Jehova beschützt seine Diener in Ungarn
UNGARN, das im Herzen Europas liegt, hat eine ganze Reihe historische Umwälzungen durchgemacht. Das Volk mußte viel leiden, obwohl sein erster König, Stephan I., es 1001 der Jungfrau Maria geweiht und gezwungen hatte, nominelle Christen zu werden.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde Ungarn durch zahllose interne Konflikte derart geschwächt, daß andere Völker es wiederholt unterwerfen konnten. Bei diesen Konflikten entvölkerte man ganze Dörfer, um danach Ausländer dort anzusiedeln. Auf diese Weise entstand ein Bevölkerungsgemisch aus vielen Nationalitäten. Was die Religion betrifft, so breitete sich später die Reformation zwar in einigen Gebieten aus, doch ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung blieben katholisch.
Ein bescheidener Anfang
Der Samen der biblischen Wahrheit wurde in Ungarn zum ersten Mal 1908 ausgesät. Dies geschah durch eine Frau, die die Wahrheit durch Bibelforscher kennengelernt hatte, wie man Jehovas Zeugen damals nannte. Aufgrund ihres Predigens interessierten sich viele für die gute Botschaft. Kurz darauf kehrten zwei Männer aus den Vereinigten Staaten nach Ungarn zurück und verwendeten ihre ganze Zeit darauf, als Kolporteure die gute Botschaft zu verbreiten. Langsam, aber sicher gewann die Wahrheit an Boden, und in Kolozsvár wurde eine Druckmaschine aufgestellt.
Der erste verläßliche Bericht stammt aus dem Jahr 1922, als 67 Bibelforscher aus zehn Städten die Feier zum Gedenken an den Tod Christi besuchten. Ihr Zeugniswerk zeigte sofort eine starke Wirkung, was zu Widerstand führte, da die Geistlichkeit die Regierung und die Presse beeinflußte, das Predigtwerk zu behindern.
Die Angriffe verstärken sich
Der Priester Zoltán Nyisztor brachte 1928 ein Pamphlet heraus mit dem Titel Millenisták vagy Bibliakutatók (Chiliasten oder Bibelforscher). Darin behauptete er von den Bibelforschern: „Sie sind schlimmer als die roten Bolschewisten, die mit Waffen angreifen, denn sie verführen die Unwissenden, indem sie sich hinter der Bibel verstecken. Die Königliche Ungarische Staatspolizei beobachtet aufmerksam ihre Tätigkeit.“
Während dieser Zeit besuchte Josef Kiss, ein eifriger Bruder, die Versammlungen. Die Gendarmen folgten ihm verstohlen. 1931, er hielt sich gerade in der Wohnung eines Bruders auf, überraschten sie ihn und befahlen ihm, sofort zu gehen. Als Bruder Kiss seine Sachen zusammenpackte, schlug ihn ein Gendarm mit dem Gewehrkolben und drohte: „Beeil dich, oder ich stech’ zu!“ Bruder Kiss lächelte und erwiderte: „Dann werde ich eher heimgehen“, wobei er sich auf seine himmlische Hoffnung als gesalbter Christ bezog.
Die Soldaten begleiteten Bruder Kiss zum Zug. Die Versammlung Debrecen erwartete ihn am 20. Juni 1931, aber er kam nie an. Die Brüder schlußfolgerten daher, daß seine Feinde ihn umgebracht hatten, daß er wirklich „heimgegangen“ war, um seine himmlische Belohnung zu empfangen. Seiner Arbeit war zwar ein Ende gesetzt worden, doch die Obrigkeit konnte das Licht der Wahrheit nicht auslöschen.
