Deutschland (Teil 2)
„SCHAFE“ IM GEFÄNGNIS GEFUNDEN
Im Gefängnis kamen die Brüder mit allen Arten von Menschen zusammen, und natürlich erzählten die ihnen, soweit es möglich war, von ihrer Hoffnung. Wie groß war doch ihre Freude, wenn einer ihrer Mitgefangenen die Wahrheit annahm! Von einer solchen Erfahrung berichtet uns Willi Lehmbecker. Er war in einem Gefängnis mit vielen anderen Gefangenen in einem Schlafsaal untergebracht, in dem das Rauchen erlaubt war:
„Ich hatte mein Bett oben. Der unter mir lag, nebelte mich dermaßen ein, daß ich kaum atmen konnte, aber ich konnte ihm, wenn alles schlief, von der Bibel und von Gottes Vorhaben mit den Menschen erzählen und hatte dabei einen sehr aufmerksamen Zuhörer. Dieser junge Mann war politisch eingestellt und war wegen illegaler Zeitschriftenverbreitung in Haft genommen worden. Wir gaben uns das gegenseitige Versprechen, wenn wir wieder frei seien und noch am Leben seien, uns gegenseitig zu besuchen. Aber es kam anders. 1948 traf ich ihn wieder, und zwar bei unserem Kreiskongreß. Er erkannte mich sofort und begrüßte mich freudig. Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Er wurde nach Verbüßung seiner Strafe entlassen, anschließend zum Militär eingezogen und kam an die Front nach Rußland. Hier hatte er Gelegenheit, über alles nachzudenken, was ich ihm erzählt hatte. ... Schließlich sagte er zu mir: ‚Heute bin ich dein Bruder geworden.‘ Könnt ihr verstehen, wie mich das bewegte und wie ich mich freute?“
Hermann Schlömer hatte eine ähnliche Erfahrung. Es war ebenfalls auf einem Kreiskongreß, als ein Bruder auf ihn zukam und ihn fragte: „Kennst du mich noch?“ Bruder Schlömer antwortete: „Dein Gesicht ist mir bekannt, aber ich weiß nicht, wer du bist.“ Darauf gab sich der Bruder als der Gefängniswärter vom Gefängnis in Frankfurt-Preungesheim zu erkennen, der Bruder Schlömer während seiner fünfjährigen Einzelhaft zu beaufsichtigen hatte. Bruder Schlömer hatte dem Wärter viel über die Wahrheit erzählt. Er hatte ihn auch gebeten, ihm eine Bibel zu besorgen, nachdem dies der Gefängnisgeistliche abgelehnt hatte. Der Gefängniswärter war menschlich eingestellt und brachte Bruder Schlömer eine Bibel. Damit er sich in seiner eintönigen Einzelhaft etwas beschäftigen konnte, brachte ihm dieser Gefängniswärter die Strümpfe seiner Familie zum Stopfen. Ja, Bruder Schlömer hatte wirklich Grund zur Freude, als er feststellen konnte, daß in diesem Fall Jehovas Wort auf fruchtbaren Boden gefallen war.
DIE GEISTIGE SPEISE WIRD KNAPP
Die geistige Speise begann in Deutschland knapp zu werden. Wie gefährlich es für den einzelnen, aber auch für ganze Gruppen ausgehen konnte, wenn der Kontakt zur Organisation verlorenging und sie nicht länger die Gelegenheit hatten, geistige Speise zu erhalten, berichtet uns Heinrich Vieker:
„Als die Nazis an die Macht kamen, waren wir zwischen 30 und 40 Verkündiger in unserer Versammlung. Das herausfordernde Auftreten dieses Systems veranlaßte bald viele Brüder, sich in den Schatten zu stellen und von der aktiven Tätigkeit zurückzutreten. Es war ungefähr die Hälfte der Verkündiger, die in dieser Zeit nicht mehr in Erscheinung trat. Das hatte zur Folge, daß wir im Umgang mit solchen, die sich zurückgezogen hatten, sehr vorsichtig sein mußten. Wir begrüßten sie zwar, wenn wir sie trafen, brachten ihnen aber keine Zeitschriften, wenn wir welche erhielten. Bei einer Besprechung wurden wir tatsächlich gewahr, daß außer 14 Brüdern alle zur Wahl gegangen waren.“
Natürlich bestand auch die Gefahr, daß einigen Brüdern die geistige Speise vorenthalten wurde, weil sie aus irgendeinen unglücklichen Umstand in den Verdacht gerieten, sich von Jehovas Organisation zurückgezogen zu haben. Dies widerfuhr Grete Klein und ihrer Mutter in Stettin. Hören wir ihre Erfahrung:
„Wir versammelten uns in kleinen Gruppen in den Wohnungen verschiedener Brüder. Unser Versammlungsaufseher gab mir den Wachtturm, damit ich ihn auf Wachsmatrizen schriebe, so daß er vervielfältigt werden konnte. Doch nur für kurze Zeit, dann blieben die von mir so geschätzten Dienstaufträge aus, da die Brüder ängstlich geworden waren und fürchteten, entdeckt zu werden, besonders nachdem sie festgestellt hatten, daß mein Vater ein Gegner der Wahrheit war. Wir, meine Mutter und ich, erhielten nun nicht einmal eine Kopie des Wachtturms. Ja, die Furcht der Brüder ging so weit, daß sie uns auf der Straße überhaupt nicht mehr grüßten. Wir waren also beide vollständig von der Organisation abgeschnitten. In Stettin gab es nun keine Organisation von Bibelforschern mehr, denn obwohl in Freiheit, waren wir ohne Führer und ohne geistige Speise. ...
Daß andererseits Stillstand unbedingt Rückgang bedeutete, zeigte sich bald in meiner geistigen Verfassung. Als der Krieg ausbrach, betete ich immer noch für unsere geistigen Brüder in den Konzentrationslagern, bald aber auch für meine fleischlichen Brüder, die mit fleischlichen Waffen in Rußland und Griechenland kämpften. Dabei kam mir nicht einmal zum Bewußtsein, daß das falsch war. Oftmals kam mir sogar der Gedanke, ob es überhaupt möglich sei, eine neue Ordnung unter Gottes Königreich zu errichten.
Außer mir gab es in der Stettiner Gruppe noch viele Jugendliche, die nicht wußten, wo sie standen. Einige junge Männer, wie Günter Braun, Kurt und auch Artur Wiessmann, standen in der Wehrmacht und kämpften mit weltlichen Waffen. Kurt Wiessmann wurde sogar im Felde getötet. Ein wichtiger Grund für unsere negative Haltung war offensichtlich, daß die verantwortlichen Brüder in der Stettiner Gruppe der Menschenfurcht erlegen waren. ...
Andererseits sind gerade diese Brüder, die in der damaligen Zeit versagten, ein Beispiel für Jehovas Langmut, Liebe und Vergebung, weil, wie mir bekannt geworden ist, einige nach dem Wiederaufbau der Organisation ihren Lauf aufrichtig bereuten und von Jehova wieder in seine Gunst aufgenommen wurden. Einige von ihnen stehen heute noch als Vollzeitdiener im Dienste Jehovas, wie zum Beispiel unser früherer Versammlungsaufseher in Stettin, der aus Menschenfurcht die Brücke zu mir und meiner Mutter abbrach und sich mit seiner Frau in ein Gebiet zurückzog, wo sie völlig unbekannt waren. Doch wie habe ich mich gefreut, als ich sie bei meinem Dienstantritt im Bethel in Wiesbaden wiedertraf und seitdem beobachten konnte, wie beide bis ins hohe Alter noch als Pioniere tätig sind. Viele der Brüder, die durch seine Handlungsweise im Konzentrationslager und im Gefängnis viel leiden mußten, hatten es jedoch schwer, ihm zu vergeben. Schließlich war ihnen aber Jehovas Barmherzigkeit eine große Hilfe und ein großes Vorbild.“
UNSICHERHEIT IN MAGDEBURG UND AN ANDEREN ORTEN
Wenn wir in unserem Bericht noch einmal zum Jahre 1933 zurückkehren, zu dem Jahr, in dem Hitler Reichskanzler wurde, stellen wir fest, daß Bruder Rutherford bald erkannte, daß es die deutsche Regierung auf unser Gebäude und auf die wertvollen Druckmaschinen abgesehen hatte. Daher bemühte er sich sehr, den zuständigen Behörden nachzuweisen, daß es sich bei der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft um eine Tochtergesellschaft der Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania handle und demzufolge das Eigentum der Gesellschaft in Magdeburg — das zu einem beachtlichen Teil aus Spenden von Amerika bestand — in Wirklichkeit amerikanisches Eigentum sei. Unter diesen Umständen war Bruder Balzereit als deutscher Staatsbürger nur in beschränktem Maße in der Lage, erfolgreich für die Freigabe des amerikanischen Eigentums zu kämpfen. Bruder Rutherford bat daher Bruder Harbeck, den Zweigaufseher in der Schweiz, in die Auseinandersetzung einzugreifen und dabei von seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft Gebrauch zu machen.
Bruder Balzereit, der es sich erwählt hatte, aus Sicherheitsgründen in die Tschechoslowakei zu ziehen, meinte nun, er werde in seiner Kompetenz eingeschränkt, und fühlte sich in seinem Ehrgeiz getroffen. Doch er zeigte nur sehr wenig Lust, nach Deutschland zurückzukehren und persönlich die Verhandlungen zu leiten, die im Hinblick auf die Rückgabe des Eigentums der Gesellschaft geführt wurden, und seine Brüder in ihrem Glaubenskampf zu unterstützen. Gleichzeitig beschuldigten Bruder Balzereit und verschiedene andere Brüder, die in der Auseinandersetzung auf seiner Seite Stellung bezogen hatten, Bruder Harbeck der Nachlässigkeit in der Wahrnehmung der Interessen des Werkes in Deutschland, während wieder andere an Bruder Rutherford wegen Bruder Balzereit telegrafierten.
Bruder Rutherford antwortete Balzereit wie folgt: „Geh nun nach Magdeburg zurück und bleibe dort, übernimm die Aufsicht und tu, was Du kannst, aber unterrichte Bruder Harbeck über alles. ... Es wäre bestimmt nicht nötig gewesen, mich um die Erlaubnis zu bitten, nach Deutschland zurückkehren zu dürfen, da Du — soweit es mich betrifft, und das weißt Du sehr wohl — die ganze Zeit dort hättest bleiben können. Du aber hast mich glauben gemacht, Deine persönliche Sicherheit sei davon abhängig, Dich außerhalb des Landes aufzuhalten.“
So neigte sich das Jahr 1933 dem Ende zu, ohne daß irgendeine Einheit bezüglich des Abhaltens regelmäßiger Zusammenkünfte und der Durchführung des Predigtwerkes erreicht worden wäre. Hans Poddig beschreibt diese Situation folgendermaßen: „So entstanden zwei Klassen. Die Furchtsamen sagten zu uns, wir seien ungehorsam und brächten sie und das ganze Werk Jehovas in Gefahr.“ Ein Brief, den Bruder Harbeck im August 1933 schrieb, wurde unter den deutschen Brüdern weit verbreitet, und die Furchtsamen benutzten ihn in ihren Diskussionen als Beweis dafür, daß sie sich richtig verhielten. Unterdessen veröffentlichte die Gesellschaft im Wachtturm einen Artikel unter der Überschrift „Fürchtet euch nicht!“, in dem die Handlungsweise derer unterstützt wurde, die trotz zunehmender Verfolgung und Mißhandlung der Stimme ihres Gewissens gefolgt waren und sich in kleinen Gruppen versammelt und das Predigtwerk im Untergrund fortgesetzt hatten. Dieser Artikel zeigte ihnen, daß ihre Handlungsweise in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen war.
Die Verhandlungen um die Freigabe des Eigentums in Magdeburg waren gescheitert, so daß Bruder Rutherford am 5. Januar 1934 an Bruder Harbeck schrieb: „Ich habe wenig Hoffnung, noch irgend etwas von der deutschen Regierung herauszubekommen. Ich bin der Meinung, daß dieser Flügel der Organisation Satans unser Volk weiter bedrücken wird, bis der Herr einschreitet.“
Unterdessen hatte Bruder Rutherford weitere Briefe von Brüdern in Deutschland erhalten, die ihm eine genauere Vorstellung über den Zustand des Werkes in Deutschland und auch über die geistige Haltung der Brüder vermittelten. Einer dieser Briefe, den Bruder Poddig geschrieben hatte, handelte von dem Wachtturm-Artikel „Fürchtet euch nicht!“ Es hieß darin, einige der Brüder würden sich weigern, diesen Wachtturm als „Speise zur rechten Zeit“ anzuerkennen. Einige versuchten sogar, die Brüder von jeglicher Predigttätigkeit im Untergrund abzuhalten. Bruder Rutherfords Antwort wurde an alle Brüder weitergeleitet. Sie besagte unter anderem: „Der Artikel ,Fürchtet euch nicht!‘, der im Wachtturm vom 1. Dezember erschien, wurde besonders zum Nutzen unserer Brüder in Deutschland geschrieben. Es ist überraschend, daß irgendwelche Brüder sich denen widersetzen sollten, die bestrebt sind, Gelegenheiten, für den Herrn zu zeugen, zu nutzen. ... Der oben erwähnte Artikel bezieht sich auf Deutschland ebensosehr wie auf alle anderen Teile der Erde. Er betrifft insbesondere den Überrest, wo immer er auch sein mag. ... Daraus folgt, daß der Bücherverwalter, der Dienstleiter, der Werkführer oder irgend jemand sonst keinerlei Recht hat, Euch zu sagen, was Ihr tun sollt, und Euch nicht mit Literatur zu versehen, wenn solche vorhanden ist. Eure Tätigkeit im Dienste des Herrn ist nicht ungesetzlich, denn Ihr verrichtet sie im Gehorsam gegen des Herrn Gebot ...“
PLÄNE FÜR EIN VEREINTES HANDELN IN BASEL GESCHMIEDET
Vom 7. bis 9. September 1934 wurde ein Kongreß in dem Mustermesse-Gebäude in Basel (Schweiz) organisiert. Bruder Rutherford hoffte, dort eine Anzahl Brüder aus Deutschland zu treffen, um von ihnen etwas aus erster Hand über die tatsächliche Situation in diesem Land zu erfahren. Unter großen Schwierigkeiten gelang es fast 1 000 Brüdern aus Deutschland, den Kongreß zu besuchen. Später berichteten sie, wie erschüttert Bruder Rutherford war, als er persönlich hörte, wie die Brüder bis dahin schon hatten leiden müssen.
Andererseits mußte er erkennen, daß selbst die reisenden Aufseher, die anwesend waren, hinsichtlich des Predigtwerkes nicht einer Meinung waren. Er sprach mit ihnen darüber, welche Schritte in Deutschland nach dem Kongreß unternommen werden sollten. Es wurden Pläne für ein vereintes Handeln geschmiedet.
Der 7. Oktober 1934 wird in der Erinnerung all derer, die das Vorrecht hatten, an den Ereignissen jenes Tages teilzunehmen, immer etwas Besonderes bleiben. An jenem Tag wurden Hitler und seine Regierung mit dem furchtlosen Handeln der Zeugen Jehovas — in seinen Augen eine lächerliche Minderheit — konfrontiert.
