Eine wunderbare Laufbahn
57 Jahre Missionardienst
Von Eric Cooke erzählt
GEGEN die Reling der Kanalfähre gelehnt, starrte ich in der Morgendämmerung auf einen Punkt am Horizont. Zusammen mit meinem Bruder war ich am Abend zuvor in Southampton (England) an Bord des Schiffes nach Saint-Malo (Frankreich) gegangen. Wir waren jedoch nicht als Touristen unterwegs, sondern wollten in Frankreich die gute Botschaft von Gottes Königreich verkündigen. Nach der Ankunft in Saint-Malo holten wir unsere Fahrräder ab und radelten südwärts.
Damit begann für uns, meinen jüngeren Bruder John und mich, vor über 57 Jahren der Missionardienst im Ausland. Aber was hatte uns veranlaßt, Vollzeitdiener zu werden? Was hatte uns bewogen, das geruhsame Leben in unserem behaglichen Zuhause in England aufzugeben?
Einflüsse auf unser Leben
Im Jahre 1922 hörte unsere Mutter den öffentlichen Vortrag „Wo sind die Toten?“ Sie war so begeistert, daß sie bald eine ergebene Dienerin Jehovas wurde. Unser Vater war davon allerdings gar nicht angetan. Er war Mitglied der anglikanischen Kirche und nahm meinen Bruder und mich jahrelang sonntags morgens mit in die Kirche, während Mutter uns am Nachmittag anhand der Bibel belehrte.
John begann im Jahre 1927 — er war damals 14 Jahre alt — mit unserer Mutter die Zusammenkünfte zu besuchen und sich am Haus-zu-Haus-Dienst zu beteiligen. Ich war dagegen ein selbstzufriedener Mensch, da ich eine gute Stellung in Barclay’s Bank hatte. Aus Achtung vor meiner Mutter begann ich schließlich doch die Bibel und die Veröffentlichungen der Watch Tower Society zu studieren. Daraufhin machte ich in geistiger Hinsicht schnell Fortschritte, und 1930 ließ ich mich taufen.
John wurde nach Beendigung seiner Schulzeit im Jahre 1931 Pionier. Er empfahl mir, ebenfalls mit dem Pionierdienst zu beginnen. Ich kündigte bei der Bank und schloß mich ihm an. Bestärkt wurden wir in unserer Entschlossenheit auch durch den neuen Namen, Jehovas Zeugen, den wir gerade angenommen hatten. Unsere erste Zuteilung war die Stadt La Rochelle und deren Umgebung an der Westküste Frankreichs.
Pionierdienst in Frankreich — mit dem Fahrrad
Als wir von Saint-Malo südwärts fuhren, erfreuten wir uns an dem Anblick der Obstplantagen in der Normandie und an dem aromatischen Geruch aus den Apfelweinkeltereien. Damals konnte niemand ahnen, daß die nahen Strände der Normandie 13 Jahre später, während des Zweiten Weltkriegs, durch eine der blutigsten Schlachten der Geschichte verwüstet werden sollten; wir konnten uns allerdings auch nicht vorstellen, daß wir so lange im Vollzeitdienst stehen würden. Im Spaß sagte ich zu John: „Ich glaube, wir können fünf Jahre Pionierdienst schaffen. Bis Harmagedon kann es nicht mehr lange dauern.“
Nach dreitägiger Fahrt erreichten wir La Rochelle. Da wir beide etwas Französisch sprachen, hatten wir keine Schwierigkeiten, ein bescheidenes möbliertes Zimmer zu finden. Mit unseren Fahrrädern fuhren wir in alle Dörfer im Umkreis von 20 km und verbreiteten biblische Literatur. Dann zogen wir in eine andere Stadt und verfuhren dort ebenso. In jenem Teil Frankreichs waren wir damals die einzigen Zeugen.