Man mußte oft sehr findig sein, um Zeugnis geben zu können. Ein Beispiel: Mitte der 30er Jahre starb ein Bruder in Tiszakarád. Damals konnten Beerdigungen nur mit der Erlaubnis der Behörden durchgeführt werden. Den Brüdern wurde nur eine Minute für ein Gebet und eine Minute für ein Lied bewilligt. Gendarmen, die mit Gewehren und Bajonetten ausgerüstet zu der Beerdigung kamen, sollten diese Anordnung durchsetzen. Es waren viele Leute aus der Stadt gekommen, denn sie waren neugierig, wie die Beerdigung wohl vonstatten gehen würde.
Ein Bruder stand am Sarg und betete eine halbe Stunde auf eine solche Art und Weise, daß die Leute sagten, sie hätten noch nie etwas dergleichen gehört. Sie erklärten: „Selbst wenn sechs Priester die Beerdigung durchgeführt hätten, wäre sie nicht so bewegend gewesen.“ Dann stimmte ein Bruder, der eine schöne Stimme hatte, ein Lied an, doch ein Gendarm befahl ihm, still zu sein. Später gaben die Polizisten zu, daß sie das Gebet einfach nicht unterbrechen konnten, obwohl ihnen dabei nicht wohl zumute war.
Während die Angriffe fortgesetzt wurden, schrieb Lajos Szabó, ein Geistlicher der reformierten Kirche, in seiner 1935 veröffentlichten Broschüre Antikrisztus a Tiszánál (Antichrist an der Theiß): „Es war ein Geniestreich, die Leute im Namen der Religion mit dem Bolschewismus zu füttern ... Marx nahm die Gestalt Christi an ... Der Antichrist war in seiner roten Robe hier mit Jehovas Zeugen.“
Jahre unter Verbot
Das Werk der Zeugen Jehovas wurde 1939 völlig verboten. Man brandmarkte es als eine Tätigkeit „gegen die Religion und gegen die Gesellschaft“. Adventisten, Baptisten, Presbyterianer und andere protestantische Gruppen gaben Pamphlete gegen die Zeugen heraus. Aber Jehova ließ seine Diener nicht im Stich, und Zeugen aus anderen Ländern kümmerten sich um sie. Außerdem hatte Gottes Volk in Ungarn viele glaubensstärkende Erlebnisse.
Als zum Beispiel ein Bruder einen Rucksack voll Zeitschriften aus der Tschechoslowakei mitbrachte, fragte ihn der Zollbeamte: „Was haben Sie in Ihrem Rucksack?“ Der Bruder antwortete ehrlich: „Wachttürme.“ Darauf machte der Beamte eine Handbewegung, als wollte er zeigen, daß der Bruder verrückt sei, und ließ ihn weitergehen. Folglich kam die geistige Speise sicher in Ungarn an.
Doch die Schikanen hörten nicht auf. Immer mehr Brüder wurden festgenommen und verschieden lange gefangengehalten. Dann erhielt eine besondere Gruppe von Ermittlern den Auftrag, gegen Jehovas Zeugen scharf durchzugreifen. 1942 wurden Männer, Frauen und Kinder zusammengezogen und in Ställe und leerstehende jüdische Schulen gebracht. Nachdem man sie zwei Monate lang gefoltert hatte, wurden sie vor Gericht gestellt und verurteilt. Einige erhielten lebenslange Freiheitsstrafen, andere wurden zu 2 bis 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Für drei Brüder — Dénes Faluvégi, András Bartha und János Konrád — lautete das Urteil: Tod durch Erhängen; doch die Strafen wurden später in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Dann brachte man 160 Brüder in das Todeslager bei Bor. Nach dem Grenzübertritt wurde ihnen gesagt, daß sie auf keinen Fall lebendig zurückkehren würden. Von den 6 000 deportierten Juden, die in dieses Lager kamen, überlebten nur 83. Jedoch kehrten, bis auf vier, alle Zeugen zurück.
Das heißt nicht, daß es keine Märtyrer unter Jehovas Zeugen gab. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges richteten die Nationalsozialisten eine Anzahl Brüder hin. Bertalan Szabó, János Zsondor und Antal Hónis wurden erschossen, und Lajos Deli wurde erhängt (Matthäus 24:9).