Nähere Einzelheiten enthielt ein Brief von Bruder Rutherford, von dem durch besondere Boten jeder Versammlung in Deutschland ein Exemplar zugestellt werden sollte. Gleichzeitig hatten die Boten den Auftrag, Zusammenkünfte, die an diesem bestimmten Tag in ganz Deutschland stattfinden sollten, vorzubereiten. In dem Brief Bruder Rutherfords hieß es auszugsweise:
„Jede Gruppe der Zeugen Jehovas in Deutschland versammle sich am Sonntag morgen, den 7. Oktober 1934, um 9 Uhr an einem geeigneten Platz ihres Wohnortes. Dann soll diese Mitteilung der versammelten Gruppe vorgelesen werden. Darauf werdet Ihr gemeinsam zu Gott beten und ihn durch Christus Jesus, unser Haupt und unseren König, um Führung, Schutz, Befreiung und um seinen Segen bitten. Unmittelbar darauf sollt Ihr an die Regierungsbeamten Deutschlands ein Telegramm senden, das vorher vorbereitet wurde. Dann möget Ihr eine kurze Zeit Euch dem Studium von Matth. 10:16-24 widmen. Indem Ihr dies tut, ‘stehet Ihr für Euer Leben ein’ (Esther 8:11); dann sollt Ihr die Versammlung schließen und hinausgehen zu Euren Nachbarn und ihnen Zeugnis geben vom Namen Jehovas Gottes und von seinem Königreich unter Christus Jesus.
Eure Geschwister auf der ganzen Erde werden Euer gedenken und zu gleicher Zeit ein ähnliches Gebet an Jehova richten.“
VEREINTE ERKLÄRUNG DES ENTSCHLUSSES, GOTT ZU GEHORCHEN
Natürlich mußten die Vorbereitungen unter größter Geheimhaltung durchgeführt werden. Darum wurde jedem Bruder, der damit zu tun hatte, zur Auflage gemacht, nicht einmal mit seiner eigenen Frau oder einem sonstigen Familienangehörigen über das zu sprechen, was für den 7. Oktober vorbereitet wurde. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen entstand im letzten Moment eine Situation, die verheerende Folgen hätte haben können, wenn nicht Jehovas mächtiger und schützender Arm gewesen wäre. Über das, was in Mainz geschah, berichtet Konrad Franke:
„Da ich schon früh, im Jahre 1933, das erste Mal in ein Konzentrationslager gebracht worden war und nach der Entlassung oft vor der Gestapo erscheinen mußte, die mich jedesmal für die organisierte Tätigkeit in dieser Stadt — wovon die laufenden Anzeigen Zeugnis ablegten — verantwortlich machte, habe ich bald Vorsorge treffen müssen, daß meine Post an eine Deckadresse gesandt wurde, die auch unserem damaligen Bezirksdienstleiter, Bruder Franz Merck, bekannt war. Aber aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen hat er mir nicht, wie es in Basel verabredet worden war, den Brief Bruder Rutherfords persönlich mit entsprechenden Anweisungen überbracht, sondern ihn wirklich in letzter Minute durch die Post an meine offizielle Adresse gesandt. Zum Glück war ich aber schon durch Bruder Albert Wandres, mit dem ich eng zusammenarbeitete, auf die Aktion aufmerksam gemacht worden und kannte so alle Einzelheiten, die dieser Brief enthielt. Da die kurze Zeit bis zum 7. Oktober verging, ohne daß ich diese wichtigen Informationen von Bruder Merck erhielt, traf ich inzwischen ohne seine Hilfe entsprechende Vorbereitungen für die vorgesehene Zusammenkunft bei Brüdern, die in einem Vorort von Mainz wohnten, an der nahezu zwanzig Personen teilnehmen sollten.
Zwei Tage zuvor mußte aber plötzlich eine Umorganisierung vorgenommen werden, weil der für die Zusammenkunft in Aussicht genommene Ort sehr gefährdet war. Nachdem allen in Frage kommenden Brüdern und Schwestern eine andere Adresse genannt worden war, entpuppte sich plötzlich eine Familie in dem Haus, wo wir nun am folgenden Morgen zusammenkommen wollten, als großer Gegner. Sie drohte, jede einzelne ihr als Zeuge Jehovas bekannte Person sofort verhaften zu lassen, die irgendwann in Zukunft das Haus betreten werde. Darum baten mich nun auch die Brüder, denen das Haus gehörte und bei denen wir am kommenden Morgen zusammenkommen wollten, doch davon Abstand zu nehmen. So wurde es notwendig, am 6. Oktober noch einmal alle Brüder zu besuchen, um ihnen einen dritten Ort bekanntzugeben, wo am kommenden Morgen um 9 Uhr die Zusammenkunft stattfinden sollte. Aber wohin sollten wir nun gehen? Alle Möglichkeiten schienen erschöpft zu sein. Nach gebetsvoller Überlegung entschloß ich mich trotz der damit verbundenen Gefahren, die Brüder in meine kleine Pionierwohnung einzuladen.
Als ich dann am 6. Oktober abends müde nach Hause kam, überreichte mir meine Frau einen Brief, den ein Beamter der Stadt noch zu später Stunde — also außerhalb der offiziellen Postzustellungszeit — gebracht hatte, obwohl er normal frankiert war und demzufolge von der Post nicht vordringlich befördert werden mußte. Als ich ihn öffnete, war es der Brief von Bruder Rutherford, den mir Bruder Merck auf diesem Wege zustellte, weil er wahrscheinlich keine Möglichkeit mehr sah, ihn mir noch rechtzeitig persönlich zu übergeben.
Die Begleitumstände waren aber für mich ein klarer Beweis dafür, daß dieser Brief, wie übrigens alle meine Privatpost, erst zur Gestapo gegangen war, die ihn ihrerseits mir auf diese ungewöhnliche Weise in die Hände spielte, offensichtlich in der Annahme, daß ich von der ganzen Aktion noch nichts wüßte, aber aufgrund des Inhaltes dieses Briefes noch während der Nacht alles so organisieren würde, daß sie am nächsten Morgen ohne besondere Anstrengung Gelegenheit hätte, uns aufzuspüren und alle zu verhaften. Ganz abgesehen davon hätte die Zeit auch noch ausgereicht, alle Dienststellen in Deutschland zu alarmieren und so am nächsten Morgen an verschiedenen Orten die versammelten Zeugen Jehovas mühelos zu verhaften.
Was sollte ich nun tun? Meine Wohnung, die sich in einem Gasthaus befand, war wirklich mehr als unsicher. Alle Bewohner dieses Hauses waren bis auf die Besitzerin, eine Schwester, deren Schlafzimmer direkt neben unserer Wohnung lag, erbitterte Gegner. Andererseits waren aber alle Möglichkeiten zusammenzukommen erschöpft. Darum entschloß ich mich, im Vertrauen auf die Hilfe Jehovas an der Sache nichts mehr zu ändern und die Brüder und Schwestern, die zu einem beachtlichen Teil in einem geteilten Haus lebten und von dem Zweck der Zusammenkunft noch nicht die geringste Ahnung hatten, nicht übermäßig zu beunruhigen. In meinem Innern war ich jedoch auf die nächste Verhaftung vorbereitet.
So kam denn der 7. Oktober. Morgens um 7 Uhr erschienen schon die ersten Brüder, denn das Kommen all derer, die eingeladen worden waren, mußte auf zwei Stunden aufgeteilt werden, damit es nicht so sehr auffiel. Als dann die Brüder nach und nach erschienen, waren sie alle in gespannter Erwartung, obwohl sie gemäß den gegebenen Anweisungen immer noch nicht über den Zweck der Zusammenkunft informiert worden waren. Es war aber niemand unter ihnen, der nicht fühlte, daß dies ein äußerst bedeutsamer Tag war. Alle, auch die Schwestern, deren Männer zum Teil große Gegner waren und von denen die meisten außerdem noch kleine Kinder zu betreuen hatten, machten den Eindruck äußerster Entschlossenheit und Bereitschaft, alles zu tun, was im Interesse der Rechtfertigung des Namens Jehovas notwendig war.
Zehn Minuten vor 9 Uhr waren nun alle in unserem kleinen Pionierzimmer versammelt. Ich selbst rechnete jeden Augenblick damit, daß die Gestapo mit einem großen Auto vorfahren und uns alle verhaften werde. Darum fühlte ich mich verpflichtet, nun den Brüdern die Situation zu erklären, ihnen aber auch noch die Möglichkeit zu bieten, von der Teilnahme an dieser Zusammenkunft Abstand zu nehmen, wenn ihnen die Folgen, die sich daraus ergeben könnten, zu schwer erscheinen sollten. Dann sprach ich zu ihnen: ,Die Situation ist so, daß wir in zehn Minuten alle verhaftet werden können. Ich möchte aber nicht, daß mir später einmal jemand von euch den Vorwurf macht, ich hätte ihn in diese Lage gebracht, ohne ihn über den Ernst der Situation zu informieren. Darum bitte ich euch, nehmt bitte eure Bibel zur Hand und schlagt mit mir 5. Mose, Kapitel 20 auf.‘ Dann las ich vor, was nach der Elberfelder Übersetzung in Vers 8 geschrieben steht: ,Wer ist der Mann, der sich fürchtet und verzagten Herzens ist? er gehe und kehre nach seinem Hause zurück, damit nicht das Herz seiner Brüder verzagt werde wie sein Herz.‘ Nachdem ich das vorgelesen hatte, sagte ich zu den Versammelten: ,Jeder, dem nun die Situation zu gefährlich erscheint, hat jetzt noch die Möglichkeit, von der Teilnahme an der Zusammenkunft Abstand zu nehmen.‘
Doch niemand, auch nicht die Schwestern mit einem gegnerischen Mann und mit kleinen Kindern zu Hause, dachte daran, sich jetzt aus Furcht zurückzuziehen. Was jetzt folgte, ist einfach unmöglich in menschliche Worte zu kleiden. Während der wenigen Minuten, die uns noch bis 9 Uhr verblieben, herrschte eine feierliche Stille im Raum. Offensichtlich vertrauten sich alle Anwesenden in einem stillen Gebet dem Schutze Jehovas an. Doch dann war es soweit. Es war Punkt 9 Uhr. Und während sich in meinen Sinn immer wieder der Gedanke einschleichen wollte, gleich werde im Hof die Gestapo vorfahren, eröffnete ich die Zusammenkunft mit einem Gebet. Plötzlich hatten wir alle das Gefühl, es habe sich ein fester, schützender Ring um uns gelegt, der nicht nur die gefährdeten Brüder in Deutschland, sondern auch die der ganzen Welt mit einschloß, die sich gemäß den gegebenen Anregungen in vielen Ländern zur gleichen Stunde versammelt hatten, um gegen die unmenschliche Behandlung ihrer Brüder in Deutschland bei Hitler zu protestieren, und natürlich auch ihre Zusammenkunft mit einem Gebet einleiteten.
Anschließend hielt ich eine Ansprache an die Brüder, indem ich die Hauptgedanken wiederholte, die Bruder Rutherford in seinem denkwürdigen Vortrag zur Ermunterung der deutschen Brüder in Basel besprochen hatte. Dabei ging es um den biblischen Beweis, daß wir trotz der veränderten Verhältnisse von Jehova nicht von unserer Pflicht entbunden worden seien, regelmäßig zusammenzukommen und sein Wort zu studieren und ihn anzubeten, aber auch nicht von der Pflicht, ihm als seine Zeugen zu dienen und öffentlich das Königreich bekanntzumachen. Da wir uns in unserer Wohnung schon seit dem Verbot bemüht hatten, diesen beiden Punkten gewissenhaft nachzukommen, waren uns all die Worte Bruder Rutherfords wie aus dem Herzen gesprochen.“
Darum stimmten auch alle begeistert dem folgenden Brief zu, der noch am gleichen Tag per Einschreiben an Hitler gesandt werden sollte:
„AN DIE REICHSREGIERUNG:
Das in der Heiligen Schrift enthaltene Wort Jehovas ist höchstes Gesetz. Es ist unsere einzige Richtschnur, weil wir uns Gott geweiht haben und wahre, aufrichtige Nachfolger Christi Jesu sind.
Im vergangenen Jahre haben Sie im Widerspruch zu Gottes Gesetz und in Verletzung unserer Rechte uns verboten, uns als Zeugen Jehovas zu versammeln, um Gottes Wort zu erforschen, ihn anzubeten und ihm zu dienen. In seinem Wort befiehlt uns Gott, unser Zusammenkommen nicht zu versäumen (Hebr. 10:25). Er befiehlt uns weiter: ‘Ihr seid meine Zeugen, daß ich Gott bin ..., geht und überbringet dem Volke meine Botschaft’ (Jes. 43:10, 12; 6:9; Matth. 24:14). Es besteht ein direkter Widerspruch zwischen Ihrem Gesetz und Gottes Gesetz. Wir folgen dem Rat der treuen Apostel und „müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen“, und das werden wir auch tun (Apg. 5:29). Daher teilen wir Ihnen mit, daß wir um jeden Preis Gottes Gebote befolgen, daß wir uns versammeln werden, um sein Wort zu erforschen, und daß wir ihn anbeten und ihm dienen werden, wie er geboten hat. Wenn Ihre Regierung oder Ihre Regierungsbeamten uns Gewalt antun, weil wir Gott gehorchen, so wird unser Blut auf Ihrem Haupte sein, und Sie werden Gott, dem Allmächtigen, Rechenschaft ablegen müssen.
Mit politischen Angelegenheiten haben wir nichts zu tun, sondern sind Gottes Königreich unter der Herrschaft Christi, seines Königs, völlig ergeben. Wir werden niemandem Leid oder Schaden zufügen. Es würde uns freuen, mit allen Menschen Frieden zu halten und ihnen nach Möglichkeit Gutes zu tun. Da aber Ihre Regierung und Ihre Beamten weiterhin versuchen, uns zum Ungehorsam dem höchsten Gesetz des Universums gegenüber zu zwingen, müssen wir Ihnen kundtun, daß wir durch seine Gnade Jehova Gott gehorchen wollen und daß wir ihm völlig vertrauen, daß er uns von aller Bedrückung und allen Bedrückern befreien wird.“
Jehovas Zeugen kamen auf der ganzen Erde am 7. Oktober zusammen, um ihre deutschen Brüder zu unterstützen, und nach einem vereinten Gebet an Jehova sandten sie ein Telegramm an die Hitlerregierung, das folgende Warnung enthielt:
„Ihre schlechte Behandlung der Zeugen Jehovas empört alle guten Menschen und entehrt Gottes Namen. Hören Sie auf, Jehovas Zeugen weiterhin zu verfolgen, sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten.“
Überraschenderweise wurden an jenem Tag nur wenige Brüder verhaftet, obwohl die Gestapo — wenn auch in letzter Minute — über alle Einzelheiten informiert worden war. Schalten wir uns noch einmal in den Bericht von Bruder Franke ein:
„Obwohl nun schon mehr als eine Stunde vergangen war, nachdem wir die Zusammenkunft durch ein Gebet zum Abschluß gebracht hatten, war doch noch niemand von der Gestapo erschienen. Nun begannen die ersten — wieder in gewissen Zeitabständen — die Wohnung zu verlassen. Als noch etwa acht Brüder anwesend waren, brach ich selbst auf und wollte mit dem Fahrrad in die Nachbarstadt Wiesbaden fahren, um den noch in der vorangegangenen Nacht geschriebenen und dort hinterlegten Brief selbst zur Post zu bringen, den die Brüder in Wiesbaden im Falle meiner Verhaftung, mit der ich ziemlich sicher gerechnet hatte, noch am gleichen Tag zur Post gegeben hätten. Als ich das Gartentor passierte, kam ein einzelner Gestapobeamter ebenfalls mit dem Fahrrad angefahren, ohne mich zu erkennen. Die restlichen acht Brüder konnten gewarnt werden und flüchteten in das an unsere Wohnung anschließende Schlafzimmer von Schwester Darmstadt, der das Haus gehörte. Die Fragen, die der Gestapobeamte dann bei einer Durchsuchung unserer kleinen Wohnung meiner Frau stellte, waren eine Bestätigung dafür, daß die Gestapo über unsere Zusammenkünfte genau informiert war. Trotzdem wurde niemand von den Brüdern, auch ich nicht, an diesem Tag verhaftet. Erst einige Monate später wurde mir bei einer erneuten Verhaftung von der Gestapo mitgeteilt, daß sie im Besitz des Briefes von Bruder Rutherford war.“
Während einige Brüder gleich im Anschluß an die Zusammenkunft zu ihren Nachbarn gingen, um deren Aufmerksamkeit auf Gottes Königreich zu lenken, herrschte auf vielen Postämtern außerhalb Deutschlands, besonders auf dem europäischen Kontinent, große Aufregung, weil man sich vielerorts weigerte, das Telegramm zu befördern. Das war auch in Budapest der Fall. Martin Pötzinger hatte dort an der Zusammenkunft teilgenommen und den Auftrag erhalten, das Telegramm zur Post zu bringen. Er berichtet: „Das Telegramm wurde angenommen, aber am nächsten Tag wurde mir per Karte vom Hauptpostamt mitgeteilt, daß ich persönlich vorsprechen möge. Wir dachten alle, die Gestapo würde mich dort in Empfang nehmen und mich des Landes verweisen, was das Ende meiner Tätigkeit bedeutet hätte. ... Aber es geschah nichts. Es wurde mir nur erklärt, daß Ungarn dieses Telegramm nicht absenden würde, worauf mir der entrichtete Betrag zurückerstattet wurde.“ In Doorn (Niederlande), wo der deutsche Kaiser, Wilhelm II., im Exil lebte, weigerte sich das Postamt zunächst, das Telegramm abzuschicken, unterrichtete aber später Hans Thomas, der es aufgegeben hatte, daß es abgeschickt und der Empfang von Berlin bestätigt worden sei.
