wie Ägypten, Palästina und Australien. Es war ein abenteuerreiches Leben, aber schließlich fand ich auch echte Befriedigung, da ich einen Sinn im Leben entdeckte und diesem durch meinen Umzug nach Australien in größerem Maße entsprechen konnte. Doch zunächst möchte ich einiges über meine Vergangenheit berichten.
KINDHEIT UND REISEN WÄHREND DES KRIEGES
Meine Eltern waren zwar keine Kirchgänger, aber sie pflanzten mir eine hohe Achtung vor der Bibel und ihren erhabenen Grundsätzen ein. Es waren schöne Winterabende am Kamin, als uns Mutter biblische Geschichten vorlas und ihre Nutzanwendung erklärte. Diese Geschichten entfachten in mir ein Verlangen nach der Wahrheit.
Als ich älter wurde, besuchte ich die „Gottesdienste“ verschiedener Glaubensgemeinschaften und hörte mir Predigten an Straßenecken an, doch stets vermißte ich irgend etwas. Dann unterbrach im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg mit erschreckender Plötzlichkeit den gewohnten Gang der Dinge. Deutsche Zeppeline bombardierten Edinburgh, die Stadt, in der ich wohnte. Unsere glückliche Familie wurde auseinandergerissen. Ein Bruder nach dem anderen — insgesamt fünf — wurde eingezogen. Zwei von ihnen kehrten nicht mehr zurück.
Als Angehöriger des britischen Heeres kam ich 1916 nach Ägypten. Dann wurde ich nach Palästina, dem Verheißenen Land, gesandt. Es war erstaunlich, wie viele von uns Soldaten damals geographische Orte mit biblischen Ereignissen in Verbindung brachten. In Gasa dachten wir an Simson, der dort einst das Stadttor wegtrug, Beer-Scheba erinnerte uns an Abraham, Bethlehem an Jesus und Jerusalem an David. Einmal las ich in der Bibel etwas über Emmaus und wanderte von Jerusalem dorthin und wieder zurück, wobei ich mir vorstellte, wie Jesus zu den zwei Jüngern sprach, die er unterwegs traf. Aber auch nach meiner Rückkehr gab mir die Bibel immer noch viele Fragen auf (Luk. 24:13-32).
Am Ende des Krieges war ich nicht gescheiter als zuvor. Ich ging nach Edinburgh zurück, um meine Lehre im Druckereigewerbe abzuschließen. Aber immer noch hatte ich ein Verlangen nach der biblischen Wahrheit. Mein Onkel machte den Vorschlag, die Kirche am Ort zu besuchen. Als ich meine Mutter um ihre Meinung fragte, sagte sie: „Wenn du Gottes Wort hören möchtest, dann gehe. Denke aber daran, daß du feststellen wirst, daß zwischen dem wahren Christentum und dem Kirchenchristentum ein großer Unterschied besteht.“ Bald fand ich heraus, daß sie recht hatte.
ICH FAND, WAS ICH SUCHTE
An einem Samstag im Jahre 1921 fuhr ich mit dem Zug von Glasgow, wo ich arbeitete, nach Edinburgh. Auf der Fahrt erzählte mir ein sehr freundlicher älterer Herr ungewöhnliche Dinge aus der Bibel. Er sprach von einem „Plan“ Gottes, von falschen Lehren der Kirche und von einer glücklichen Zukunft. Das stimmte mich nachdenklich.
An einem anderen Samstag sah ich in Glasgow große Plakate mit der Aufschrift „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!“ Ich dachte, das sei für manche Leute eine frohe Botschaft. In meiner Unterkunft fand ich einen Handzettel, und in der Zeitung las ich eine zweiseitige Anzeige, in der dieser Vortrag angekündigt wurde. Ich beschloß daher hinzugehen.
Der Saal war brechend voll, und der Redner sprach begeisternd. Ich hatte noch nie so etwas gehört. Als die Menge den Ausgängen zustrebte, saß ich immer noch da. Es war genau das, wonach ich mich gesehnt hatte. Ein eifriger junger Mann sprach mich an: „Wie hat es Ihnen gefallen?“
„Gut. Das ist die Wahrheit“, lautete meine Antwort.