Die Lage bessert sich — doch nur vorübergehend
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Situation erneut. Eine Koalitionsregierung versprach, die Menschenrechte zu wahren. Die Brüder kamen aus den Lagern zurück und begannen sofort, zu predigen und Versammlungen zu organisieren. Nach ihrem Empfinden hatte Jehova ihnen die Freiheit geschenkt, damit sie seinen großen Namen preisen konnten, nicht, um materiellen Besitz aufzuhäufen. Ende 1945 gab es 590 aktive Königreichsverkündiger. 1947 kaufte man eine Villa, die als Zweigbüro der Watch Tower Society dienen sollte, und hielt in einer Sporthalle den ersten Landeskongreß ab. 1 200 Personen waren anwesend, und die Ungarische Staatsbahn gewährte den Kongreßbesuchern eine 50prozentige Fahrpreisermäßigung.
Die Freiheit währte jedoch nicht lange. Bald kam die kommunistische Partei an die Macht, und es gab einen Regierungswechsel. Das Anwachsen des Volkes Jehovas erregte die Aufmerksamkeit der neuen Regierung, denn die Zahl der Verkündiger war von 1 253 im Jahre 1947 auf 2 307 im Jahre 1950 gestiegen. In jenem Jahr begannen Regierungsbeamte das Predigtwerk zu behindern. Es waren Genehmigungen erforderlich, doch die Regierung weigerte sich, diese zu erteilen, und wer sich darum bemühte, wurde von der Miliz geschlagen. In Zeitungsartikeln wurden die Zeugen immer wieder als „imperialistische Agenten“ angeprangert. Interessanterweise hatte man die Zeugen, bevor die Kommunisten an die Macht kamen, in Lagern inhaftiert unter der Beschuldigung, „Handlanger der kommunistisch-jüdischen Weltverschwörung“ zu sein.
Der Terror beginnt
Am 13. November 1950 wurden sowohl der Zweigaufseher und der Übersetzer (beide waren früher zum Tode verurteilt gewesen) als auch der Aufseher des ersten Kreises verhaftet. Man brachte sie in das berüchtigte unterirdische Gefängnis in der Andrássystraße 60 in Budapest, um sie gefügig zu machen. Ihr Prozeß fand im Jahr darauf am 2. Februar statt. Der Zweigaufseher wurde zu zehn Jahren, der Übersetzer zu neun Jahren und der Kreisaufseher zu acht Jahren Haft verurteilt. Das Eigentum von allen dreien konfiszierte man. Während des Prozesses wurden vier weitere Versammlungsaufseher unter der Anklage, einen Umsturz geplant zu haben, zu Gefängnisstrafen zwischen fünf und sechs Jahren verurteilt.
Die Brüder wurden in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht und durften weder Briefe noch Pakete, noch Besucher empfangen. Ihre Angehörigen hörten nichts von ihnen. Die Wachen durften nicht einmal ihre Namen erwähnen. Zur Identifikation hatte jeder ein hölzernes Schild mit einer Nummer darauf um den Hals hängen. An der Wand stand sogar zu lesen: „Bewache die Gefangenen nicht nur, hasse sie!“
Die Zeugen gingen in den Untergrund, aber das Predigtwerk kam nicht zum Stillstand. Andere Zeugen traten an die Stelle der Inhaftierten. Im Laufe der Zeit wurden auch sie gefangengenommen. Bis 1953 waren über 500 Brüder zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, doch die gute Botschaft konnte nicht mit Ketten gebunden werden. Nur wenige Brüder glaubten den verlockenden Versprechungen der Wachen und gaben die Wahrheit auf.
Glänzende Aussichten
Im Herbst 1956 lehnte sich das Volk gegen die Regierung auf. Die sowjetischen Streitkräfte schlugen den Volksaufstand nieder, und die kommunistische Partei gewann die Macht zurück.