Welche Wirkung die Briefe und besonders die Telegramme bei Hitler auslösten, geht aus einem von Karl R. Wittig verfaßten Bericht hervor, dessen Echtheit am 13. November 1947 von einem Notar in Frankfurt (Main) bestätigt wurde:
„ERKLÄRUNG — Am 7. Oktober 1934 suchte ich in meiner Eigenschaft als damaliger Bevollmächtigter General Ludendorffs nach vorausgegangener Aufforderung den damaligen Reichs- und Preußischen Minister des Innern, Dr. Wilhelm Frick, im seinerzeitigen Reichsministerium des Innern in Berlin, Am Königsplatz 6 auf, um von letzterem Mitteilungen entgegenzunehmen, die den Versuch enthielten, General Ludendorff zur Aufgabe seines ablehnenden Standpunktes dem nationalsozialistischen Regime gegenüber zu bewegen. Während meiner Unterredung mit Dr. Frick erschien plötzlich Hitler und beteiligte sich an den Verhandlungen. Als unser Gespräch zwangsläufig auch das bisherige Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes gegen die Internationale Bibelforscher-Vereinigung [Jehovas Zeugen] in Deutschland streifte, legte Dr. Frick Hitler eine Reihe aus dem Auslande eingelaufener Protesttelegramme gegen die Verfolgung der Bibelforscher im ,Dritten Reich‘ mit folgendem Bemerken vor: ,Wenn sich die Bibelforscher nicht gleichschalten, dann werden wir sie mit den schärfsten Mitteln anfassen‘, worauf Hitler aufsprang, seine Hände zusammenballte, sie erhob und hysterisch schrie: ,Diese Brut wird aus Deutschland ausgerottet werden!‘ Vier Jahre nach dieser Unterredung habe ich mich während meiner sieben Jahre dauernden zweiten Schutzhaft, die bis zu meiner Befreiung durch die Alliierten anhielt, in der Hölle der nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen, Flossenbürg und Mauthausen aus eigener Anschauung davon überzeugen können, daß es sich bei dem Wutausbruch Hitlers um keine leere Drohung gehandelt hat, denn keine Häftlingskategorie ist in den genannten Konzentrationslagern dem Sadismus der SS-Soldateska in einer solchen Weise ausgesetzt gewesen wie die Bibelforscher — ein Sadismus, der durch eine derartige nicht abreißende Kette physischer und seelischer Quälereien gekennzeichnet war, die keine Sprache der Welt wiederzugeben imstande ist.“
Nachdem wir unsere Briefe an Hitler abgeschickt hatten, setzte eine Welle der Verhaftungen ein. Am schlimmsten wurde Hamburg betroffen, wo die Gestapo nur wenige Tage nach dem 7. Oktober 142 Brüder verhaftete.
DIE UNTERGRUNDARBEIT WIRD ORGANISIERT
Da wir nun Hitler in unserem Brief vom 7. Oktober unterrichtet hatten, daß wir trotz des Verbots weiterhin ausschließlich Gottes Geboten gehorchen würden, bemühten wir uns, alle mutigen und einsatzwilligen Brüder und Schwestern zu kleinen Gruppen, die unter der Leitung eines reifen Bruders stehen sollten, zu organisieren, dessen Aufgabe es war, sich ganzherzig der Schafe des Herrn anzunehmen und sie zu weiden.
Das Land wurde in dreizehn Bezirke aufgeteilt, und in jedem Bezirk wurde ein Bruder mit guten Hirteneigenschaften zum „Bezirksdienstleiter“ — wie man damals sagte — ernannt. Es mußte ein Bruder sein, der ungeachtet der damit verbundenen Gefahren bereit war, die kleinen Gruppen aufzusuchen, um sie mit geistiger Speise zu versorgen, sie in ihrer Predigttätigkeit zu unterstützen und im Glauben zu stärken. Mit wenigen Ausnahmen wurden solche Brüder in diese Stellungen eingesetzt, die den Brüdern bis dahin völlig unbekannt waren. Sie hatten jedoch seit Hitlers Machtergreifung bewiesen, daß sie bereit waren, ihre persönlichen Interessen denen des Königreiches unterzuordnen.
VERVIELFÄLTIGUNG UND VERBREITUNG DES „WACHTTURMS“
Die Brüder vervielfältigten und verbreiteten Exemplare des Wachtturms an vielen verschiedenen Orten in ganz Deutschland. In Hamburg zum Beispiel fuhr Helmut Brembach fort, die Brüder in Schleswig-Holstein und in Hamburg mit den von ihm und seiner Frau nachts hergestellten Vervielfältigungen zu versorgen. Schwester Brembach erzählt die folgende Erfahrung, die nur eine von den vielen ist, die sie und ihr Mann gemacht haben:
„Es war vormittags, als es plötzlich klingelte, und zwar heftiger als sonst. Als ich öffnete, standen drei Männer vor der Tür. Ich ahnte schon, worum es ging. ,Gestapo!‘ sagte einer, und schon kamen alle drei in die Wohnung. Das Herz schlug mir bis zum Hals, denn ich dachte an die vielen verbotenen Dinge, die sich in unserem Haus befanden. Während ich innerlich vor Erregung zitterte, betete ich zu Jehova.
Menschlich gesehen, wäre es kein Meisterstück gewesen, die verpackten Wachttürme und die ganze Ausrüstung zu ihrer Herstellung zu finden, denn unser Haus war ein Mehrfamilienhaus, in dem noch zwei Polizeibeamte wohnten. Darum gab es auch keine Versteckmöglichkeit, zumal der Umfang des notwendigen Materials — Papier, Trommel-Vervielfältiger, Schreibmaschine und Farbe sowie Verpackungsmaterial — sehr groß war. Da wir nicht wußten, wie wir die ganze Ausrüstung, die wir alle zwei Wochen immer wieder benötigten, vor den Augen der Unberechtigten verbergen sollten, beschlossen wir, alles in unsere Kartoffelkiste zu verpacken, die frei mitten im Keller stand und zu der auch die anderen Hausbewohner Zutritt hatten. Jedesmal, nachdem wir eine Auflage Wachttürme fertiggemacht hatten, verstauten wir alles in diese Kiste, deckten sie mit leeren Säcken zu und stapelten darauf bis an die Decke leere Tomatenkisten, in der Hoffnung, daß im Ernstfall die suchenden Männer blind waren oder aus Gleichgültigkeit und Trägheit Abstand davon nehmen würden, das alles abzuräumen, um auch die Kiste selbst durchsuchen zu können. So vertrauten wir auf Jehova, weil wir keinen anderen Weg sahen.
Jetzt fragte mich der Beamte, ob wir verbotene Literatur im Hause hatten. Um nicht lügen zu müssen, sagte ich: ,Bitte sehen Sie selbst nach.‘ Sie durchsuchten die Wohnung und verdeckten dabei mit der Tür des Waschtisches die Schreibmaschine, die wir vergessen hatten, in die Kiste zu packen. Wäre sie entdeckt worden, hätte man auch gewußt, daß es die Maschine war, mit der die Matrizen für die zu vervielfältigenden Wachttürme geschrieben wurden. Doch Jehova machte sie blind, und als sie in der Wohnung nichts fanden, wünschten sie in den Keller zu gehen. Nun schien mir die Entdeckung aller Materialien und Unterlagen unvermeidlich. Vor innerer Erregung schlug mein Herz noch heftiger, was ich aber vor den Beamten verbergen mußte. Dazu kam noch, daß hinter der Kiste ein ausschließlich mit Wachttürmen gefüllter Koffer stand, mit dem mein Mann am nächsten Tag auf die Reise gehen wollte. Doch was geschah? Die drei Beamten standen im Keller, wo mitten im Raum — wohlgemerkt, nicht an der Wand — die beschriebene Kiste stand und dahinter der mit Wachttürmen vollgepackte Koffer. Aber keiner schien sie zu sehen. Die Beamten schienen blind zu sein, denn keiner machte irgendwelche Anstrengungen, die Kiste zu durchsuchen oder wenigstens nachzusehen, was sich in dem Koffer befände. Schließlich fragte der leitende Beamte nach einem vorhandenen Dachboden, wo sie dann einige ältere Publikationen fanden. Zufrieden, etwas entdeckt zu haben, verließen sie wieder unser Haus. Das Wichtigste war ihnen dank der Hilfe Jehovas und seiner Engel verborgen geblieben.“
Viele ähnliche Fälle könnten berichtet werden, die zeigen, wie Jehova dafür sorgte, daß das Vervielfältigen lange Zeit durchgeführt und so sein Volk mit Literatur versorgt werden konnte.
ORGANISIERTER PREDIGTDIENST
Nicht jeder, der mit uns verbunden war, beteiligte sich am Predigtwerk. Im Gegenteil, in einigen Versammlungen war es nur die Hälfte. In Dresden zum Beispiel hatte die Versammlung einmal eine Höchstzahl von 1 200 Verkündigern erreicht, aber nach dem Verbot ging die Zahl schnell auf 500 zurück. Aber immerhin mögen es mindestens 10 000 gewesen sein, die sich zu jener Zeit in ganz Deutschland bereit erklärten zu predigen, und das ungeachtet der damit verbundenen Gefahren.
Zunächst arbeiteten die meisten nur mit der Bibel, während ältere Broschüren und Bücher, die vor dem Zugriff der Gestapo hatten gerettet werden können, bei Rückbesuchen abgegeben wurden. Andere fertigten Zeugniskarten an. Wieder andere schrieben Briefe an Personen, die sie kannten, wenn es einen besonderen Anlaß dazu gab. Die Tätigkeit von Tür zu Tür wurde fortgesetzt, obwohl große Gefahren damit verbunden waren. Jedesmal, wenn jemand die Tür öffnete, konnte es ein SA- oder ein SS-Mann sein. Nachdem die Verkündiger an einer Tür vorgesprochen hatten, gingen sie gewöhnlich in ein anderes Haus und in Fällen, in denen es besonders gefährlich war, sogar in eine andere Straße.
Mindestens zwei Jahre lang war es fast überall in Deutschland — an einigen Orten sogar noch länger — möglich, von Haus zu Haus zu predigen. Es besteht kein Zweifel, daß dies nur durch Jehovas besonderen Schutz möglich war.
Die kleinen Restbestände an Literatur, die die Brüder in ihrer Wohnung hatten, waren bald verbraucht. Wir überprüften daher Möglichkeiten, Literatur aus dem Ausland zu erhalten. Ernst Wiesner aus Breslau macht uns mit einigen interessanten Einzelheiten darüber, wie man dabei vorging, bekannt:
„Es handelte sich um Literatur, die von der Schweiz für uns in die Tschechoslowakei gesandt wurde. An der Grenze lagerten wir sie bei einer fremden Person und brachten sie von dort über den Kamm des Riesengebirges nach Deutschland. Die Arbeit, die von einem Team reifer, einsatzbereiter Brüder getan wurde, war äußerst gefährlich und sehr anstrengend. Der Grenzübergang mußte immer um Mitternacht erfolgen. Das Team unserer Brüder war gut organisiert und mit großen Rucksäcken ausgerüstet. Diese Reise machten sie wöchentlich zweimal, obwohl sie am Tage beruflich tätig waren. Im Winter benutzten sie Rodelschlitten und Skier. Sie kannten jeden Weg und Steg, hatten gute Taschenlampen, Ferngläser und auch gutes Schuhwerk. Vorsicht war ihr oberstes Gebot. Wenn sie sich um Mitternacht der deutschen Grenze näherten und auch wenn sie sie überschritten hatten, durfte lange Zeit kein Wort gesprochen werden. Zwei Brüder bildeten den Vortrupp. Begegneten sie irgend jemandem, ließen sie sofort ihre Taschenlampen aufleuchten. Das war für die Brüder, die ihnen mit schwerbepackten Rucksäcken in einer Entfernung von etwa 100 Metern folgten, das Zeichen, daß sie sich sofort seitwärts in die Büsche schlagen und warten mußten, bis die beiden Brüder, die die Vorhut bildeten, zurückkamen und sich durch ein bestimmtes Stichwort, das jede Woche geändert wurde, bemerkbar machten.
Solche Situationen konnten sich natürlich nachts mehrere Male wiederholen. Sobald dann die Luft wieder rein war, zogen die Brüder weiter ihres Weges, bis sie auf deutscher Seite ein bestimmtes Dorf und darin ein bestimmtes Haus erreicht hatten. Hier machten sie halt. Noch in derselben Nacht oder am frühen Morgen wurden die Bücher in kleine Pakete verpackt und beschriftet und beim Morgengrauen per Fahrrad nach Hirschberg und in andere Orte gebracht und dort zur Post gegeben. So erhielten die Brüder ... in verschiedenen Gebieten Deutschlands ihre Literatur. Diese Brüder, die als Team mit großem Eifer und außerordentlicher Geschicklichkeit vorgingen, konnten während eines Zeitraumes von zwei Jahren eine große Menge Literatur nach Deutschland bringen, ohne entdeckt zu werden, wodurch aber viele im ganzen Land sehr gestärkt wurden.“ Ähnliche Möglichkeiten gab es an der französischen Grenze, an der Grenze des Saargebietes, an der Schweizer und an der niederländischen Grenze.