Als er erfuhr, daß ich noch nichts darüber gelesen hatte, machte er den Vorschlag, daß mich jemand besucht, um sich mit mir zu unterhalten. Zunächst lehnte ich ab, doch er war beharrlich; so verabredete ich mich. Zur vereinbarten Zeit klopfte es. Es war die herrlichste Stunde meines Lebens, als mir an jenem Tag ein Vollzeitdiener die wunderbaren Wahrheiten über Gottes Königreich darlegte. Er ließ mir einige biblische Schriften zum Lesen zurück sowie die Anschriften der Orte, wo die wöchentlichen Zusammenkünfte stattfanden. Dort wurde ich herzlich aufgenommen und lernte mehr über Gottes Vorsätze kennen.
MISSIONARGEIST
Unter den Anwesenden herrschte Begeisterung, und in den Studienzusammenkünften wurde häufig darauf hingewiesen, Zeugnis zu geben. Weil ich wissen wollte, wie das vor sich ging, fand ich mich dort ein, von wo aus man in den Predigtdienst zog. Ich traf dort meine neuen Freunde, die mit biblischen Schriften und Straßenverzeichnissen ausgerüstet waren. Sie gaben mir ein Exemplar des neuen Buches Die Harfe Gottes und einige Broschüren. Einer von ihnen nahm mich mit. Als wir uns einem Wohnhaus näherten, sagte er: „Du fängst jetzt von oben an und ich von unten.“
Schüchtern klopfte ich an die erste Tür, wobei ich dachte: „Was sage ich nur?“ Plötzlich kam mir der Gedanke: „Erzähle ihnen, was du in der Bibelstunde gelernt hast.“ Eine junge Frau öffnete die Tür, und ich las Daniel 2:44 vor, wo gesagt wird: „In den Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das nie zugrunde gerichtet werden wird. ... Es wird alle diese Königreiche zermalmen und ihnen ein Ende bereiten, und es selbst wird für unabsehbare Zeiten bestehen.“
Dann erklärte ich der Wohnungsinhaberin, daß Gottes Königreich nach der Zerstörung dieses bösen Systems wirklich Segnungen für die Erde mit sich bringen wird und daß sogar die Toten auferweckt werden. Sie reagierte günstig und sagte, sie habe vor kurzem ihren Mann durch den Tod verloren. Freudig nahm sie das Buch entgegen. Als ich weiteren Personen in diesem Haus Zeugnis gab, erkannte ich, daß der Herr von Christen ein Werk getan haben will.
An Samstagnachmittagen begaben wir uns gruppenweise mit dem Fahrrad in Außenbezirke, um die Königreichsbotschaft zu verkündigen. Sonntag vormittags verteilten wir viele Handzettel, mit denen Vorträge angekündigt wurden, die im größten Saal Glasgows stattfanden. Der Saal war oft bis auf den letzten Platz besetzt. Damals gab es weder Radio noch Fernsehen. Man nahm daher Einladungen zu Vorträgen sehr gern an.
Eine körperbehinderte ältere Zeugin machte einen großen Eindruck auf mich. Sie konnte die Zusammenkünfte nur besuchen, wenn sie jemand in ihrem Rollstuhl abholte. Einige von uns Jüngeren wechselten sich darin ab. Unterwegs sprach sie über interessante Gedanken, die sie gelesen hatte, und erwähnte Bibelstellen, die zu einem ständigen Vertrauen zu Jehova ermuntern, wie Jesaja 41:10 und 54:17. Es war kein Wunder, daß sechs von uns, die sie im Rollstuhl abholten, Kolporteure wurden, wie man damals Vollzeitdiener nannte.
Die Winter sind in Schottland kalt und rauh; wir konnten daher nicht soviel predigen, wie wir wollten. Da mein Partner und ich aber darauf bedacht waren, ‘im Werke des Herrn allezeit reichlich beschäftigt zu sein’, beschlossen wir, an die Watch Tower Society zu schreiben und darum zu bitten, uns dorthin zu senden, wo wir mehr erreichen könnten (1. Kor. 15:58). Wir waren begeistert, als wir nach Wochen gespannter Erwartung eine Antwort erhielten. Man ließ uns die Wahl: „Kanada oder Australien“.