Alle inhaftierten Zeugen waren freigelassen worden, doch dann mußten einige bekannte Brüder wieder ins Gefängnis, um ihre Strafen abzubüßen, allerdings gab es keine neuen Verurteilungen. 1964 besserte sich endlich die Situation. Die Obrigkeit unternahm nichts mehr, um Beerdigungen und Hochzeiten zu stören. Man hielt Kreiskongresse im Wald ab. Hin und wieder kam es dabei zu Störungen, aber es kamen keine weiteren Zeugen ins Gefängnis.
Brüder, die Aufsichtsstellungen innehatten, durften 1979 den Kongreß in Wien besuchen. Im gleichen Jahr versprachen die Behörden, Jehovas Zeugen rechtlich anzuerkennen, doch bis das tatsächlich geschah, vergingen noch einmal zehn Jahre. 1986 wurde mit Wissen der Behörden im Jugendpark des Kamarawaldes der erste Bezirkskongreß abgehalten. Man stellte sogar ein Schild auf, auf dem stand, daß dies der Bezirkskongreß „Göttlicher Frieden“ sei, den Zeugen Jehovas abhielten. Ein Jahr später wurde der Kongreß „Vertraue auf Jehova“ durchgeführt, und 1988 freuten sich die Brüder über den Kongreß „Göttliches Recht“.
Endlich frei!
Der 27. Juni 1989 war ein herrlicher Tag, denn an diesem Tag erhielten die Brüder ein Dokument, in dem die Religionsorganisation der Zeugen Jehovas in Ungarn offiziell anerkannt wurde. Im Juli versammelten sich 9 477 Personen zum Kongreß „Gottergebenheit“ in der staatlichen Budapester Sporthalle. 1990 wurde dieselbe Halle für den Kongreß „Reine Sprache“ benutzt, und in drei anderen großen Städten Ungarns fanden ebenfalls Kongresse statt.
Da nun das Verbot vollständig aufgehoben worden war, konnte man den ersten internationalen Kongreß organisieren. Er wurde im Népstadion in Budapest durchgeführt, wo sich trotz schlechten Wetters 40 601 Personen herzlicher brüderlicher Liebe erfreuten. Die anwesenden Mitglieder der leitenden Körperschaft stärkten durch ihre Ansprachen den Glauben der Brüder; außerdem wurden auf diesem Kongreß neue Bücher und Broschüren mit farbigen Bildern freigegeben.
Was heute geschieht
Die ungarischen Ausgaben der Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! erscheinen jetzt gleichzeitig mit den entsprechenden englischen Ausgaben, und zwar in derselben schönen Aufmachung. 1992 begann man, das Jahrbuch in Ungarisch herauszugeben. Die Zahl der Verkündiger der guten Botschaft schnellte von 6 352 im Jahre 1971 auf 13 136 im Januar 1993 hoch.
Heute genießen Jehovas Zeugen in Ungarn Religionsfreiheit, und sie predigen frei von Haus zu Haus. Es gibt jetzt 205 Versammlungen, und 27 844 Personen besuchten am 17. April 1992 das Gedächtnismahl. Solange noch nicht genügend Königreichssäle zur Verfügung stehen, kommen die Versammlungen in Schulen, Kulturzentren, leerstehenden Kasernen und sogar in geräumten Büros der kommunistischen Partei zusammen. Bis 1992 hatten 10 Versammlungen ihren eigenen Königreichssaal der Bestimmung übergeben, und weitere Säle befinden sich im Bau.
Während all der Veränderungen und Revolutionen sind die Brüder treu auf der Seite Jehovas und seines Sohnes, Jesus Christus, geblieben, und sie haben nicht aufgehört zu predigen. Trotz der stürmischen Zeiten sind sie nicht vernichtet worden, denn Jehova hat sein Volk in Ungarn beschützt (Sprüche 18:10).
[Karte auf Seite 9]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Wien
ÖSTERREICH
Budapest
Debrecen
UNGARN
RUMÄNIEN
[Bild auf Seite 10]
In Budapest versammelte Diener Jehovas