Interessant in dieser Verbindung ist ein Brief, den eine Schwester schrieb: „Wenn Ihr die Berichte im Jahrbuch von Deutschland lest, werdet Ihr Euch fragen, wie es möglich ist, unter solchen Verhältnissen so viel Literatur abzusetzen. Wir fragen uns selbst. Aber wenn Jehova nicht für uns wäre, wäre es unmöglich, denn manche Geschwister werden auf ihren Gängen außerhalb ihres Hauses polizeilich beobachtet. ... Aber Jehova weiß es, er läßt uns trotzdem so viel Speise genießen, daß wir immer wieder gestärkt werden.“
Wir hatten genügend Zeit, die Literatur an verschiedenen Orten zu verstecken, bevor das Verbot ausgesprochen wurde. Um jedoch zu verstehen, was später geschah, ist es wichtig, im Sinn zu behalten, daß die Brüder keinerlei Erfahrung hatten, wie man Literatur unter Verbot am besten lagert. Statt sie unter viele Brüder zu verteilen, bestand daher am Anfang die Tendenz, sie in großen Depots aufzubewahren, was man für sicherer hielt, besonders in Anbetracht der Tatsache, daß die Verantwortlichen glaubten, das Verbot sei nur vorübergehend. In einigen der Depots konnten 30 bis 50 Tonnen Literatur untergebracht werden. Im Laufe der Zeit begannen sich jedoch einige der Brüder Sorgen zu machen und sich zu fragen, was geschehen würde, wenn die Feinde diese großen Depots finden und beschlagnahmen würden. Aus diesem Grund begannen die Brüder, die für die Depots verantwortlich waren, die Bücher für den Predigtdienst freizugeben, ganz gleich, ob sie für einen Beitrag abgegeben werden konnten oder nicht.
Nachdem es einmal klargeworden war, daß die Verfolgung anhalten würde und daß es immer gefährlicher sein würde, die Bücher in den Verstecken zu lassen, begannen die Brüder, so viele Bücher und Broschüren wie möglich abzugeben. Wenn sie in den Predigtdienst gingen, legten sie die Schriften einfach in die Wohnung, wenn niemand zusah, oder schoben sie unter die Fußmatte in der Hoffnung, sie würden in einigen Fällen in die Hände aufrichtiger Personen fallen, damit sie daraus Kraft und Hoffnung schöpfen könnten.
GEDÄCHTNISMAHL
Da wir entschlossen waren, in Übereinstimmung mit Jehovas Gebot unser Zusammenkommen nicht zu versäumen, versteht es sich von selbst, daß wir sehr gewissenhaft darauf achteten, das Gedächtnismahl zu feiern. An einem solchen Tag war die Gestapo besonders aktiv, die in den meisten Fällen das Datum der Gedächtnismahlfeier entweder aus Schriften, die außerhalb Deutschlands gedruckt worden waren, oder aus vervielfältigten Exemplaren des Wachtturms ermittelten, die manchmal in ihre Hände fielen. Ihre Wut konzentrierte sich besonders auf die Gesalbten, die nicht nur in Verbindung mit dem Gedächtnismahl, sondern auch in Verbindung mit Sonderfeldzügen erwähnt wurden. Sie sahen in ihnen die „Führer“ der Organisation, die zuerst vernichtet werden mußten, bevor die Organisation vernichtet werden konnte.
Das Gedächtnismahl am 17. April 1935 war besonders aufregend. Die Gestapo hatte das Datum schon einige Wochen zuvor erfahren und hatte ausreichend Zeit, all ihre Dienststellen zu informieren. In einem geheimen Rundschreiben vom 3. April 1935 hieß es:
„Ein überraschender Zugriff bei den bekannten Funktionären der Bibelforscher zu dem angegebenen Zeitpunkt dürfte u. U. erfolgversprechend sein. Um Erfolgsnachrichten bis zum 22. 4. 1935 wird ersucht.“
Von „Erfolgsnachrichten“ konnte aber kaum die Rede sein, denn die meisten Dienststellen, wie die in Dortmund, konnten nur berichten, daß die Wohnungen derjenigen, die als Führer der Bibelforschervereinigung angesehen wurden, überwacht, daß aber in keinem Fall Zusammenkünfte abgehalten worden seien. Zur Beruhigung fügte man hinzu: „Die leitenden und aktiven Anhänger der Bibelforscher im hiesigen Stadtbezirk befinden sich in Schutzhaft, so daß zur Organisation der Zusammenkünfte die Personen fehlen.“
Doch die Geheimpolizei irrte sich, denn kurz nachdem dieses geheime Rundschreiben abgeschickt worden war, erhielten wir ein Exemplar von einem Freund der Wahrheit, der zu solchen Geheiminformationen Zugang hatte. Die Bezirksdienstleiter warnten alle Diener rechtzeitig und gaben ihnen passenden Rat, wie sie der Entdeckung entgehen und dennoch dem Gebot unseres Herrn und Meisters gehorchen konnten.
So kam es, daß sich viele unmittelbar nach 18 Uhr versammelten, während andere erst den Besuch der Gestapo abwarteten und sich dann mit ihren Brüdern in kleinen Gruppen trafen, um das Gedächtnismahl mitten in der Nacht zu feiern. Jedenfalls mußten die meisten Gestapodienststellen einen ähnlichen Bericht absenden wie die in Dortmund.
Willi Kleissle berichtet, daß die Brüder in Kreuzlingen das Gedächtnismahl gleich nach 18 Uhr feierten. Es war ihnen geraten worden, bevor sie das Haus verließen, sollten sie in den Laden gehen, der sich in dem gleichen Gebäude befand und der einem Bruder gehörte, und dort könnten sie Zucker, Kaffee und ähnliche Waren kaufen. Dann sollten sie durch den regulären Ladenausgang hinausgehen. Die „Knüppelgarde“, wie Bruder Kleissle sie nannte, kam tatsächlich erst, als die Brüder schon alle in den Laden gegangen waren, so daß ihnen nichts nachgewiesen werden konnte. Aber die Fragen, die die Gestapo stellte, sowie verschiedene Äußerungen der Polizei zeigten deutlich, daß sie durch den Wachtturm das Datum der Gedächtnismahlfeier erfahren hatten.
Die Brüder waren jedoch immer auf Überraschungen vorbereitet, und das war gut. Sie versuchten, den Besuch der wöchentlichen Zusammenkünfte und vor allem auch die Teilnahme am Gedächtnismahl mit irgendeiner harmlosen alltäglichen Tätigkeit in Verbindung zu bringen, und das rettete sie oft vor der Verhaftung. Franz Kohlhofer aus der Gegend von Bamberg berichtet:
„An diesem Tage waren die Spitzel besonders auf die Häuser der Zeugen Jehovas scharf, in der Absicht, einige dabei zu überführen und sie dann zu verhaften. ... Und so waren wir schon einige Tage vorher übereingekommen, am Tage des Festes bei einem Bruder zusammenzukommen, der Schweine mästete, und bei ihm wollten wir unser Fest dem Jehova feiern. Jeder sollte in einem Korb die Abfälle von Kartoffeln mitbringen und sich mit diesem am Abend bei dem Bruder einfinden. Natürlich mußte dies alles in Eile geschehen; denn jederzeit konnte die Gestapo eintreffen. Zur Vorsicht nahmen wir auch noch Spielkarten mit, damit wir sie [die Polizisten] damit täuschen konnten falls sie uns überraschten. Und siehe da, eben hatte der Bruder das Schlußgebet zu Ende gesprochen, klopfte es schon an der Tür! In diesem Augenblick saßen wir vier aber schon ganz harmlos zusammen und spielten ,Schafskopf‘. Was sie für Augen machten, als wir sie ruhig und naiv anblickten! Da sie uns nicht überführt hatten, mußten sie unverrichtetersache wieder abziehen.“
TAUFEN
Nicht wenige von denen, die die Wahrheit in dieser Zeit kennenlernten, wurden unter den schwierigsten Umständen getauft. Bald wurden viele dieser Neugetauften ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager geworfen, und eine Anzahl von ihnen verlor ihr Leben genauso wie diejenigen, die ihnen die gute Botschaft überbracht hatten.
Paul Buder war schon im Jahre 1922 auf den „Millionen“-Vortrag aufmerksam geworden, kam aber erst 1935 mehr mit der Wahrheit in Berührung, als ihm ein junges Mädchen, das in dem gleichen Betrieb arbeitete wie er und vor dem er von anderen gewarnt worden war, das Buch Schöpfung gab. „Das war am 12. Mai 1935“, so heißt es in seinen Lebenserinnerungen. „Das hatte ich gesucht! Am 19. Mai 1935 trat ich dann aus der Kirche aus und sagte dem Mädchen, daß ich ein Zeuge Jehovas werden möchte. Oh, wie sie sich freute! Sie war schon sechs Wochen im Gefängnis gewesen, weil sie als eine ,Kolporteurin‘ betrachtet wurde. Dann bekam ich Verbindung mit Bruder und Schwester Woite aus der Versammlung Forst (Lausitz). In dieser Versammlung hielt man mich für einen Spitzel der Nazis. Dessenungeachtet ging ich aber regelmäßig mit einer kleinen Luther-Bibel in den Dörfern von Haus zu Haus. Am 23. Juli 1936 wurde ich dann in der Neiße in Forst getauft — im Beisein von Bruder und Schwester Woite und einem älteren Bruder, der die Ansprache hielt.“
Taufen wurden oft in kleinem Rahmen in Privatwohnungen durchgeführt. Von Zeit zu Zeit fanden sie im Freien statt, manchmal mit nur wenigen Taufbewerbern, manchmal aber auch mit einer größeren Zahl. Heinrich Halstenberg berichtet uns über eine Taufe in der Weser folgendes:
„Im Jahre 1941 wurde von einer Anzahl interessierter Personen der Wunsch geäußert, sich taufen zu lassen. Als wir feststellten, daß in der Umgebung sehr viele den gleichen Wunsch hatten, suchten wir nach einem günstigen Platz, den wir in Dehme an der Weser fanden. Nachdem alles überlegt und sorgfältig geplant worden war, wurde die Taufe auf den 8. Mai 1941 festgesetzt. Schon mittags wurde der Platz von Brüdern und Täuflingen belegt. So kamen wir den anderen Badegästen zuvor. Dann wurden Posten aufgestellt, und nachdem wir noch einmal die Bedeutung der Taufe besprochen hatten, beteten wir gemeinsam zu Jehova. Dann gingen die Täuflinge zur Taufe ins Wasser. Es wurden an diesem Tag über 60 Personen in der Weser getauft und einige Alte und Kranke, die das kühle Wasser nicht vertragen konnten, privat in einer Badewanne, so daß die Gesamtzahl der Täuflinge 87 betrug.“
EINE MENSCHENJAGD BEGINNT
Albert Wandres war schon vor dem 7. Oktober 1934 als Bezirksdienstleiter tätig, und sein Name war der Gestapo bald gut bekannt, besonders durch die laufenden Gerichtsverhandlungen in verschiedenen Städten des Ruhrgebietes, wo er arbeitete. Als Antwort auf die Frage, woher die Angeklagten ihre Literatur erhalten hätten, war oft der Name „Wandres“ zu hören. Die Gestapo setzte alles daran, ihn in ihre Gewalt zu bekommen. Klugerweise hatte er jedoch alle Brüder, die Bilder von ihm besaßen, gebeten, sie ihm entweder zurückzugeben oder sie zu vernichten. So kam es, daß die Gestapo zwar seinen Namen kannte, aber keine Vorstellung hatte, wie er aussah. Er fiel seinen Verfolgern erst nach einer dreieinhalb Jahre dauernden Menschenjagd in die Hände. Hören wir zu, wie uns Bruder Wandres einige seiner Erfahrungen aus der Zeit der Untergrundarbeit erzählt.
„Eine Zeitlang traf ich mich u. a. mit einigen Brüdern von Düsseldorf bei einem Bruder, der ein Kolonialwarengeschäft hatte. Wir dachten, wenn wir kurz vor Ladenschluß durch den Laden hineingingen, fiele es am wenigsten auf. Einmal waren wir bei ihm wieder für eine Stunde versammelt, als plötzlich die Gestapo Einlaß begehrte. Ich flüchtete mit ein paar Schritten noch rechtzeitig vom Lebensmittelmagazin — wo wir unsere Besprechung abgehalten hatten — in den Laden. Dort war zum Glück bereits das Licht gelöscht. Schon im nächsten Moment stürmten die Eindringlinge in das Lebensmittelmagazin und verhafteten alle dort anwesenden Brüder und durchsuchten anschließend den ganzen Raum, wobei man auch auf meine mit Wachttürmen gefüllte Tasche stieß. Plötzlich rief einer der Beamten freudig erregt: ,Das ist ja, was wir suchen! Wem gehört die Tasche?‘ Niemand meldete sich. Er fragte ein zweites Mal: ,Wem gehört die Tasche?‘ Wieder keine Antwort. Jetzt wollte er von dem Bruder, dem das Geschäft gehörte, wissen, wo er seine Wohnung habe. ,Im dritten Stock‘ war dessen Antwort. ,Raus!‘ schrie jetzt der Gestapobeamte die Brüder an, die schnell die Treppe hinaufspringen mußten, gefolgt von den Beamten der Gestapo, die hofften, den Gesuchten oben in der Wohnung des Bruders zu finden.
Jetzt ging ich vorsichtig in das Lebensmittelmagazin zurück, zog meinen Mantel an, setzte mir den Hut auf, nahm meine Tasche in die Hand und vergewisserte mich, ob die Straße frei sei. Dann verließ ich schleunigst das Haus. Als die Herrschaften wieder herunterkamen, mußten sie zu ihrem Leidwesen feststellen, daß der Vogel ausgeflogen und schon wieder auf der Reise nach Elberfeld-Barmen war.“ Bruder Wandres fügt hinzu: „Dies läßt sich natürlich alles schön erzählen, aber es persönlich erleben ist etwas anderes.“
„Einmal“, so berichtet Bruder Wandres weiter, „brachte ich zwei schwere Koffer mit den Büchern Rüstung, die bei Trier über die Grenze gebracht worden waren, nach Bonn und Kassel. Spätabends kam ich in Bonn an, wo ich vorsichtshalber die Koffer beim Versammlungsdiener in den Keller stellte. Am anderen Morgen, etwa um 5.30 Uhr, klingelte es. Wieder war es die Gestapo, die kam, um eine Haussuchung durchzuführen. Bruder Arthur Winkler, der damalige Versammlungsdiener, klopfte an meine Tür und machte mich darauf aufmerksam, daß unerwünschter Besuch käme. Da keine Möglichkeit des Entkommens mehr war, ließen wir die Dinge auf uns zukommen. Als sie [die Polizisten] in mein Zimmer kamen, fragten sie mich, was ich hier tue, worauf ich kurz antwortete, daß ich mich auf einer Rheintour befände und dabei auch den Botanischen Garten in Bonn besuchen wollte. Dann wurden meine Papiere sorgfältig kontrolliert und mir — wenn auch sehr nachdenklich — zurückgegeben, während Bruder Winkler aufgefordert wurde, sich zum Mitgehen fertigzumachen. Im Polizeipräsidium angekommen, meldete einer der Beamten seinem Vorgesetzten — wie mir später Bruder Winkler erzählte —: ,Es war noch einer da!‘ ,Und wo habt ihr ihn?‘ ,Den haben wir nicht mitgenommen.‘ ,Den habt ihr nicht mitgenommen? Na, euch kann man ja schicken!‘ ,Warum?‘ fragte der Angesprochene zurück, ,sollen wir ihn auch holen?‘ ,Holen? Glaubt ihr etwa, der wartet, bis ihr wiederkommt?‘ Tatsächlich nahm ich, kurz nachdem die Beamten das Haus verlassen hatten, einen der beiden Koffer, die sie nicht gefunden hatten, und fuhr damit nach Kassel.
