„Lehre mich Gutes“
NUR zwei Personen reagierten, als die ältere Frau in der überfüllten U-Bahn plötzlich zusammenbrach. Die anderen Fahrgäste, deren Geduld wegen der Verspätungen in der Stoßzeit sowieso schon erschöpft war, sahen in der unglücklichen Situation der Frau noch eine weitere Unannehmlichkeit. „Ist denn niemand da, der diese Frau aus dem Weg schaffen kann?“ schrie ein wütender Pendler. Die sterbende Frau und die beiden Fahrgäste, die verzweifelt versuchten, sie wiederzubeleben, waren für die meisten anscheinend nichts anderes als ein Hindernis. Sie wurden daher „wiederholt getreten“.
Solche Szenen sind heute in vielen Teilen der Welt keine Seltenheit mehr. Sie sind eine deutliche Bestätigung der Vorhersage der Bibel, daß „in den letzten Tagen ... die Menschen ... ohne Liebe zum Guten“ sein werden. Christen möchten aber Jehova gefallen. Deshalb müssen sie sich von solchen Personen ‘wegwenden’ (2. Timotheus 3:1-5). Lediglich auf unseren Umgang zu achten genügt jedoch nicht. Wir müssen uns bemühen, gut zu sein, Güte, die eine Frucht des Geistes Gottes ist, zu entwickeln (Galater 5:22). Doch wie? Und was bedeutet es, gut zu sein?
Gut und gerecht sein
Gut sein hat mit sittlicher Tadellosigkeit, Tugend und Güte zu tun, aber es ist nichts Passives. Der Apostel Paulus sagte über die Loskaufsvorkehrung: „Kaum wird jemand für einen gerechten Menschen sterben; ja, für den guten Menschen zu sterben, wagt es vielleicht jemand noch. Gott aber empfiehlt seine eigene Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns starb, während wir noch Sünder waren“ (Römer 5:7, 8). Hier wird das Gutsein dem Gerechtsein anscheinend gegenübergestellt. Sind dies jedoch wirklich völlig gegensätzliche Eigenschaften?
Nein. Paulus hatte dabei offenbar im Sinn, daß Gerechtigkeit Anpassung an eine Norm einschließt. Gerechtigkeit wird sogar mit Gericht in Verbindung gebracht. (Vergleiche Offenbarung 19:11.) Ein „gerechter“ Mensch ist gesetzestreu. Er entspricht einer Norm, erfüllt eine Quote, geht aber wahrscheinlich kaum darüber hinaus. Auf diese Weise gewinnt er zwar die Achtung anderer, aber nicht unbedingt ihr Herz. Wenige wären bereit, für ihn zu sterben. Ein „guter“ Mensch dagegen tut mehr, als von ihm verlangt wird, und er begnügt sich nicht damit, kein Unrecht zu tun. Sein gutes Herz veranlaßt ihn, sich für andere zu verausgaben, etwas für sie zu tun.
Wer alles daransetzt, anderen Gutes zu tun, erweist sich wirklich als „Nächster“. Jesu Gleichnis vom guten Samariter veranschaulicht dies treffend. „Von Mitleid bewegt“, verband der Samariter die Wunden eines Juden, der von Räubern überfallen und geschlagen worden war. „Dann hob er ihn auf sein eigenes Tier und brachte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn“ (Lukas 10:29-37). Kein Wunder, daß dieses Gleichnis als das Gleichnis vom „guten Samariter“ bezeichnet wird! (Vergleiche Matthäus 12:35; 20:10-15; Lukas 6:9, 33-36.)
Ein guter Mensch ist nicht passiv, sondern dynamisch und tatkräftig. Personen, die aus der Güte, Großzügigkeit und Opferbereitschaft eines „guten“ Menschen Nutzen ziehen, mögen sogar bereit sein, für ihn zu sterben. Der Psalmist betete daher aus gutem Grund: „Lehre mich Gutes“ (Psalm 119:66). Wie lehrt uns Jehova das aber?
