Ich habe ‘meine Hand an den Pflug gelegt, ohne zurückzublicken’
ALS ich das Flugzeug bestieg, das mich nach Bolivien, meiner neuen Heimat, bringen sollte, gingen mir folgende Worte durch den Sinn, die mir meine Mutter in ihrem letzten Brief geschrieben hatte: „Niemand, der seine Hand an den Pflug gelegt hat und zurückblickt, ist geschickt zum Reiche Gottes“ (Lukas 9:62, Elberfelder Bibel). Ich war entschlossen, diese Worte zu beherzigen.
Der Missionardienst war für mich zwar etwas ganz Neues, aber ich hatte zuvor bereits fünf Jahre im Vollzeitdienst gestanden. Die Wahrheit lernte ich durch meine Eltern kennen, die ab 1923 mit Bibelforschern — wie Jehovas Zeugen früher genannt wurden — studierten. Schon damals, mit vier Jahren, hatte ich den Wunsch, die Veröffentlichungen der Watch Tower Society zu verstehen. Viele Jahre beschäftigten sich meine Eltern jedoch nur wenig mit der Wahrheit. Gelegentlich besuchten uns unsere Nachbarn, die Bibelforscher waren. Ich kann mich auch noch daran erinnern, daß mein Vater zu unseren Nachbarn ging, um sich die Rundfunkvorträge von Richter Rutherford anzuhören.
Doch erst 1938 begann der Samen der Wahrheit Frucht zu tragen. Meine Mutter — sie war inzwischen geschieden und hatte wieder geheiratet — las nun eifrig die Schriften, die sie von Jehovas Zeugen entgegennahm. Mich begeisterte vor allem, daß eine „große Volksmenge“ die Vernichtung des gegenwärtigen Systems der Dinge überleben und für immer auf der Erde leben wird (Offenbarung 7:9-14). Davon mußten auch andere hören!
Nach meiner Taufe im Juni 1939 zog ich den Vollzeitdienst in Erwägung; ich wollte Pionier werden. Ich ging nach Colorado, wo ich Helen Nichols und ihre Mutter kennenlernte, zwei geistgesalbte Schwestern, die im allgemeinen Pionierdienst standen. Die schönen Erfahrungen, die sie erzählten, waren für mich eine zusätzliche Ermunterung zum Pionierdienst. Im Mai 1940 erhielt ich dann meine erste Pionierzuteilung — Salida in Colorado.
Schulung in Gilead und Auslandszuteilung
Nach einigen Jahren Pionierdienst in verschiedenen Teilen Colorados und Indianas wurde ich eingeladen, die dritte Klasse der Gileadschule zu besuchen. Die Watch Tower Society hatte diese Schule eingerichtet, um Missionare auszubilden. Die fünf wunderbaren Monate auf der Gileadschule waren für mich mit vielen Freuden und Segnungen verbunden. Nach Abschluß des Kurses erhielt ich nicht sofort eine Auslandszuteilung. Noch tobte der Zweite Weltkrieg. Zusammen mit sieben anderen Schwestern wurde ich vorübergehend nach West Haven (Connecticut) gesandt. Im Jahre 1945 kam ich dann nach Washington (D. C.). Inzwischen stand jedoch meine Auslandszuteilung fest: La Paz in Bolivien.
Bevor ich meine Zuteilung erhielt, hatte ich noch nie etwas von Bolivien gehört. Es war daher nicht verwunderlich, daß mir beunruhigende Gedanken durch den Sinn gingen, als ich das Flugzeug bestieg: Wie würde es mir im Missionardienst ergehen? Würde ich es lange dort aushalten können? Die Erinnerung an den Rat meiner Mutter, ‘nicht zurückzublicken, wenn man die Hand an den Pflug gelegt hat’, bestärkte mich in meinem Entschluß, den Missionardienst zum Erfolg zu machen. Außerdem war ich in dem neuen Land nicht allein. Meine Schwester und mein Schwager, die die vierte Klasse der Gileadschule besucht hatten, gingen mit mir nach Bolivien. Am 9. Juni 1946 landete unser Flugzeug in La Paz.