NACH AUSTRALIEN
Im Februar 1928 kamen wir in Melbourne (Australien) an, das 21 000 Kilometer von Schottland entfernt ist. Welch ein Wechsel! Den ganzen Tag schien die Sonne. Es gab viele Früchte. Einige davon hatten wir noch nie zuvor gesehen. Unsere christlichen Brüder hießen uns willkommen und waren sehr freundlich zu uns, wodurch unsere Wertschätzung für Jehovas Wort noch vertieft wurde.
Unsere erste Zuteilung war der Inselstaat Tasmanien. Wir erlebten viele Abenteuer. Unsere Predigttätigkeit erstreckte sich über die nördlichen Townships. Zunächst waren wir mit dem Auto unterwegs, und als es nicht mehr fuhr, mit einem Pferdekarren. Sooft Probleme auftauchten — ob in bezug auf Unterkünfte, Nahrung oder Verkehrsmittel —, stellten wir fest, daß Jehova für Hilfe sorgte, entweder durch unsere christlichen Brüder oder durch freundliche Personen, die wir im Werke des Herrn antrafen.
EINE NEUE ZUTEILUNG
Im Jahre 1929 erhielt ich brieflich die Einladung, im Zweigbüro der Zeugen Jehovas mitzuhelfen, das nach Sydney verlegt worden war. Damals ließ ich mir nicht träumen, daß ich 49 Jahre später immer noch hier sein würde. Es war eine aufregende Zeit. Der Predigtdienst von Haus zu Haus wurde besser organisiert, und Rundfunkstationen wurden in den Dienst der Verkündigung der Königreichsbotschaft gestellt.
Ich wurde im Zweigbüro bald an einer kleinen Flachpresse mit Fußantrieb angelernt, die mir im Laufe der Jahre sehr lieb geworden ist. Schon bald stellte ich Kongreßprogramme, Handzettel, besondere Flugzettel zur Ankündigung von Radiosendungen und viele notwendige Formulare her. Als der Einsatz des Rundfunks unter dem Einfluß der Geistlichkeit zurückging, wurden Lautsprecherwagen eingeführt, um die Königreichsbotschaft bekanntzumachen. Die Botschaft erschallte nun in Städten des ganzen Landes.
Im Jahre 1932 wurde das Zweigbüro erweitert, was mehr Arbeit mit sich brachte. Neben dem normalen Drucken, Verpacken und Versenden biblischer Literatur gab es nun auch zu graben und zu hämmern. Wir waren begeistert, als ein getäfelter Speisesaal, ein neues Büro, ein Zusammenkunftsraum und neue Schlafräume entstanden.
Eine automatische Druckpresse, die aus den Vereinigten Staaten eintraf, löste große Freude aus. Unsere ansehnliche Gruppe begeisterter junger freiwilliger Mitarbeiter glich einer Familie, und unsere Arbeitszeit war nicht durch gewerkschaftliche Vorschriften begrenzt. Wenn nötig, arbeiteten wir bis in die frühen Morgenstunden. Gleichzeitig waren wir uns dessen bewußt, daß es noch vielen Menschen von Gottes Königreich zu erzählen galt, und wir setzten für diese Tätigkeit viele Abende und Wochenenden ein.
Da es so viel zu tun gab, vergingen die Jahre wie im Fluge. Plötzlich brach der Zweite Weltkrieg aus. Im Jahre 1941 wurden wir hier in Australien auf Betreiben der Geistlichkeit zu Unrecht der subversiven Tätigkeit angeklagt und verboten. Das Predigtwerk wurde dennoch fortgesetzt, und wir versammelten uns weiterhin, wenn auch in kleinen Gruppen. Auch die Druckarbeiten wurden nicht eingestellt. An verschiedenen Orten im Untergrund wurden Zeitschriften und Bücher gedruckt, sehr zum Ärger der Behörden, die versuchten, diese Orte ausfindig zu machen.