In Kassel angekommen, sagte mir der Versammlungsdiener, Bruder Hochgräfe: ,Du kannst hier nicht bleiben. Du mußt sofort die Wohnung wieder verlassen, denn seit acht Tagen besucht mich jeden Morgen die Gestapo.‘ Wir vereinbarten, daß er fünfzig Meter vor mir vorausgehe, um mir auf diese Weise den Weg zu dem Ort zu zeigen, wo ich die Literatur lassen könnte. Kaum waren wir zweihundert Meter auf der Straße, auf der schönen Kastanienallee, gegangen, als uns auch schon die dem Versammlungsdiener gut bekannten Gestapobeamten entgegenkamen. Da ich etwa fünfzig Meter hinter dem Versammlungsdiener herkam, konnte ich gut beobachten, wie sie ihn hämisch angrinsten, aber sie hielten ihn nicht auf. Wenige Minuten später war wieder einmal die Literatur in Sicherheit gebracht worden, durch die die Brüder im Glauben gestärkt werden sollten.
Ein andermal brachte ich zwei schwere Koffer mit Literatur nach Burgsolms bei Wetzlar. Es war abends elf Uhr, die Nacht war pechschwarz, so daß mich wirklich kaum jemand sehen konnte. Trotzdem hatte ich das unangenehme Gefühl, daß ich beobachtet wurde. Als ich schließlich bei meinem Ziel angekommen war, bat ich den Bruder sofort, erst die Koffer in Sicherheit zu bringen. Am anderen Morgen, gegen 5.30 Uhr, kam der Polizeiwachtmeister jenes Ortes. Ich stand mitten im Zimmer und war gerade im Begriff, mich zu waschen, als er, zu der Schwester hingewandt, sagte: ,Da ist gestern abend ein Mann mit zwei großen, schweren Koffern zu euch gekommen. Da haben Sie doch sicher wieder Literatur bekommen. Wo haben Sie die?‘ Darauf erwiderte die Schwester: ,Mein Mann ist bereits auf die Arbeit gegangen. Und was gestern abend stattfand, entzieht sich meiner Kenntnis, da ich nicht zu Hause war‘, worauf ihr der Wachtmeister entgegnete: ,Wenn Sie die Koffer nicht freiwillig herausgeben wollen, muß ich eben Haussuchung machen. Ich hole schnell den Bürgermeister, denn ohne diesen darf ich keine Haussuchungen durchführen. Bis dahin dürfen Sie aber das Haus nicht verlassen.‘ Während dieser ganzen Unterredung stand ich mitten im Zimmer und wunderte mich, warum der Beamte so glasige Augen hatte und mich überhaupt nicht ansprach. Ich konnte nur annehmen, daß er so mit Blindheit geschlagen war, daß er mich überhaupt nicht sah. Sogleich, nachdem er gegangen war, um den Bürgermeister zu holen, machte ich mich eilig fertig, ging hinaus und stellte mich hinter das Haus. Dort wartete ich, bis der Bürgermeister mit dem Gendarmeriewachtmeister das Haus durch den Haupteingang betrat. In diesem Augenblick entfernte ich mich durch den Gartenausgang. Nachbarn, die das beobachtet hatten, freuten sich offensichtlich über mein Entkommen. Erst im Wald habe ich mich fertig angezogen; darauf lief ich, so schnell es ging, zur nächsten Bahnstation und reiste weiter.“
Ähnliche Erfahrungen machten auch die übrigen Bezirksdienstleiter.
EIN PROZESS ANDERER ART
Während der Jahre 1934 bis 1936 standen treue Hirten ihren Brüdern in ganz Deutschland bei und ermunterten sie, die Zusammenkünfte zu besuchen und trotz der Verfolgung möglichst in allen Dienstzweigen tätig zu sein. Unterdessen fand am 17. Dezember 1935 ein Prozeß in Halle gegen Balzereit, Dollinger und sieben andere statt, die als „prominente“ Brüder angesehen wurden. Für mindestens die Hälfte von ihnen war dieser Prozeß das Ende ihrer christlichen Laufbahn.
Viele Brüder gaben bei den zahlreichen Prozessen, die damals in Deutschland stattfanden, offen zu, was sie getan hatten, um die Königreichsinteressen unter den schwierigen Verhältnissen zu fördern. Im Gegensatz dazu leugneten diese Männer bei dem Prozeß in Halle ab, jemals etwas getan zu haben, was die Regierung verboten hätte. Als Balzereit vom Vorsitzenden gefragt worden war, was er über seine eigene Person zu sagen habe, erklärte er, sobald das Verbot in Bayern verkündet worden sei, habe er Anweisungen herausgegeben, dort nicht zu arbeiten, und das gleiche treffe auch auf alle anderen Länder zu. Er sagte, er habe nie Anweisungen gegeben, durch die jemand ermuntert worden wäre, das Verbot zu mißachten.
Als Balzereit vom Vorsitzenden über die jährliche Gedächtnismahlfeier befragt wurde, antwortete er, auch er habe gehört, daß die Brüder planten, zusammenzukommen, um es trotz des Verbots zu feiern. Er habe sie jedoch davor gewarnt, da er gewußt habe, daß die Polizei an jenem Tag eine besondere Aktion plante.
Natürlich kam auch die persönliche Haltung des Angeklagten hinsichtlich des Militärdienstes zur Sprache, wie es bei allen Prozessen der Fall war, die damals stattfanden. Er erklärte, er stimme völlig mit der Meinung des Führers überein, nämlich, daß jeder Krieg ein Verbrechen sei, aber jedes Land das Recht und die Pflicht habe, das Leben seiner Bürger zu schützen.
Bald darauf schrieb Bruder Rutherford folgenden Brief an die deutschen Brüder:
„An Jehovas treues Volk in Deutschland!
Trotz der ruchlosen Verfolgung und der starken Opposition, die durch Satans Werkzeuge in Eurem Land über Euch gekommen sind, ist es erfreulich, zu wissen, daß der Herr immer noch einige Tausend in jenem Lande hat, die an ihn glauben und darauf bestehen, die gute Botschaft von seinem Königreich zu verteidigen. Eure Treue im Ausharren angesichts der Verfolgung und die Tatsache, daß Ihr dem Herrn treu bleibt, steht im auffallenden Gegensatz zu der Handlungsweise des früheren Leiters der Gesellschaft in Deutschland und derer, die mit ihm verbunden sind. Kürzlich wurde mir eine Kopie der Zeugenaussagen anläßlich des Verhörs in Halle gegeben, und ich bin erstaunt, daraus zu sehen, daß keiner von denen, die dort verhört wurden, ein treues, wahres Zeugnis für den Namen Jehovas ablegte. Es wäre besonders die Sache des früheren Leiters Balzereit gewesen, das Panier des Herrn zu erheben und sich angesichts jeder Opposition für Gott und sein Königreich zu erklären; aber es wurde kein Wort geäußert, wodurch er sein gänzliches Vertrauen auf Jehova gezeigt hätte. Immer wieder machte ich ihn auf Dinge aufmerksam, die in Deutschland getan werden könnten, und er versicherte, daß er jede Anstrengung mache, die Geschwister zu ermutigen, im Zeugnisgeben fortzufahren. Im Verhör aber erklärte er ausdrücklich, daß nichts getan worden sei. Es ist nicht notwendig, daß ich die Sache weiter diskutiere, es genügt, zu hören, daß die Gesellschaft nichts mehr mit ihm zu tun haben will noch mit irgendwelchen, die bei jenem Anlaß eine Gelegenheit hatten, für den Namen Jehovas und sein Königreich Zeugnis abzulegen, und verfehlten, dies zu tun. Die Gesellschaft wird keine Anstrengungen machen, sie aus dem Gefängnis zu befreien, selbst wenn sie irgend etwas tun könnte.
Alle, die den Herrn lieben, mögen nun ihr Angesicht Jehova und seinem Königreich zuwenden und trotz aller Opposition, die sich Euch entgegenstellt, treu und standhaft auf der Seite des Königreiches ausharren. ...“
Die Angelegenheit wurde im Wachtturm vom 15. Juli 1936 behandelt als eine Warnung für diejenigen, die den aufrichtigen Wunsch hatten, unter allen Umständen treue Zeugen für Jehova zu sein.
Im Gegensatz zu vielen treuen Brüdern in Deutschland, die zu Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren verurteilt worden waren, wurde Balzereit nur zu zweieinhalb und Dollinger zu zwei Jahren verurteilt. Nachdem Balzereit seine Strafe im Gefängnis verbüßt hatte, wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen überführt, wo er gezwungen war, eine äußerst unrühmliche Rolle zu spielen. Er hatte die Erklärung unterschrieben, durch die er sich von der Gemeinschaft mit den Brüdern lossagte, und vermied jeden Kontakt mit ihnen. Ein Jahr später wurde er wegen seines Benehmens entlassen, aber bis dahin mußte er manche Demütigung über sich ergehen lassen, denn die SS haßte im Grunde genommen Verräter. Die SS selbst gab ihm den Namen „Beelzebub“, und einmal verlangte ein SS-Mann von ihm, sich vor alle seine Brüder zu stellen — zu jener Zeit waren etwa 300 im Lager — und die von ihm unterschriebene Erklärung zu wiederholen, durch die er sich von der Gemeinschaft mit Jehovas Zeugen losgesagt hatte, und das tat er auch.
Im Jahre 1946, als Balzereit bereits ein heftiger Gegner der Wahrheit geworden war, schrieb er einen Brief an die Wiedergutmachungsbehörde und offenbarte darin die feindselige Einstellung, die er schon vor dem Prozeß gehabt hatte. Damit ging in der Geschichte des Volkes Gottes in Deutschland ein dunkles Kapitel zu Ende, dessen erste Absätze schon in den zwanziger Jahren geschrieben worden waren.
DIE GESTAPO SCHLÄGT ZU — 28. AUGUST 1936
Zwei Jahre eifriger Tätigkeit gingen vorüber, ohne daß es der Gestapo gelang, die organisierte Untergrundtätigkeit wesentlich zu beeinträchtigen, obwohl sie alle ihr bekannten Zeugen Jehovas sorgfältig beschattete. Aber im Laufe der Zeit erfuhr sie immer mehr über unsere Tätigkeit, und bald war sie über das, was wir taten, gut informiert. Um im Kampf gegen uns eine Hilfe zu haben, wurde gemäß einer vertraulichen Mitteilung der preußischen Geheimen Staatspolizei vom 24. Juni 1936 ein „Sonderkommando bei der Gestapo“ gebildet.
Während der ersten Hälfte des Jahres 1936 legte die Geheime Staatspolizei ein großes Archiv an, das die Anschriften von Personen enthielt, die in dem Verdacht standen, Zeugen Jehovas zu sein oder mindestens mit ihnen zu sympathisieren. Dieses Archiv stützte sich zu einem großen Teil auf die Adressen, die in dem bei Haussuchungen beschlagnahmten Buch Tägliches himmlisches Manna für den Haushalt des Glaubens zu finden waren. Für die Gestapoagenten wurden sogar Sonderkurse abgehalten. Sie wurden im Leiten des Wachtturm-Studiums geschult; sie mußten sorgfältig die neuesten Wachtturm-Artikel studieren, damit sie Fragen beantworten konnten, als wären sie Brüder. Schließlich mußten sie sogar lernen, Gebete zu sprechen. Dies alles hatte den Zweck, wenn möglich, in das Innere der Organisation vorzudringen, um sie von innen zu zerstören.
Anton Kötgen aus Münster berichtet, daß er, kurz nachdem er einer „freundlichen“ Dame Literatur zurückgelassen hatte, plötzlich verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde. „Zur gleichen Zeit“, so berichtet Bruder Kötgen weiter, „besuchten Gestapobeamte in meinem Garten meine Frau. Sie stellten sich als Brüder vor, dies aber nur, um Namen von anderen Brüdern zu erfahren. Meine Frau durchschaute jedoch ihre Absicht und entlarvte sie als Gestapobeamte.“ Aber nicht immer wurde die Gestapo rechtzeitig erkannt.
Inzwischen plante Bruder Rutherford eine Reise in die Schweiz und wollte, wenn möglich, bei dieser Gelegenheit mit Brüdern aus Deutschland sprechen. Es wurden Vorkehrungen für einen Kongreß in Luzern getroffen, der vom 4. bis 7. September 1936 stattfinden sollte. Das Zentralbüro in der Schweiz hatte vorgeschlagen, daß wir Berichte von Brüdern in ganz Deutschland zusammenstellen sollten, die z. B. von ihrer Verhaftung, ihrer Mißhandlung durch die Gestapo und ihrer Entlassung vom Arbeitsplatz wegen Verweigerung des Deutschen Grußes handelten, sowie Berichte über Fälle, in denen Brüder zufolge von Mißhandlungen gestorben waren. Diese Berichte sollten vor Beginn des Kongresses heimlich in die Schweiz gebracht werden, damit Bruder Rutherford die Gelegenheit hätte, sich damit zu beschäftigen.
Aber plötzlich, am 28. August 1936, schlug die Gestapo auf Kommando unbarmherzig zu und setzte eine Kampagne in Gang, während der Jehovas Zeugen wie Freiwild gejagt wurden. Alle verfügbaren Kräfte wurden aufgeboten, um Jehovas Zeugen bei Tag und Nacht — und besonders bei Nacht — einzufangen. Alle Informationen, die die Gestapo im Laufe der vorangegangenen Monate gesammelt hatte, erwiesen sich nun als eine große Hilfe für sie. Ahnungslose Personen, die nie bekannt hatten, Zeugen Jehovas zu sein, wurden in dem Netz eingefangen. Solche Personen berichteten der Gestapo natürlich gern alles, was sie über Jehovas Zeugen wußten, damit sie ihre Freiheit wiedererlangen konnten; und obwohl es oft den Anschein hatte, daß sie nur sehr wenig zu sagen hatten, halfen doch diese kleinen Teilinformationen der Gestapo, das Gesamtbild, das sie sich inzwischen erstellt hatte, zu ergänzen. Bei späteren Verhören rühmte sich die Gestapo oft, diese Informationen hätten ihr geholfen, Tausende von Personen zu fangen, von denen die Mehrheit ins Gefängnis gesteckt und später ins Konzentrationslager gebracht wurde.
Als die Kampagne der Gestapo schließlich auf Hochtouren lief, gelang es ihr in einer Großoffensive, Bruder Winkler, der damals für das gesamte Werk in Deutschland verantwortlich war, und die Mehrheit der Bezirksdienstleiter, deren Namen und Aufgabengebiete zum großen Teil schon bekannt waren, in ihre Gewalt zu bekommen. Die Gestapo maß dieser Kampagne eine solche Bedeutung bei, daß der gesamte Polizeiapparat eingesetzt wurde, um gegen Jehovas Zeugen vorzugehen, so daß die Verbrecherwelt „Schonzeit“ hatte.