Inmitten der Revolution
An dem Tag, als wir ankamen, wurde ein Umsturzversuch unternommen. Eine Bombe wurde auf das Regierungsgebäude geworfen. Die Bombe verpuffte jedoch, die Revolution ebenfalls. Aber keine zwei Monate später kam es tatsächlich zu einem Umsturz mit vielen Toten und Verletzten. Der Staatspräsident und einige seiner Minister wurden auf dem größten Platz der Stadt an einem Laternenpfahl aufgehängt. Das waren meine ersten Eindrücke von Bolivien.
Nach diesem schrecklichen Blutvergießen konnten wir jedoch ‘die Trauernden trösten’, und viele der demütigen Bolivianer waren bereit, mit uns die Bibel zu studieren (Jesaja 61:1, 2). Damals verwendeten wir oft auf Schallplatten aufgenommene Predigten, um den Menschen Zeugnis zu geben. Wir mußten daher in der sauerstoffarmen Luft (La Paz liegt 3 660 m hoch) außer der Büchertasche auch noch einen Plattenspieler die steilen Abhänge hinauf- und hinuntertragen. Da ich nur wenig Spanisch sprach, dachten einige Leute, ich würde Plattenspieler und Schallplatten verkaufen!
Ich machte schon zu Anfang meines Missionardienstes viele schöne Erfahrungen. Als ich eines Tages in einem der besseren Viertel von La Paz von Haus zu Haus ging, wurde ich von einem Hausmädchen, das an die Tür kam, hereingebeten. Die Dame des Hauses hörte sich meine Darbietung an und abonnierte kurz entschlossen den Wachtturm. Was war der Grund für ihre prompte Reaktion? Kurz zuvor war sie wegen einer Operation im Krankenhaus. Dort hatte sie in der Bibel gelesen und dabei festgestellt, daß darin etwas ganz anderes steht, als in ihrer Kirche gelehrt wurde. Sie verschlang daher die Literatur geradezu, die ich bei ihr zurückließ. Noch bevor ich sie wieder besuchen konnte, suchte sie nach mir. Schließlich fand sie mich an einer Straßenecke, wo ich Passanten die Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! anbot. Die Frau bat mich, sie unbedingt wieder zu besuchen. Sie machte in ihrem Bibelstudium schnell Fortschritte und wurde bald getauft. Heute, 30 Jahre später, dient sie Jehova immer noch treu.
Eine schmutzige Puppe
Nachdem wir, d. h. meine Schwester, ihr Mann, meine Partnerin Esther Erickson und ich, elf Jahre in La Paz tätig gewesen waren, wurden wir in den Süden Boliviens gesandt. Im Februar 1957 zogen wir in die kleine Stadt Tupiza, die an der Eisenbahnlinie zwischen Bolivien und Argentinien liegt. Die Menschen dort waren freundlich, und es war leicht, Bibelstudien einzurichten. Es dauerte nicht lange, und wir konnten reguläre Zusammenkünfte abhalten, die von mehreren Einwohnern Tupizas besucht wurden.
Eines Tages fanden wir vor unserer Tür eine schmutzige Puppe. Was hatte das zu bedeuten? Offensichtlich hatte der Priester die Leute vor Jehovas Zeugen gewarnt, und jemand versuchte jetzt, uns mit einem hechizo oder Zauberbann zu belegen. Dieser hechizo erwies sich jedoch als wirkungslos.
Da Tupiza nur ein kleiner Ort war, sandte man Esther und mich schon bald nach Villazón, einer anderen Kleinstadt an der Grenze zwischen Bolivien und Argentinien. Die Gegend war öde, windig und kalt. Aber wir waren keineswegs entmutigt, denn wir vertrauten auf den Segen Jehovas.