Im Juli 1932 wurde John, der in der Schule Spanisch gelernt hatte, von der Gesellschaft nach Spanien gesandt. Ich setzte zwei Jahre lang mit verschiedenen Partnern aus England den Dienst in Südfrankreich fort. Da es dort keine Möglichkeit gab, Gemeinschaft mit anderen Zeugen zu pflegen, waren das regelmäßige Gebet und das Bibelstudium ungemein wichtig, damit wir unsere geistige Stärke bewahren konnten. Einmal im Jahr fuhren wir zum Besuch des Kongresses nach England.
Auf Betreiben der sehr einflußreichen katholischen Kirche wurden wir 1934 aus Frankreich ausgewiesen. Statt nach England zurückzukehren, tat ich mich mit zwei englischen Pionieren zusammen, und wir fuhren nach Spanien — natürlich mit dem Fahrrad. Eine Nacht schliefen wir in einem Gebüsch, die nächste auf einem Heuhaufen und dann am Strand. Schließlich erreichten wir Barcelona (Nordostspanien), wo uns John in Empfang nahm.
Spanien — eine Herausforderung
Zu jener Zeit gab es in Spanien keine Versammlung der Zeugen Jehovas. Nachdem wir einige Monate in Barcelona tätig gewesen waren, gingen wir nach Tarragona. Dort benutzten wir zum erstenmal ein tragbares Grammophon, um kurze biblische Vorträge in Spanisch abzuspielen. Das erwies sich als sehr wirkungsvoll, besonders in überfüllten Cafés und Tavernen.
In Lérida, das nordwestlich von Tarragona liegt, schloß sich uns Salvador Sirera an, ein auf sich allein gestellter Zeuge. Ermuntert durch unseren Aufenthalt in jenem Gebiet, diente er eine Zeitlang als Pionier. In Huesca nahm uns Nemesio Orus voller Freude in seiner kleinen Wohnung auf, die sich über seinem Uhrmachergeschäft befand. Mit ihm führten wir unser erstes Heimbibelstudium durch, und wir verwendeten dabei eine der frühen Broschüren der Gesellschaft. Wir studierten jeden Tag mehrere Stunden mit Nemesio, und bald schloß er sich uns im Pionierdienst an.
In Saragossa, der nächsten Stadt, die wir bearbeiteten, hatten wir die Freude, Antonio Gargallo und José Romanos, zwei jungen Männern, die noch keine Zwanzig waren, zu helfen. Jeden Abend kamen sie zum Bibelstudium, das wir anhand des Buches Regierung durchführten, in unser kleines Zimmer. Nach einiger Zeit nahmen auch sie den Pionierdienst auf.
Beschuldigt, Faschisten zu sein
Mittlerweile braute sich Unheil zusammen. Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, in dem Hunderttausende den Tod finden sollten, stand kurz bevor. In einem Dorf bei Saragossa bekamen wir ernste Schwierigkeiten. Eine Frau, die unsere Broschüren entgegengenommen hatte, hielt diese irrtümlich für katholisches Propagandamaterial und beschuldigte uns, Faschisten zu sein. Wir wurden verhaftet und auf die Polizeiwache gebracht. „Was tun Sie in diesem Dorf?“ fragte der Wachtmeister gebieterisch. „Die Leute hier sind Kommunisten und mögen keine faschistische Propaganda!“
Nachdem wir ihm unsere Tätigkeit erklärt hatten, war er beruhigt. Freundlicherweise gab er uns etwas zu essen und riet uns, während der Mittagsruhe das Dorf heimlich zu verlassen. Doch als wir gehen wollten, wartete schon eine Pöbelrotte, die uns sämtliche Literatur entriß. Wir befanden uns in einer gefährlichen Situation. Daher waren wir dankbar, als der Wachtmeister kam und taktvoll auf die Leute einredete. Er konnte sie zufriedenstellen, indem er sich anbot, uns nach Saragossa zu bringen und den Behörden zu übergeben. Dort setzte er sich bei einem Beamten für uns ein, woraufhin man uns freiließ.