Durch die sorgfältige Kleinarbeit, die die Gestapo im Laufe mehrerer Monate leistete, fand sie heraus, daß wichtige Besprechungen zwischen Bruder Winkler und anderen verantwortlichen Dienern aus ganz Deutschland im Berliner Tiergarten stattfanden. Das traf besonders während der wärmeren Jahreszeit zu. Diese Zusammenkünfte konnten lange getarnt werden, weil Bruder Varduhn dort einen Stuhlverleih betrieb. Er konnte den ankommenden Brüdern, ohne Verdacht zu erregen, sagen, an welcher Stelle des Tiergartens ein Bruder auf sie warten und sie zu einem sicheren Versteck geleiten würde, wo die Besprechung stattfinden sollte. Wenn Gefahr drohte, konnte er die Brüder einfach dadurch warnen, daß er zu ihnen ging und das Geld für die Stühle einkassierte, die sie „gemietet“ hatten. Aber diese wunderbare Einrichtung sollte nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben. Irgendwie wurden der Gestapo Einzelheiten bekannt, die ihr bei ihrem raffiniert ausgeheckten Schlachtplan zu Hilfe kamen. Bruder Klohe, der selbst in die Aktion verwickelt war, erzählt uns, was sich in jenen aufregenden Tagen in Berlin abgespielt hat:
„Ich freute mich sehr auf die Zusammenkunft in Luzern, denn ich hatte gute Aussichten, daran teilnehmen zu können, besaß ich doch sogar ein Visum für die Schweiz. Vorher fuhr ich aber noch einmal nach Leipzig, um organisatorische Fragen mit Bruder Frost zu besprechen, dessen Bezirk ich als Bezirksdienstleiter übernehmen sollte, nachdem durch die Verhaftung von Bruder Paul Großmann eine Lücke entstanden war. Ich erreichte aber Bruder Frost gar nicht; dort, wo ich ihn vermutete, nahm mich die Gestapo in Empfang. Zunächst war ich völlig benommen, denn gerade jetzt, wo ich eine solch beglückende Tätigkeit beginnen sollte, wurde ich plötzlich aus der Gemeinschaft der Brüder herausgerissen und zur Gestapo in der Stadt Leipzig gebracht. [Von dort aus brachte man ihn später nach Berlin.]
Inzwischen hatte die Gestapo erfahren, daß wir im Berliner Tiergarten einen Treffpunkt hatten, aber auch sonst war ihr offiziell viel über unsere Organisation bekanntgeworden. Natürlich braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß sie sich diese Informationen auf mannigfaltige Weise beschafft hatte, indem sie auch nicht vor schmutzigen Erpressermethoden zurückschreckte. ...
Wenige Tage später kamen plötzlich fünf Kriminalbeamte mit scharfgeladenen Pistolen zu mir, hießen mich meine Privatkleider anziehen und fuhren mit mir in die Nähe des Goldfischteiches, wo Bruder Varduhn gewerbsmäßig Gartenstühle vermietete. Ihn verdächtigten sie noch nicht, ein Zeuge Jehovas zu sein, denn bis dahin war die Aufmerksamkeit noch nicht auf ihn gefallen. Ich sollte jetzt als eine Art ,Fliegenleim‘ für meine Brüder dienen, die eventuell bei diesem geplanten — und der Gestapo bekanntgewordenen — Treffpunkt erscheinen würden.
Ich hatte kaum den mir bezeichneten Platz eingenommen, als auch schon unsere Schwester Hildegard Mesch auf mich zukam. Ihr war aufgefallen, daß ich nicht zu ihnen kam, da ich doch erwartet wurde, und wollte sehen, was mein Verhalten zu bedeuten habe. Da mir wegen der erhaltenen Schläge meine vereiterten Schienbeine Schmerzen verursachten, fiel es den Beamten nicht auf, daß ich mich in diesem Moment, als sie auf der anderen Seite des Weges an mir vorüberging, niederbeugte, mein Gesicht schmerzlich verzog und ihr mit den Augen verständlich zu machen suchte, daß sich die Gestapo im Tiergarten befände. Schwester Mesch hatte verstanden, stutzte leicht und begab sich auf einem Umweg wieder zu Bruder Varduhn, den sie über die neue Situation verständigte. Das bedeutete größte Gefahr für Bruder Winkler, der auch tatsächlich bald kam und sich ahnungslos auf einen freien Stuhl setzte. Bald darauf ging Bruder Varduhn zu ihm, kassierte von ihm ganz offiziell die Stuhlmiete und unterrichtete ihn gleichzeitig, daß sich Gestapobeamte im Tiergarten befänden. Darum stand Bruder Winkler bald wieder auf, ließ seine Tasche zurück und entkam — wie es schien — durch die Kette der Gestapobeamten. Später erfuhr ich, daß er sich noch spät in der Nacht in die Wohnung von Bruder Kassing begab, wo er aber schon von einer Menge wartender Gestapobeamter empfangen und sogleich verhaftet wurde.“
Schon nach wenigen Tagen waren mindestens die Hälfte der Bezirksdienstleiter in Deutschland zusammen mit Tausenden anderer Brüder und Freunde verhaftet worden. Darunter war auch Bruder Georg Bär, der folgendes berichtet:
„Jeden Abend gegen 10 Uhr hörte ich, wie aus verschiedenen Zellen Gefangene geholt wurden. Kurz danach hörte ich, wie sie unten im Keller geschlagen wurden; ich hörte auch ihr Schreien und ihr Weinen. ... Jeden Abend, wenn das Aufschließen begann, dachte ich: Jetzt bist du an der Reihe. Aber man ließ mich in Ruhe, bis ich am vierten oder fünften Tag abends gegen 6 Uhr zum Verhör geholt wurde. Diesmal war es ein SS-Mann, der mich in sein Zimmer führte und mich aufforderte, dort Platz zu nehmen. Dann sagte er zu mir: ,Wir wissen, daß Sie uns mehr erzählen können, als Sie wollen.‘ Er stand auf und nahm einen Bleistift, den er an einem Papierkorb anspitzte. Dann fuhr er in seiner Rede fort: ,Ich will es Ihnen nicht schwermachen, kommen Sie einmal her.‘ Er forderte mich auf, an seinen Schreibtisch zu treten, zeigte mir einige maschinegeschriebene Blätter und ließ sie mich lesen. Da standen all die Namen der Brüder, die in Deutschland reisten, als letzter auch meiner. Dann konnte ich die Namen der Versammlungen lesen, die wir besucht hatten, und auch die Namen der Brüder. Hier stand schwarz auf weiß, wieviel Literatur, Sprechapparate und Schallplatten wir bestellt hatten. Auch die Spenden und sonstigen Gelder, die wir abzuliefern hatten, waren aufgeführt. Ja, ich konnte es kaum glauben, unsere ganze Untergrundorganisation war hier aufgeführt und lag ausgebreitet in den Händen der Gestapo. Wahrlich, ich brauchte eine Weile, bis ich die Situation begriffen hatte. Woher, dachte ich, kann die Gestapo nur all diese Unterlagen haben? Ich hätte an der Echtheit des Berichtes noch gezweifelt, wenn nicht auch meine eigene Tätigkeit genau aufgezeichnet gewesen wäre. Der mich verhörende SS-Gestapo-Mann mit Namen Bauch aus Dresden ließ mir Zeit, meine Gedanken zu sammeln. Ich glaube, ich habe ein ziemlich dummes Gesicht gemacht, als ich mich wieder auf meinen Platz setzte. Dann sagte er zu mir: ,Nun hat es doch keinen Zweck mehr zu schweigen.‘
Monatelang hat mich der Gedanke gequält, woher die Gestapo all unsere Unterlagen hatte. Später habe ich dann erfahren, daß all unsere Bestellungen, Berichte und abgelieferten Gelder sorgfältig in Karteien eingetragen und aufbewahrt wurden, die dann alle von der Gestapo gefunden und beschlagnahmt wurden.“
MUTIGE TÄTIGKEIT VERWIRRT POLIZEI
Der sorgfältig geplante Kongreß in Luzern, der vom 4. bis 7. September 1936 stattfinden sollte, bekam plötzlich durch die Massenverhaftungen, die zwei Wochen zuvor eingeleitet worden waren, ein ganz anderes Gepräge. Vielleicht hat der Kongreß, von dem die Gestapo ebenfalls Kenntnis hatte, das Datum ihres Zuschlagens mitbestimmt. Jedenfalls wurde alles getan, um den Brüdern aus Deutschland die Teilnahme an diesem Kongreß unmöglich zu machen. Das geht aus einem geheimen Rundschreiben der Geheimen Staatspolizei vom 21. August 1936 hervor, worin es bezüglich der Brüder, die zu dem Kongreß reisen wollten, hieß: „Die Ausreise der betreffenden Personen ist zu verhindern. Der Reisepaß ist in diesen Fällen den Teilnehmern zu entziehen.“
Tatsächlich konnten von den mehr als 1 000 Personen, die die Reise geplant hatten, nur etwa 300 das Ziel erreichen. Aber die meisten von ihnen mußten die Grenze illegal überschreiten, und viele wurden auf dem Rückweg verhaftet.
Bruder Rutherford nahm natürlich die Gelegenheit wahr, mit den Dienern aus Deutschland, die anwesend waren, über ihre Probleme zu sprechen. Er war besonders daran interessiert, wie man den Brüdern geistig helfen könnte. Heinrich Dwenger war selbst zugegen und berichtet über die weitere Besprechung:
„Nun sollten die Bezirksdienstleiter Vorschläge machen. Sie schlugen vor, daß mich Bruder Rutherford wieder nach Deutschland zurücksenden sollte. Sie wünschten, daß ich selbst den Vorschlag einbringen sollte, aber ich sagte ihnen, daß ich das nicht könne, denn ich sei nach Prag gesandt worden und könne deshalb nicht sagen, daß ich wieder nach Deutschland möchte. Ich würde so den Eindruck erwecken, als wäre ich nicht mit meinem Auftrag zufrieden. So kam es, daß Bruder Frost zunächst die Verantwortung übertragen wurde. Dann fragte Bruder Rutherford: ,Was ist aber, wenn auch du verhaftet wirst?‘ Für diesen Fall wurde Bruder Dietschi von den Brüdern vorgeschlagen, die Verantwortung für das Werk in Deutschland zu tragen, wenn Bruder Frost verhaftet werden sollte.“
Es wurde eine Resolution gefaßt, und etwa zwei- bis dreitausend Exemplare wurden an Hitler und an Regierungsmitglieder in Deutschland geschickt. Ein weiteres Exemplar wurde an den Papst in Rom geschickt. Franz Zürcher aus Bern, der die Resolution am 9. September 1936 abgeschickt hatte, erhielt von der Post die Bestätigung, daß die Resolution an den Vatikan in Rom sowie an die Reichskanzlei in Berlin ausgeliefert worden sei. Die Resolution, die einen Umfang von dreieinhalb maschinegeschriebenen Seiten hatte, enthielt folgende Gedanken:
„Wir erheben scharfen Protest gegen die grausame Behandlung der Zeugen Jehovas durch die römisch-katholische Hierarchie und ihre Verbündeten in Deutschland und in allen anderen Erdteilen, aber wir überlassen gerne den Ausgang dieser Sache völlig der Hand des Herrn, unseres Gottes; denn nach seinem Worte wird er ihnen volle Vergeltung zuteil werden lassen. ... Wir senden herzliche Grüße an unsere verfolgten Geschwister in Deutschland und bitten sie, guten Mutes zu sein und sich völlig auf die Verheißungen des allmächtigen Gottes, Jehova, und auf Christus zu verlassen ...“
Es wurden Vorkehrungen getroffen, die angenommene Resolution durch eine Blitzkampagne einer großen Anzahl Menschen in Deutschland zugänglich zu machen. Von den 300 000 Exemplaren, die in Bern gedruckt wurden, wurden 200 000 nach Prag gesandt, und von dort wurden sie über die Grenze in die Nähe von Zittau und an einige Orte im Riesengebirge gebracht. Die anderen 100 000 Exemplare sollten über die Niederlande nach Deutschland gebracht werden, aber leider wurden sie in den Niederlanden beschlagnahmt. So mußten verschiedene Bezirksdienstleiter die fehlenden Exemplare für Berlin und Norddeutschland selbst herstellen. Als Datum der Verbreitung wurde der 12. Dezember 1936, 17 bis 19 Uhr festgesetzt.
Gemäß später erstellten Berichten nahmen 3 450 Brüder und Schwestern an der Aktion teil. Jeder hatte zwanzig bis höchstens vierzig Exemplare erhalten, und es galt, sie in dem zugeteilten Gebiet so schnell wie möglich zu verbreiten. Sie sollten einfach in Briefkästen gesteckt oder unter die Türen geschoben werden.
In jedem Haus wurde ein Exemplar zurückgelassen; in großen Wohnhäusern im allgemeinen nicht mehr als drei Exemplare. Dann eilten diejenigen, die die Flugblätter verteilten, in eine Nachbarstraße und gingen dort genauso vor, damit die Exemplare über ein möglichst großes Gebiet verteilt würden.
Die Wirkung auf die Gegner war verheerend. Erich Frost, der während der acht Monate, in denen er für das Werk in Deutschland verantwortlich war, mit dem Büro in Prag in enger Berührung stand, gab anläßlich eines seiner Besuche in Prag folgenden Bericht über diese Kampagne:
„Die Verteilung der Resolution hat sich als ein gewaltiger Schlag gegen die Regierung und die Gestapo erwiesen. Wir haben diese Aktion schlagartig durchgeführt, und zwar am 12. Dezember 1936. Es wurde alles aufs präziseste vorbereitet, alle treuen Mitarbeiter wurden verständigt, jeder erhielt 24 Stunden vor Beginn der Arbeit seinen Plan und sein Päckchen Resolutionen. Schlag 17 Uhr begann die Verbreitung. Eine Stunde später waren bereits Polizei, SA und SS auf den Beinen und patrouillierten durch die Straßen, um den mutigen Verteilern aufzulauern. Sie erwischten bei der Arbeit nur wenige, im ganzen Reich wohl kaum mehr als ein Dutzend. Am darauffolgenden Dienstag jedoch kamen die Beamten in die Wohnungen der Geschwister und sagten jedem die Beteiligung an dieser Arbeit auf den Kopf zu. Unsere Geschwister wußten natürlich von nichts, und so fanden verhältnismäßig wenig Verhaftungen statt.
Wie nun aus der Presse hervorgeht, hat man nicht nur entsetzliche Wut über unsere Kühnheit, sondern noch viel größere Angst. Man ist vollständig verblüfft darüber, daß es in einem seit vier Jahren terrorisierten Hitlerreich noch möglich ist, eine staatsfeindliche Aktion unter solcher Verschwiegenheit und in einem so gewaltigen Umfang durchzuführen. Vor allem fürchtet man das Volk. Von verschiedenen Seiten waren Anzeigen an die Polizei ergangen. Als nun die Beamten und uniformierten Leute in die Häuser gingen und die Menschen fragten, ob sie ein solches Blatt erhalten hätten, verneinten sie es alle, weil in Wirklichkeit doch in jedem Haus nur zwei, höchstens drei Familien eine solche Resolution erhalten hatten. Das weiß aber die Polizei nicht, sondern sie nimmt an, daß diese an jeder Tür abgegeben wurde.
Infolgedessen hält man dafür, daß die Menschen unsere Resolution erhalten haben und dies doch aus gewissen Gründen vor der Polizei ableugnen, und das bewirkt bei diesen Leuten eine ungemeine Verwirrung und Furcht.“
Das war für die Gestapo eine böse Enttäuschung, denn sie hatte gedacht, sie hätte unsere Tätigkeit durch ihren Großeinsatz am 28. August völlig zerschlagen. Und nun diese Großaktion mit der Resolution, die sie größer einschätzte, als sie in Wirklichkeit war! Es ist eine unleugbare Tatsache, daß es dem Feind gelungen war, eine gewaltige Bresche in die Reihen des Volkes Gottes zu schlagen, aber es gelang ihm nie, das Werk zum völligen Stillstand zu bringen. Die Brüder führten ihren Predigtauftrag weiterhin aus, wie dies aus dem Bericht der Bezirksdienstleiter zu ersehen ist, der für Bruder Rutherford zusammengestellt wurde und der die Zeit vom 1. Oktober bis 1. Dezember 1936 umfaßte. Er wies folgende Ergebnisse auf (bei allen Zahlen handelt es sich um ungefähre Angaben): 3 600 Verkündiger, 21 521 Stunden, 300 Bibeln, 9 624 Bücher und 19 304 Broschüren. Dies ist ein guter Bericht, verglichen mit dem letzten Monatsbericht vor der Verhaftungswelle (16. Mai bis 15. Juni): 5 930 Verkündiger, 38 255 Stunden, 962 Bibeln, 17 260 Bücher und 52 740 Broschüren.