Als Esther und ich in der Stadt mit dem Dienst begannen, bemerkten wir in vielen Fenstern Karten mit der Aufschrift „Jehovas Zeugen und Evangelisten unerwünscht“. Die Einwohner von Villazón wußten aber nicht einmal, wer Jehovas Zeugen waren! Wie in Tupiza hatte auch hier ein Priester seine Hand im Spiel. Er hatte in der Kirche die Karten verteilt und die Leute angewiesen, sie ins Fenster zu stellen. Die Menschen reagierten jedoch günstig — trotz der Karten; wir gaben viel Literatur ab und konnten viele Bibelstudien einrichten. Nach und nach verschwanden die Karten aus den Fenstern.
Aber wo sollten wir Zusammenkünfte abhalten? Wir verwandelten ein Zimmer unserer winzigen Wohnung in einen Königreichssaal. Als Sitzgelegenheiten dienten auf Bücherkartons gelegte Bretter. Da es keine getauften Brüder gab, trugen Esther und ich eine Kopfbedeckung und leiteten die Zusammenkünfte. Zu unserer großen Freude waren bei der ersten Feier zum Gedenken an den Tod Christi, die wir dort abhielten, über 100 Personen anwesend. Viele kamen zwar nur aus Neugier, um zu sehen, wie die gringas (ausländische Frauen) ihre Zusammenkünfte abhielten. Aber einige von denen, die zunächst nur aus Neugier kamen, sind heute Zeugen Jehovas.
Wir bearbeiteten auch die kleine Stadt La Quiaca in Argentinien, wo wir mehrere Bibelstudien bei interessierten Personen durchführen konnten. Da wir so oft die Grenze passierten, erregten wir die Aufmerksamkeit des Grenzpolizisten. Als wir eines Tages aus La Quiaca zurückkehrten, bat er uns, unser Werk nicht so öffentlich durchzuführen, weil das Werk der Zeugen Jehovas in Argentinien verboten worden sei. Ich sagte zu ihm: „Ich dachte immer, Ihre Regierung garantiere die Religionsfreiheit.“ Er erwiderte, daß das Verbot erlassen worden sei, weil die Geistlichen auf die Regierungsvertreter Druck ausgeübt hätten. Auf jeden Fall drehte er uns von da an immer den Rücken zu, wenn wir die Grenze nach Argentinien überschritten.
Vier Jahre waren wir in Villazón tätig. Meine Partnerin studierte mit einem Mann, dessen Frau eine chichería betrieb — eine Taverne, in der Getränke aus vergorenem Mais ausgeschenkt werden. Der Mann nahm die Wahrheit an, wurde schließlich getauft und diente bis zu seinem Tod als Ältester. Was wurde aus der chichería? Sie ist jetzt ein Königreichssaal! Als wir Villazón verließen, hatte die Versammlung 20 Verkündiger. Heute gibt es dort etwa 60 Zeugen, und die Zusammenkünfte am Wochenende werden von ungefähr 110 Personen besucht.
Niemals ‘zurückblicken’
Unsere nächste Zuteilung war Santa Cruz, eine Stadt im Osten Boliviens. Welch eine Freude war es doch, das Wachstum des Werkes zu beobachten — wie aus einer kleinen Versammlung mit 20 Verkündigern neun blühende Versammlungen wurden! Im Jahre 1965 kehrte ich dann nach La Paz zurück, wo ich seitdem in einem der Missionarheime wohne.
Im Februar 1978 hatte ich einen Unfall, als ich aus dem Bus ausstieg. Eine Mauer stürzte ein, und ich erlitt dabei einen so komplizierten Beinbruch, daß ich später erst wieder laufen lernen mußte. Jetzt kann ich jedoch wieder in den Dienst gehen und Heimbibelstudien durchführen.
Nein, der Vollzeitdienst war nicht immer leicht. Es gab Freude und Trauer, Schmerzen und Enttäuschungen. Aber die Freude, schafähnliche Menschen zu finden und ihnen zu helfen, Jehova zu dienen, hat jede Enttäuschung mehr als wettgemacht. Heute, nach 44 Jahren des Vollzeitdienstes, bin ich immer noch entschlossen, ‘meine Hand am Pflug’ zu lassen und mich an dem Werk zu beteiligen, das noch getan werden muß. (Von Betty Jackson erzählt.)
[Bild auf Seite 28]
Betty Jackson predigt in Bolivien die gute Botschaft