Als im Juli 1936 der Bürgerkrieg begann, weigerte sich Antonio, in Francos Armee zu dienen, und wurde hingerichtet. Welch eine Freude wird es für John und mich sein, ihn in der Auferstehung willkommen zu heißen und wieder sein freundliches Lächeln zu sehen!
In Irland als Kommunisten bezeichnet
Wie jedes Jahr fuhren John und ich nach England in Urlaub. Kurz danach brach der Bürgerkrieg aus. Der Krieg machte es dann unmöglich, nach Spanien zurückzukehren, und so dienten wir mehrere Wochen lang als Pioniere in Kent, in der Nähe unseres Zuhauses in Broadstairs. Schließlich erhielten wir unsere nächste Zuteilung — Irland. Joseph F. Rutherford, der Präsident der Gesellschaft, hatte veranlaßt, daß wir dorthin gehen und ein besonderes Traktat mit dem Titel Sie sind gewarnt verbreiten sollten. In Südirland gab es keine Versammlung, nur einige auf sich gestellte Zeugen.
Dieses Mal wurden wir auf Anstiften der katholischen Geistlichkeit beschuldigt, Kommunisten zu sein — genau das Gegenteil von dem, wofür man uns in Spanien gehalten hatte! Einmal drang eine wütende katholische Meute in das Haus ein, in dem wir wohnten, nahm die Kartons mit unserer Literatur mit und verbrannte sie. Bevor wir im Sommer 1937 nach England zurückkehrten, erlebten wir noch eine Reihe ähnlicher Zwischenfälle.
Der Zweite Weltkrieg — und dann nach Gilead!
Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, diente John in Bordeaux (Frankreich), und ich war Versammlungsdiener in Derby (England). Einige Pioniere, zu denen auch John gehörte, der sich mir später wieder angeschlossen hatte, wurden vom Militärdienst freigestellt, anderen dagegen, so auch mir, wurde die Freistellung verweigert. Während des Krieges kam ich daher mehrfach ins Gefängnis. Es erforderte Ausharren, mit den Zuständen fertig zu werden, die in der Kriegszeit in den Gefängnissen herrschten, aber wir wußten, daß unsere Brüder auf dem europäischen Festland noch viel mehr zu leiden hatten.
Nach dem Krieg besuchte Nathan H. Knorr, der neue Präsident der Watch Tower Society, England und lud verschiedene Pioniere ein, die Wachtturm-Bibelschule Gilead im Staat New York, die der Missionarschulung diente, zu besuchen. Im Mai 1946 überquerten John und ich den Atlantik auf einem in der Kriegszeit gebauten Liberty-Schiff.
Die achte Klasse der Gileadschule war die erste wirklich internationale Klasse. Welch eine Ermunterung, während des fünfmonatigen Kurses mit altgedienten Pionieren zu studieren und Gemeinschaft zu pflegen! Schließlich kam der Tag unserer Abschlußfeier, an dem wir endlich erfuhren, wohin wir gesandt wurden. Ich wurde nach Südrhodesien (jetzt Simbabwe) zugeteilt und John nach Portugal und Spanien.
Missionardienst in Afrika
Im November 1947 traf ich in Kapstadt (Südafrika) ein. Meine Klassenkameraden Ian Fergusson und Harry Arnott kamen mit einem anderen Schiff nach. Kurz darauf besuchte uns Bruder Knorr, und wir wohnten einem Kongreß in Johannesburg bei. Dann ging es Richtung Norden in unsere Zuteilungen — Ian nach Njassaland (heute Malawi), Harry nach Nordrhodesien (heute Sambia) und ich nach Südrhodesien. Später richtete die Gesellschaft dort ein Zweigbüro ein, und ich wurde zum Zweigaufseher ernannt. In jenem Land gab es damals 117 Versammlungen mit etwa 3 500 Verkündigern.
Bald trafen vier weitere Missionare ein. Sie erwarteten in ihrer Zuteilung primitive Verhältnisse: Lehmhütten, nächtliches Löwengebrüll und Schlangen unter dem Bett. Als sie statt dessen blühende Bäume vorfanden, die die Straßen von Bulawayo säumten, moderne Annehmlichkeiten und Menschen, die gern auf die Königreichsbotschaft hörten, nannten sie das Land ein Paradies für Pioniere.