BLOSS-STELLUNG DURCH EINEN „OFFENEN BRIEF“
Bei fast allen Verhören und Prozessen, die nach dem 12. Dezember 1936 stattfanden, kam die Verbreitung der Resolution zur Sprache. Die Behörden bereiteten vielen unserer Brüder noch größere Schwierigkeiten, da die Erklärungen in der Resolution, wie sie behaupteten, unwahr seien und wir keine Beweise für unsere Behauptungen hätten. Die verantwortlichen Brüder schlugen daher Bruder Rutherford vor, daß ein „offener Brief“ genauso schlagartig verbreitet werden sollte wie die Resolution selbst. Dadurch sollte der Gestapo die Antwort auf ihre unwahren Behauptungen gegeben werden. Bruder Rutherford gab seine Zustimmung und bat Bruder Harbeck in der Schweiz, den „offenen Brief“ zu schreiben, da er Zugang zu dem ganzen Material hatte, das bis zum Jahre 1936 über die Verfolgung gesammelt worden war.
Der folgende daraus zitierte Abschnitt zeigt deutlich, mit welch schonungslosen Argumenten die Brüder damals dem Feind in aller Öffentlichkeit antworteten:
„In christlicher Geduld und aus Scham haben wir lange genug zurückgehalten, die Öffentlichkeit in Deutschland und im Ausland auf diese Schandtaten aufmerksam zu machen. Es befindet sich in unseren Händen ein erdrückendes Beweismaterial von oben erwähnten grausamen Mißhandlungen der Zeugen Jehovas. Bei der Mißhandlung haben sich u. a. besonders der Kriminalassistent Theiß aus Dortmund, Tennhoff und Heimann von der Geheimen Staatspolizei Gelsenkirchen und Bochum hervorgetan. Man hat sich nicht gescheut, Frauen mit Ochsenziemern und Gummiknüppeln zu mißhandeln. Für sadistische Grausamkeit bei der Behandlung von christlichen Frauen ist, wie erwähnt, besonders Kriminalassistent Theiß in Dortmund und ein Mann der Staatspolizei in Hamm bekannt. Wir besitzen auch nähere Angaben und Namen von zirka achtzehn Fällen, wo Jehovas Zeugen gewaltsam getötet worden sind. Anfang Oktober 1936 wurde zum Beispiel der in der Neuhüllerstraße, Gelsenkirchen, Westfalen, wohnhaft gewesene Zeuge Jehovas Peter Heinen von Beamten der Geheimen Staatspolizei im Rathaus zu Gelsenkirchen erschlagen. Dieser traurige Vorfall wurde dem Herrn Reichskanzler Adolf Hitler berichtet. Abschriften davon erhielten auch der Reichsminister Rudolf Heß und der Chef der Geheimen Staatspolizei, Himmler.“
Nachdem der „offene Brief“ fertig war, wurde der gesamte Text in Bern auf Aluminiummatrizen geschrieben und nach Prag gesandt. Von Zeit zu Zeit erhielt Ilse Unterdörfer, die während der Untergrundtätigkeit eng mit Bruder Frost zusammenarbeitete, von ihm den Auftrag, Berichte zu überbringen und Informationen entgegenzunehmen. Auf einer dieser Reisen nach Prag erhielt Schwester Unterdörfer die Matrizen, mit denen auf einem kurz zuvor gekauften Rotaprint-Vervielfältigungsapparat der „offene Brief“ gedruckt werden sollte. Am 20. März 1937 traf Schwester Unterdörfer mit ihrem wertvollen Paket in Berlin ein.
„Ich nahm das Paket in Empfang“, berichtet Bruder Frost, „und übergab den ,gefährlichen‘ Inhalt einer anderen Schwester, die ihn in Sicherheit brachte. Noch in der gleichen Nacht wurden Schwester Unterdörfer und ich in unserer Unterkunft verhaftet. Welch eine Fügung! So hart es uns traf, daß nun unsere Freiheit für die Dauer der Nazi-Herrschaft aussein würde, machte uns doch der Gedanke glücklich, die in Vorbereitung befindliche neue Flugzettelaktion gesichert zu wissen.“
Doch Bruder Frost irrte sich. Während er zum Gefängnis transportiert wurde, entdeckte er den Rotaprint-Vervielfältigungsapparat neben sich im Polizeiwagen. Die Gestapo hatte ihn bei einer ihrer Haussuchungen gefunden. Außerdem waren die Matrizen, die nicht auf jeder Maschine gebraucht werden konnten, anscheinend verschwunden und wurden nie wieder gefunden.
Ida Strauß, der Bruder Frost die Matrizen gegeben hatte und die mit den Einzelheiten der Kampagne gut vertraut war, dachte ähnlich. „Ich hatte die Aluminiummatrizen in der Tasche“, erinnert sie sich, „um sie dahin zu bringen, wo die Maschine abgestellt war. Es war spätabends im Dunkeln; der Hauseigentümer, ein Interessierter, stand auf der Treppe und rief: ,Gehen Sie sofort weg, und bringen Sie sich in Sicherheit; die Gestapo hat die Maschine beschlagnahmt, die Brüder verhaftet und wartete bis vor kurzem auch auf Sie, dann haben es die Beamten aufgegeben.‘ Was würde sich nun ergeben? In den nächsten Tagen mußte ich feststellen, daß in der vorhergegangenen Nacht viele Brüder verhaftet worden waren, und ich traf keinen mehr, der noch Verbindung zur Organisation hatte.
Ich suchte nun einen Bruder und auch einige Schwestern, die furchtlos bereit waren, sich weiterhin den Interessen des Werkes Jehovas zu widmen. Ich wußte, daß ich bei der Gestapo auf der schwarzen Liste stand, und mußte jeden Tag damit rechnen, auch verhaftet zu werden. Als es geschah, freute ich mich, daß die Interessen des Werkes in treuen Händen waren.“
Soweit es sich aber um die Matrizen für den „offenen Brief“ handelte, irrte sich auch Schwester Strauß. Die Matrizen konnten nicht mehr verwendet werden, weil der Apparat beschlagnahmt worden war und ein anderer nicht zur Verfügung stand.
Nun, nachdem Bruder Frost verhaftet worden war, übernahm Heinrich Dietschi die Verantwortung für das Werk, so, wie es in Luzern anläßlich der Besprechung mit Bruder Rutherford beschlossen worden war. Er sah nun seine erste Aufgabe darin, den „offenen Brief“ herauszubringen. Daher trat er sofort mit Bruder Strohmeyer, der in Lemgo wohnte, in Verbindung. Bruder Strohmeyer und Bruder Kluckhuhn waren gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, wo sie eine Strafe von sechs Monaten verbüßt hatten, weil sie das Jahrbuch 1936 gedruckt hatten. Doch Bruder Strohmeyer sagte seine Hilfe zu.
Nun galt es, wieder Matrizen aus der Schweiz zu beschaffen. Diesmal aber waren es Pappmatern, die zuerst von den Brüdern stereotypiert werden mußten, um die Druckplatten für die Schnellpressen zu erhalten. Bruder Dietschi hatte die Matern aus der Schweiz besorgt, nachdem dort 200 000 Exemplare des „offenen Briefes“ gedruckt worden waren, doch die Versuche, sie über die Grenze nach Deutschland zu bringen, gescheitert waren.
Nachdem hinsichtlich des Druckens alle Fragen geklärt worden waren, wurde entschieden, daß der „offene Brief“ am 20. Juni 1937 in einer Blitzaktion verbreitet werden sollte. Schwester Elfriede Löhr berichtet: „Bruder Dietschi, der damalige verantwortliche Leiter für das deutsche Werk, organisierte diese Aktion. Wir waren alle mit Mut erfüllt, und es war alles wunderbar eingerichtet, und jeder Bezirk hatte eine genügende Anzahl dieser Briefe erhalten. Ich holte einen großen Koffer für den Bezirk Breslau von der Bahn ab und brachte diesen nach Liegnitz zu den Brüdern. Ich selbst hatte auch meine bestimmte Anzahl erhalten, die ich zur festgesetzten Zeit — wie alle Brüder — verteilte.“
Die Verbreitung des „offenen Briefes“ muß die Gestapo unvorbereitet getroffen haben, denn sie hatte sich schon monatelang damit gebrüstet, die Organisation vollständig vernichtet zu haben. Um so größer war nun ihre Aufregung. Es war, als hätte jemand plötzlich in einen Ameisenhügel gestochen. Fast kopflos und ohne klares Ziel vor Augen, rannte man in größter Verwirrung durcheinander, besonders Personen wie Theiß in Dortmund.
Doch auch für Theiß ging die gute Zeit zu Ende. Da Theiß glaubte, er dürfte in seiner Behandlung der Zeugen Jehovas keine Barmherzigkeit zeigen, ließ er eines Tages eine Haussuchung bei einem ehemaligen Bruder namens Wunsch durchführen, der sich jedoch in der Zwischenzeit von der Wahrheit abgewandt hatte und Fliegerfeldwebel geworden war. Als Wunsch nach Hause kam, erzählte ihm seine Frau von der Haussuchung. Sogleich suchte er Theiß in Dortmund auf und fragte ihn, warum er dies getan habe. Theiß erschrak, als er sah, daß ein Fliegerfeldwebel vor ihm stand, und stammelte: „Sie sind doch bei den Bibelforschern?“ Wunsch erwiderte: „Vorträge von ihnen habe ich gehört, aber ich war auch überall, wo es etwas zu hören gab.“ Jetzt unterbrach Frau Theiß das Gespräch, worauf ihr Mann erregt sagte: „Hätte ich doch nie angefangen, die Bibelforscher auszurotten! Man kann ja dabei verrückt werden. Man denkt, jetzt hat man so ein Biest eingesperrt, und schon gehen wieder zehn andere los. Ich bedaure es, damit angefangen zu haben.“
Es ist nicht anzunehmen, daß sich das Gewissen dieses Agenten des Teufels jemals wieder beruhigte. Im Gegenteil, in dem Buch Kreuzzug gegen daß Christentum hieß es am Schluß, unter der Überschrift „Du hast gesiegt, Galiläer!“:
„Zum Beispiel wird noch mitgeteilt, daß der mehrfach erwähnte Kriminalassistent Theiß in Dortmund als Folge seiner Verbrechen seit einiger Zeit furchtbare Gewissensqualen erleide und durch seine Dämonen zum Wahnsinn getrieben werde. Vor Monaten rühmte er sich, 150 Zeugen Jehovas ,kaputtgeschlagen‘ zu haben. Er war es, der jenen Spottspruch tat: ,Jehova, ich künde dir ewig Hohn, es lebe der König von Babylon.‘
Jetzt aber sucht er diese Leute auf, verspricht, keinen mehr peinigen zu wollen, und bittet flehentlich darum, ihm zu sagen, was er tun soll, um der drohenden Strafe zu entgehen und alle entsetzliche, seelische Qual loszuwerden. Er sagt, er habe die ,Befehle zum Mißhandeln von oben‘ erhalten und wolle nun aufhören, weil immer wieder neue Zeugen Jehovas aufstehen. Wie Judas, nachdem er den Meister an die Feinde verraten hatte, sucht Theiß nun die Reue und findet sie nicht. Wenn auch noch vereinzelt, so gibt es immer mehr solche Fälle, wo Gestapoagenten und andere Parteileute, durch die Standhaftigkeit der Zeugen Jehovas beunruhigt, den Irrtum ihres Weges erkennen und ihre Ämter niederlegen.“
Die Verbreitung des „offenen Briefes“ verursachte unter der Gestapo große Unruhe, und kurz darauf leitete sie eine Großfahndung ein. Schon nach wenigen Tagen führte sie eine Spur direkt nach Lemgo zu Bruder Strohmeyer und Bruder Kluckhuhn, die den „offenen Brief“ gedruckt hatten. Man konnte ihnen nachweisen, daß sie mindestens 69 000 Exemplare gedruckt hatten. Beide wurden zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, und nachdem sie diese Strafe verbüßt hatten, nahm sie die Gestapo als „unverbesserlich“ sofort wieder in Schutzhaft.
Da die Mehrheit der Bezirksdienstleiter verhaftet worden war, wurden Schwestern gebeten, in die Bresche zu springen und die Verbindung zwischen Bruder Dietschi und den Versammlungen aufrechtzuerhalten. Eine von ihnen war Elfriede Löhr, die versuchte, mit Bruder Dietschi Verbindung aufzunehmen, nachdem Bruder Frost und Schwester Unterdörfer verhaftet worden waren. Sie fuhr nach Württemberg, und nachdem sie einige Zeit gesucht hatte, fand sie Bruder Dietschi in Stuttgart. Er nahm sie mit auf die Reise, um sie mit den verschiedenen Methoden vertraut zu machen, die angewandt wurden, um den Kontakt mit den Brüdern aufrechtzuerhalten. Es wurden auch gründliche Vorbereitungen für einen fahrbaren Radiosender getroffen, der in den Niederlanden gebaut und etwa im Herbst 1937 eingesetzt werden sollte. Die Gestapo hatte davon schon Kenntnis erhalten und war sehr wütend auf Bruder Dietschi, dessen Name ihr schon lange bekannt war, den sie aber bis dahin ebensowenig fassen konnte wie Bruder Wandres.
Etwa um diese Zeit muß es gewesen sein, daß Schwester Dietschi von der Gestapo verhaftet und auf die berüchtigte „Steinwache“ in Dortmund gebracht wurde. Dort versuchte man sie zu zwingen, den Aufenthaltsort ihres Mannes preiszugeben, aber sie weigerte sich zu reden. Sie wurde so schwer mißhandelt, daß hinterher ein Bein kürzer war als das andere. Außerdem mußte sie nach ihrer Freilassung einige Wochen lang völlig in Bandagen eingewickelt werden, die mit Alkohol getränkt waren.
NACHWIRKUNGEN DES KONGRESSES IN PARIS 1937
Auf dem Kongreß, der 1937 in Paris stattfand, sollte, wie ein Jahr zuvor in Luzern, Bruder Rutherford anwesend sein. Diesmal gelang es nur ganz wenigen Brüdern aus Deutschland, dorthin zu reisen. Der Feind hatte große Breschen in die Reihen der Brüder geschlagen. Bruder Riffel, einer der wenigen, die den Kongreß besuchen konnten, erzählte später, daß allein in Lörrach und Umgebung vierzig Brüder und Schwestern in Gefangenschaft kamen, von denen zehn erhängt, vergast oder erschossen wurden, verhungerten oder an den Folgen der „medizinischen Versuche“, die in den Konzentrationslagern durchgeführt wurden, starben.
In Paris wurde eine weitere Resolution angenommen, in der erneut unsere klare und ungebeugte Stellung gegenüber Jehova und seinem Königreich unter der Herrschaft Jesu Christi zum Ausdruck gebracht und offen auf die brutale Verfolgung in Deutschland aufmerksam gemacht wurde und in der die Verantwortlichen vor dem gerechten Gericht Gottes gewarnt wurden.