Wie Jehova Gutes lehrt
Jehova ‘lehrt uns Gutes’ durch sein eigenes Beispiel. Er ist das Gute in Person. Als Moses Gott darum bat, ihn seine Herrlichkeit sehen zu lassen, wurde ihm gesagt: „Ich selbst werde all mein Gutes vor deinem Angesicht vorüberziehen lassen, und ich will den Namen Jehovas vor dir ausrufen.“ Wie geschah dies? Indem Jehova kurz danach „vor seinem Angesicht“ vorüberging und ausrief: „Jehova, Jehova, ein Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und überströmend an liebender Güte und Wahrheit, der Tausenden liebende Güte bewahrt, der Vergehung und Übertretung und Sünde verzeiht, doch keinesfalls wird er Straffreiheit gewähren“ (2. Mose 33:18, 19; 34:6, 7).
Damals wurde gezeigt, in welch verschiedener Hinsicht Jehova gut ist. Was besonders hervortrat, war seine Barmherzigkeit und seine Liebe zur Wahrheit. Da er weiß, daß die Menschen unvollkommen sind, nimmt er Rücksicht auf diejenigen, die wirklich das tun möchten, was recht ist, und er ist geduldig mit ihnen. Böses duldet er jedoch nicht. Es ist also bestimmt von Nutzen, über das Beispiel, das Jehova uns gegeben hat, nachzudenken.
Auch die Schöpfung ist ein Beweis dafür, daß Jehova gut ist. Ja, er konnte seine schöpferische Tätigkeit als „gut“ betrachten (1. Mose 1:12, 18, 25, 31; Römer 1:20). Gott stattete unseren Planeten nicht nur mit dem Allernotwendigsten zur Erhaltung des Lebens aus.
„Der strömende Regen“ ist hierfür ein gutes Beispiel (Jesaja 55:10). Elihus Worte waren wissenschaftlich bemerkenswert genau, als er von Jehova sagte: „Er zieht die Wassertropfen herauf; sie sickern durch als Regen für seinen feuchten Dunst, so daß die Wolken rieseln, reichlich träufeln sie auf die Menschen ... Er gibt Nahrung in Fülle“ (Hiob 36:27-31). In diesem Kreislauf zirkulieren täglich schätzungsweise 500 Milliarden Kubikmeter Wasser, von dem die Sonne das meiste aus den Meeren „heraufzieht“.
Wie aus einem Bericht der New York Times hervorgeht, „ist zum erstenmal bei der Untersuchung der physikalischen Vorgänge im südamerikanischen Tropenwald wissenschaftlich nachgewiesen worden, daß etwa 75 Prozent der vom Wald aufgenommenen Feuchtigkeit wieder an die Atmosphäre abgegeben werden“. Weiter heißt es in dem Bericht, „daß die vom Wald gespeicherte Wassermenge in so großen Mengen an die Luft abgegeben werden kann, daß sich neue Regenwolken bilden können“, und Regen ist ja ein wesentlicher Faktor für die Erzeugung von Nahrungsmitteln. In der Tat, Jehova hat für alles, was zum Leben auf der Erde notwendig ist, meisterhaft und in Hülle und Fülle gesorgt. Er läßt diese Dinge sogar denen zukommen, die dafür nicht dankbar sind und keine Wertschätzung haben. Welch ein Beweis seiner Güte! (Matthäus 5:44, 45).
Noch auffallender zeigt sich Jehovas Güte darin, wie er auf die Verwirklichung seines ursprünglichen Vorhabens mit der Menschheit hingewirkt hat (1. Mose 1:28; 3:15; Römer 5:12). Sie veranlaßte ihn, für die sündige Menschheit ein Lösegeld zu beschaffen, indem er „seinen einziggezeugten Sohn gab, damit jeder, der Glauben an ihn ausübt, nicht vernichtet werde, sondern ewiges Leben habe“ (Johannes 3:16; Römer 3:23, 24). Wie gut Gott ist, wird sich auch bald darin zeigen, daß er im Interesse aufrichtiger Menschen dem gegenwärtigen bösen System der Dinge durch sein Königreich ein Ende machen wird (Daniel 2:44; Matthäus 6:9, 10; 2. Petrus 3:9, 10). Noch besser wird dies zu erkennen sein, wenn die Erde unter Gottes Königreich zu einem Paradies werden wird (Lukas 23:43; 2. Petrus 3:13; Offenbarung 21:1-5).