Um dem Gesetz Genüge zu tun, trugen alle diese Veröffentlichungen den Vermerk: „Druck: George Gibb, Strathfield“. Wer und wo war dieser „George Gibb“? Die Polizei suchte mich. Aber sooft sie kam, war ich gerade nicht zu Hause. Manchmal tauchten Polizeibeamte an Orten auf, wo Jehovas Zeugen ein Bibelstudium durchführten. Oft fragten sie: „Ist George Gibb hier?“ oder: „Wo ist George Gibb zu finden?“ Aber sie fanden mich nicht.
Im Jahre 1943 wurde unser Fall vor dem Obersten Bundesgericht Australiens entschieden, und das Verbot wurde aufgehoben. Alles lief wieder reibungslos. Seither hat die Arbeit im Zweigbüro ständig zugenommen. Biblische Schriften werden nun in Englisch und in vielen Sprachen veröffentlicht, die man auf den Inseln des Pazifiks spricht. Im Jahre 1973 stellten wir ein modernes dreigeschossiges Fabrikgebäude fertig, in dem eine 40 Tonnen schwere Rotationsmaschine aufgestellt wurde. Heute werden von unserer Druckerei aus monatlich eine dreiviertel Million Exemplare der Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! nach ungefähr 25 Ländern und Inseln gesandt.
WEITERE ABENTEUER
Im Jahre 1953, fünfundzwanzig Jahre nach meinem Umzug nach Australien, freute ich mich, daß ich den internationalen Kongreß der Zeugen Jehovas in New York besuchen konnte. Unterwegs landete unser Flugzeug auf der Insel Canton. Wir gingen zu einem Kiosk, um etwas zu trinken, und unterhielten uns dort mit unserem netten fidschianischen Kellner über die Königreichsbotschaft. Er hörte interessiert zu und nahm ein biblisches Traktat in Englisch entgegen. Ich sagte ihm, er könne die Schriftstellen in seiner Bibel nachschlagen. Dann begaben wir uns wieder zum Flugzeug.
Nach einer herrlichen Zeit in den Vereinigten Staaten traten wir den Rückflug an. Auf der Insel Canton tankte unser Flugzeug auf. Als ich etwas frische Luft schnappte, tippte mich jemand von hinten an. Es war unser fidschianischer Freund. Er sagte, er habe erkannt, daß in dem Traktat, das wir ihm zurückgelassen hätten, die Wahrheit stehe. Er freute sich sehr, als ich ihm anbot, einige Veröffentlichungen in seiner Sprache zu senden. Er lief zum Kiosk und kam mit einem Fächer aus Federn zurück, den er mir schenkte. Sehr oft habe ich die einzigartige Freude erlebt, zu sehen, wie dankbar jemand für die Königreichsbotschaft war.
Im Jahre 1973 konnte ich eine Reihe christlicher Kongresse in Asien besuchen. Es begeisterte mich, die Ergebnisse der Arbeit anderer Missionare und ihrer einheimischen Gefährten zu sehen, zum Beispiel in Japan, wo sich 30 000 Häupter mit pechschwarzem Haar gemeinsam im Gebet vor Jehova beugten.
Was erwartest du vom Leben? Ist es für dich immer noch langweilig? Ich kann dir versichern, daß das nicht sein muß. Wenn du bereit bist, Jesu Beispiel nachzuahmen und seine Anweisung zu befolgen: „Geht ... hin und macht Jünger aus Menschen aller Nationen“, kannst du ein wirklich befriedigendes und sogar sehr abenteuerliches Leben führen (Matth. 28:19).
Ich bin heute sehr glücklich darüber, daß mich mein Herz vor mehr als 50 Jahren dazu bewog, mein Leben völlig in den Dienst Jehovas zu stellen. Im Alter von 81 Jahren finde ich immer noch Freude daran, hier in der Druckerei zu arbeiten, mich am Predigtdienst zu beteiligen und Kongresse zu besuchen. Man kann sein Leben nicht besser verbringen, als den Willen Jehovas zu tun.
[Bild von George Gibb auf Seite 24]