Zwei persönliche Veränderungen
Als ich mich 1930 taufen ließ, hatte man noch kein genaues Verständnis in bezug auf diejenigen, die ewig auf der Erde leben würden. Daher nahmen John und ich wie alle anderen beim Gedächtnismahl von den Symbolen. Selbst als 1935 die „große Volksmenge“ aus Offenbarung, Kapitel 7 als eine irdische Klasse von „Schafen“ identifiziert wurde, änderte sich daran nichts (Offenbarung 7:9; Johannes 10:16). Dann wurde im Wachtturm von 1952, Seite 63 (deutsch: Seite 111) deutlich der Unterschied zwischen der irdischen und der himmlischen Hoffnung gezeigt. Wir erkannten, daß wir keine Hoffnung auf himmlisches Leben hatten, sondern uns eigentlich ein Leben auf einer paradiesischen Erde wünschten (Jesaja 11:6-9; Matthäus 5:5; Offenbarung 21:3, 4).
Die andere Veränderung? Ich entwickelte eine immer größere Zuneigung zu Myrtle Taylor, die drei Jahre lang mit uns zusammengearbeitet hatte. Sobald sich herausstellte, daß sie für mich dasselbe empfand und daß wir beide den Missionardienst über alles schätzten, verlobten wir uns und heirateten dann im Juli 1955. Myrtle hat sich in unserer Ehe stets als eine gute Stütze erwiesen.
Dienst in Südafrika
Bruder Knorr besuchte im Jahre 1959 Südrhodesien, und Myrtle und ich wurden wieder nach Südafrika zugeteilt. Bald begann ich in meiner Zuteilung als Kreisaufseher zu reisen. Das waren schöne Tage. Aber ich wurde älter, und Myrtles Gesundheit machte uns Sorgen. Nach einiger Zeit konnten wir den Anforderungen des Kreisdienstes nicht mehr gerecht werden. Daher richteten wir in Kapstadt ein Missionarheim ein und dienten dort für einige Jahre. Später wurden wir nach Durban (Natal) gesandt.
Wir kamen nach Chatsworth, einer großen indischen Gemeinde. Das war eine Auslandszuteilung innerhalb einer Auslandszuteilung — eine echte Herausforderung für zwei alternde Missionare. Als wir im Februar 1978 eintrafen, gab es eine Versammlung mit 96 Zeugen, zumeist Inder. Wir mußten uns mit den religiösen Vorstellungen der Hindus befassen und uns mit ihren Bräuchen vertraut machen. Die Art und Weise, wie der Apostel Paulus vorging, als er in Athen Zeugnis gab, diente uns als hilfreiches Beispiel (Apostelgeschichte 17:16-34).
Segnungen des Missionardienstes
Jetzt bin ich 78 Jahre alt und kann auf 57 Jahre Missionardienst zurückblicken. Wie ermunternd es doch ist, die erstaunliche Mehrung in den Ländern zu beobachten, in denen ich einmal gedient habe! Frankreich hat über 100 000 Verkündiger, Spanien über 70 000, und in Südafrika hat sich die Zahl der Zeugen seit unserer Ankunft von 15 000 auf über 43 000 erhöht.
Ihr jungen Leute, gestatten es euch die Umstände, den Vollzeitdienst aufzunehmen? Wenn ja, dann kann ich euch versichern, daß dies die beste Laufbahn ist. Der Vollzeitdienst ist nicht nur ein Schutz vor Problemen und Verlockungen, die euch junge Menschen heute bedrängen, sondern er kann auch eure Persönlichkeit formen, damit sie mit den gerechten Grundsätzen Jehovas übereinstimmt. Von welchem Nutzen für Jung und Alt ist doch heute das Vorrecht, Jehova zu dienen!
[Bild auf Seite 29]
Ein Besucher in Myrtle Cookes Lagerküche