Jehovas Güte nachahmen
Durch ein regelmäßiges Studium der Bibel halten wir uns Jehovas vollkommenes Beispiel der Güte ständig vor Augen. Das sollte uns veranlassen, ihn nachzuahmen. Natürlich gibt es viele notwendige Tätigkeiten, die uns daran hindern könnten, regelmäßig in der Bibel zu lesen, unter anderem Kochen, Putzen, Einkaufen und Reparaturen im Haus. Wir sollten jedoch geistigen Dingen den Vorrang geben. Das machte Jesus Christus deutlich, als er Maria und Martha besuchte. Während Martha ihren häuslichen Pflichten nachging, saß Maria zu den Füßen Jesu und ‘lauschte unablässig seinem Wort’. Als Martha darum bat, daß Maria ihr bei der Hausarbeit helfe, sagte Jesus: „Martha, Martha, du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge. Wenige Dinge jedoch sind nötig oder nur eins. Maria ihrerseits hat das gute Teil erwählt, und es wird nicht von ihr weggenommen werden.“ Jeder von uns kann „das gute Teil“ erwählen, indem er geistigen Dingen, wie dem persönlichen und dem Familienstudium, den Vorrang gibt (Lukas 10:38-42).
Auch durch die Christenversammlung lehrt uns Jehova Gutes. Dort sind wir mit Menschen zusammen, die „voller Güte“ sind (Römer 15:14). Viele Erfahrungen veranschaulichen dies. Eine Zeugin Jehovas (die damals bereits Mutter von zwei Kindern war) erinnert sich noch, wie unbegreiflich es für sie war, als man ihr sagte, sie habe Drillinge geboren. „Wie werden wir da noch zu christlichen Zusammenkünften gehen können?“ dachte sie. „Wie werden wir in der Lage sein, die Rechnung für das Krankenhaus zu bezahlen? Werden wir überhaupt fünf Kinder ernähren und kleiden können?“
Schon bald erhielt diese Frau jedoch den Beweis, daß ihre christlichen Brüder und Schwestern „voller Güte“ sind. „Als ich nach Hause kam“, sagte sie, „stellte ich fest, daß mehrere meiner christlichen Schwestern die Wohnung geputzt hatten. Außerdem sorgten sie dafür, daß uns das Essen gebracht wurde, und sie erledigten auch die täglichen Hausarbeiten, bis ich wieder zu Kräften gekommen war.“ Viele Brüder standen dieser Familie materiell bei; ein anonymer Spender sandte sogar 1 000 Dollar. Während des Winters liefen aber die Heizkosten dieser Familie beträchtlich auf. Man kann sich daher den Schreck der Frau vorstellen, als sie einen Anruf von der Heizölfirma erhielt. Wie erleichtert war sie jedoch, zu erfahren, daß eine Glaubensschwester die Rechnung bezahlt hatte! Eine Mitteilung, durch die diese um ihre Existenz kämpfende Familie davon in Kenntnis gesetzt werden sollte, daß sie nicht mehr beliefert werde, war versehentlich an diese Zeugin Jehovas geschickt worden, und ihr gutes Herz hatte sie veranlaßt, der Familie zu helfen.
Eine solche Handlungsweise bewegt nicht nur das Herz, sondern ist auch ansteckend. Ein Mann, der früher seine Frau geschlagen hatte, sagte, nachdem sie das erstemal eine Zusammenkunft besucht hatte, zu ihr: „Jehovas Zeugen haben mich gelehrt, was es heißt, zu lieben und freundlich zu sein, darum schlage ich dich nicht mehr.“
Gutes zu lernen bringt Segen
Schon heute werden wir gesegnet, wenn wir Gutes lernen und das Gute lieben. Wir werden mit unseren Brüdern und selbst mit Weltmenschen besser auskommen (Sprüche 11:10; 1. Petrus 3:13). Noch wichtiger ist aber, daß es „bei Gott etwas Annehmliches“ ist, wenn wir Leiden erdulden, weil wir ‘Gutes tun’ (1. Petrus 2:20). Ein tätiger Glaube und unser Bemühen, Gutes zu tun, wird sogar dazu führen, daß wir in der „großen Drangsal“ beschützt werden und dann in die neue Ordnung gelangen können (Hebräer 10:36-39; Matthäus 24:21).
Bitten wir also Jehova, ‘uns Gutes zu lehren’. Denn er wird jeden, „der das Gute wirkt“, mit „Herrlichkeit und Ehre und Frieden“ belohnen (Römer 2:6-11).
[Bild auf Seite 27]
Die großzügige Versorgung mit Wasser zur Erhaltung des Lebens beweist, wie gut Jehova ist