Während der zweiwöchigen Abwesenheit des letzten Bezirksdienstleiters hatte sich in Deutschland wieder einiges ereignet. Schwester Löhr, die bei den meist wöchentlich stattfindenden Zusammenkünften anwesend war, bei denen Bruder Dietschi mit etwa fünfzehn Brüdern und Schwestern alle Dienstangelegenheiten besprach, war verhaftet worden. Das kam so:
Da die Besprechungen, die in den meisten Fällen morgens gegen 9 Uhr begannen, sich oft bis 17 Uhr ausdehnten, hatten die teilnehmenden Brüder und Schwestern den Wunsch geäußert, mittags eine gemeinsame Mahlzeit einzunehmen. Schwester Löhr wurde gebeten, das Kochen zu übernehmen. Aus Sicherheitsgründen wechselten die Brüder jede Woche den Ort ihrer Zusammenkunft, und das machte es notwendig, den großen Topf, in dem meist ein Eintopfgericht gekocht wurde, zuvor dorthin zu bringen, wo die nächste Zusammenkunft stattfinden sollte. Ob nun der Gestapo durch die Aussagen von Brüdern, die neu verhaftet worden waren, oder auf einem anderen Weg der Ort der letzten Zusammenkunft vor dem Kongreß in Paris bekannt wurde, kann niemand sagen. Jedenfalls behielt die Gestapo diese Wohnung unter Beobachtung, und als Schwester Löhr kam, um den Kochtopf drei oder vier Tage vor der nächsten Zusammenkunft abzuholen, folgte ihr die Gestapo zu dem neuen Treffpunkt und verhaftete sie dort. Die Gestapo erkannte bald, daß sie nicht nur den neuen Treffpunkt gefunden hatte, sondern auch Bruder Dietschis geheimen Aufenthaltsort. Nach dem Kongreß in Paris kehrte er unmittelbar nach Berlin zurück und betrat seine Wohnung, ohne sich zu vergewissern, ob von irgendeiner Seite Gefahr drohe. Bruder Dietschi ging in die Falle und wurde auf der Stelle verhaftet. Natürlich mußten nun die Zusammenkünfte der erneut dezimierten reisenden Diener örtlich und auch zeitlich verlegt werden.
Bruder Dietschi hatte viele Jahre unermüdlich in der Untergrundtätigkeit gedient und war nicht vor Gefahren zurückgeschreckt. Er wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber nicht wie die meisten seiner Brüder in ein Konzentrationslager, nachdem er seine Strafe verbüßt hatte.
Im Jahre 1945, als das Werk wiederaufgebaut wurde, war er einer der ersten, die den Brüdern als „Diener für die Brüder“ dienten. Leider begann er Jahre später, eigene Theorien zu entwickeln, und wandte sich von Jehovas Organisation ab.
Doch wollen wir zum Jahre 1937 zurückkehren. Nachdem wieder einmal gefährliche Lücken in den Reihen unserer Brüder entstanden waren, versuchte Bruder Wandres, diese wenigstens vorübergehend zu schließen, um so die Versorgung der Brüder mit geistiger Speise sicherzustellen. Nach der Verhaftung von Bruder Franke hatte er dessen Gebiet übernommen, aber nun fühlte er sich auch für die anderen freigewordenen Gebiete verantwortlich, und so bat er Schwester Auguste Schneider aus Bad Kreuznach, die Brüder in Bad Kreuznach, Mannheim, Kaiserslautern, Ludwigshafen, Baden-Baden sowie im ganzen Saargebiet mit geistiger Speise zu versorgen. Wie alle, die damals unter diesen äußerst schwierigen Verhältnissen reisen mußten, erhielt auch sie einen anderen Namen; von nun an war sie „Paula“.
Bruder Wandres, der erkannte, daß der Feind besonders in Sachsen gewütet hatte, bat Hermann Emter aus Freiburg, sich dieses Gebietes anzunehmen. Am 3. September fuhren sie beide nach Dresden. Obwohl Bruder Wandres noch nie dort gewesen war, wurden sie von der Gestapo erwartet. So ging eine Menschenjagd von mindestens drei Jahren zu Ende.
Etwa Mitte September erwartete nun die ahnungslose „Paula“ gemäß der getroffenen Verabredung Bruder Wandres auf dem Bahnhof in Bingen. Sie hatte zwei große Koffer voll Literatur bei sich. Plötzlich trat ein Herr auf sie zu und sagte: „Guten Tag, Paula! Albert kommt nicht, und Sie müssen jetzt mit mir gehen!“ Es war sinnlos, Widerstand zu leisten, denn der Fremde war ein Gestapoagent. Er fügte hinzu: „Sie brauchen nicht auf Albert zu warten; wir haben ihn bereits verhaftet und haben ihm auch sein Geld abgenommen. ... Herr Wandres hat gesagt, daß Sie mit zwei Koffern ankommen würden und daß Sie Paula sind!“ Bis heute ist es ein Geheimnis geblieben, woher die Gestapo diese Information hatte. Aber sie wandte hier eine beliebte Methode an, indem sie gewissen Brüdern irgendwelche Informationen in den Mund legte, um so das Vertrauen unter den Brüdern zu zerstören und um sie zu veranlassen, sich von solchen „Verrätern“ zurückzuziehen.
DAS ZIEL: STÄNDIGE HAFT
Mit dieser Serie von Verhaftungen ging ein wichtiger Zeitabschnitt für die deutschen Brüder zu Ende. Die Zeit der gutorganisierten Tätigkeit war vorüber. Alles deutete nun auf den Beginn einer neuen Phase des Kampfes hin. Das Ziel der Gestapo war nun, jeden einzelnen, der noch den Mut hatte, an Jehova festzuhalten, zu vernichten und damit auch die Organisation zu zerschlagen.
Nach einem Runderlaß, den die Düsseldorfer Gestapo am 12. Mai 1937 herausgab, sollten Bibelforscher von nun an in Konzentrationslager gebracht werden, selbst wenn kein richterlicher Haftbefehl gegen sie vorlag, und zwar schon auf bloßen Verdacht hin. Ähnliche Erlasse wurden in ganz Deutschland herausgegeben. Außerdem sollten die Bibelforscher automatisch in Konzentrationslager überführt werden, nachdem sie ihre vom Gericht verhängte Haftstrafe verbüßt hätten. Diese Entscheidung wurde im April 1939 noch erhärtet und ergänzt. Von nun an sollten nur diejenigen freigelassen werden, die bereit waren, eine Erklärung zu unterschreiben, durch die sie sich von Jehova und von seiner Organisation lossagten. Viele Brüder erhielten noch nicht einmal die Gelegenheit, sich zu entscheiden, ob sie die Erklärung unterzeichnen wollten oder nicht.
Als Heinrich Kaufmann aus Essen seine Gefängnisstrafe verbüßt und wieder seine Zivilkleider angezogen hatte, teilte ihm ein Kriminalbeamter lediglich mit, er werde nun in Schutzhaft genommen. Doch zuerst brachte man ihn in seine Wohnung, die er schon eineinhalb Jahre nicht mehr gesehen hatte, und fragte ihn: „Wollen Sie von Ihrem Glauben ablassen und Hitler nachfolgen?“ Gleichzeitig zeigte man ihm den Hausschlüssel und ein Paket mit zwanzig Pfund Lebensmitteln und versprach ihm, auch seine Frau würde aus dem Konzentrationslager Ravensbrück wieder zurückgebracht. Bruder Kaufmann lehnte das Angebot ab.
Manchmal versuchte man, die Brüder zu überlisten, wie Ernst Wiesner berichtet. Kurz bevor er entlassen werden sollte, legte man ihm ein Schriftstück vor. Die Erklärung war so allgemein gehalten, daß er, nachdem er sie sorgfältig durchgelesen hatte, bereit war, sie zu unterschreiben. Aber nun kam der Trick. Bruder Wiesner sollte seine Unterschrift ganz unten auf den Bogen setzen, obwohl die untere Hälfte der Seite unbeschrieben war. Zweifellos wollte die Gestapo später Dinge hinzufügen, die Bruder Wiesner nicht mit gutem Gewissen hätte unterschreiben können. Aber er erkannte sogleich ihr Vorhaben, und bevor man ihn hindern konnte, schrieb er seinen Namen direkt unter den maschinegeschriebenen Text. Die Folge war, daß er trotz seiner Unterschrift nicht entlassen wurde, sondern er wurde von der Geheimpolizei drei Wochen vor Beendigung seiner Haft unterrichtet, er werde unwiderruflich in ein Konzentrationslager überführt.
DIE KONZENTRATIONSLAGER — EIN GÄHNENDER ABGRUND
In dem Vierteljahresheft für Zeitgeschichte schreibt Hans Rothfels in Heft 2, Jahrgang 1962: „Die Inhaftierung in den Konzentrationslagern stellte für die Ernsten Bibelforscher die letzte und schwerste Phase ihrer Leidenszeit unter dem Nationalsozialismus dar. ...“
Tröstlich für die meisten war die Tatsache, daß bereits treue Brüder da waren, die durch die Hitze der Verfolgung gehärtet worden waren. Mit ihnen in Berührung zu kommen und ihre liebevolle Hilfe zu verspüren wirkte sich auf jeden neuen „Zugang“ tröstlich und herzerquickend aus.
Doch jedesmal, wenn die Standhaftigkeit unserer Brüder beobachtet und der Regierung gemeldet wurde, dachte man nur daran, wie man ihre Leiden vermehren könnte. So kam es, daß eine geraume Zeit Jehovas Zeugen neben anderen brutalen Quälereien grundsätzlich mit fünfundzwanzig Hieben, die mit einer Stahlrute ausgeteilt wurden, empfangen wurden, wenn sie im Lager eintrafen. Ihr Frondienst begann morgens um 4.30 Uhr, wenn die Lagerglocke zum Wecken läutete. Gleich darauf brach ein Tumult los: Betten bauen, waschen, Kaffee trinken, Antreten zum Appell — und das alles im Laufschritt. Niemand durfte sich im normalen Schritt bewegen. Darauf marschierten sie zum Morgenappell und schlossen sich dann den verschiedenen Arbeitskommandos an. Was nun folgte, war ein einziges Drama: Kies tragen, Sand tragen, Steine tragen, Pfähle tragen, ganze Barackenteile tragen, und das den ganzen Tag — alles im Laufschritt. Die Fronvögte, die die Häftlinge pausenlos durch Schreien und Schlagen zum Einsatz ihrer letzten Kräfte antrieben, waren die schlimmsten, die Hitler aufzuweisen hatte.
Der Gedanke, daß Jesus Ähnliches erlitten hatte, war für sie tröstlich und ermunternd und gab ihnen immer wieder die Kraft, unter der unmenschlichen Behandlung auszuharren.
Zur Abwechslung gab es auch manchmal aus ganz nichtigen Gründen „Strafexerzieren“. Die Brüder wurden oft gezwungen, ohne Nahrung auszukommen. Es konnte eine wirkliche Prüfung werden, wenn ein erschöpfter Bruder, statt eine Mahlzeit einnehmen zu können, noch weitere vier bis fünf Stunden auf dem Appellplatz strammstehen mußte, nur weil einem der Brüder ein Knopf an seiner Jacke fehlte oder wegen irgendeiner anderen unbedeutenden Verletzung der Regeln.
Endlich durften sie dann schlafen gehen, sofern ihnen der Hunger das Schlafen erlaubte. Aber die Nächte waren nicht immer nur zum Schlafen da. Nicht selten kam einer oder auch mehrere der berüchtigten „Blockführer“ mitten in der Nacht, um die Gefangenen zu terrorisieren. Dieses Ereignis wurde manchmal mit einem Revolverschuß in die Luft oder in das Gebälk der Baracke eingeleitet. Dann mußten die Insassen im Nachthemd um die Baracke laufen und manchmal sogar darüberklettern, solange es dem „Blockführer“ beliebte. Es ist verständlich, daß die älteren Brüder am meisten unter einer solchen Behandlung zu leiden hatten, und viele verloren dabei das Leben.
Im März 1938 wurde es Jehovas Zeugen in den Konzentrationslagern völlig verboten, Briefe zu schreiben. Dieses Verbot dauerte neun Monate, und in dieser Zeit konnten die Brüder in keiner Weise mit ihren Angehörigen in Verbindung treten und diese auch nicht mit ihnen. Auch nachdem das Schreibverbot wiederaufgehoben worden war, blieb für mindestens dreieinhalb bis vier Jahre — in manchen Lagern sogar noch länger — die Einschränkung bestehen, daß jeder Zeuge Jehovas monatlich nur fünf Zeilen an seine Angehörigen schreiben durfte. Der Text war vorgeschrieben und lautete: „Habe Euren Brief erhalten, herzlichen Dank dafür. Es geht mir gut. Bin gesund und munter. ...“ Aber es gab Fälle, in denen die Todesnachricht noch vor dem Brief eintraf, in dem zu lesen war: „Bin gesund und munter.“ Auf dem freien Platz des Briefbogens wurde folgender Text aufgestempelt: „Der Schutzhäftling ist nach wie vor hartnäckiger Bibelforscher und weigert sich, von der Irrlehre der Bibelforscher abzulassen. Aus diesem Grunde ist ihm lediglich die Erleichterung, den sonst zulässigen Briefwechsel zu pflegen, genommen worden.“
„VIERKANT“ FINDET SEINEN MEISTER
Das Leben im Konzentrationslager war täglich voller Aufregungen, die oft vom Lagerkommandanten selbst verursacht wurden. In Sachsenhausen war eine Zeitlang ein Mann namens Baranowsky Lagerkommandant, der wegen seiner kräftigen Gestalt von den Häftlingen bald den Spottnamen „Vierkant“ erhielt.
Wenn ein neuer Transport mit Häftlingen eintraf, war er meistens persönlich zugegen und hielt ihnen seine „Begrüßungsansprache“. Sie begann gewöhnlich mit den Worten: „Ich bin der Kommandant und werde ,Vierkant‘ genannt. Mal herhören! Ihr könnt bei mir alles haben: Kopfschuß, Brustschuß, Bauchschuß. Ihr könnt euch auch die Kehle durchschneiden oder die Pulsader öffnen. Ihr könnt aber auch in den elektrischen Draht laufen. Merkt euch, meine Jungs schießen gut! Dann kommt ihr auch gleich in den Himmel.“ Er versäumte nie eine Gelegenheit, sich über Jehova oder seinen heiligen Namen lustig zu machen.
Aber zu Anfang des Verbots lernte in Dinslaken ein junger Mann von etwa dreiundzwanzig Jahren die Wahrheit kennen. Sein Name war August Dickmann. Obwohl er noch nicht getauft war, verhaftete ihn die Gestapo und stellte ihn vor Gericht. Nachdem er seine Strafe abgebüßt hatte, gab er dem Druck der Gestapo nach und unterschrieb die „Erklärung“, zweifellos in der Hoffnung, ihm würde dadurch weitere Verfolgung erspart bleiben. Dennoch wurde er unmittelbar nach Verbüßung seiner Gefängnisstrafe, im Oktober 1937, nach Sachsenhausen gebracht. Die Brüder dort nutzten jede Gelegenheit, freudige und ermunternde Gespräche miteinander zu führen, und nun, da er in ihrer Mitte war, erkannte er, daß er aufgrund seiner Schwäche mit dem Feind einen Kompromiß eingegangen war. Er bereute und bat darum, daß die Erklärung, die er unterschrieben hatte, annulliert würde.
Inzwischen war auch sein leiblicher Bruder Heinrich ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert worden. August erzählte ihm, er habe die Erklärung unterschrieben, habe die Unterschrift aber in der Zwischenzeit wieder rückgängig gemacht.
Die nächsten Wochen gingen schnell vorüber. Als der Zweite Weltkrieg in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 ausbrach, begann der Lagerkommandant Baranowsky, seine Pläne auszuführen. Er sah seine Gelegenheit gekommen, als August Dickmanns Frau ihrem Mann den Wehrpaß zusandte, der an seine Adresse in Dinslaken geschickt worden war. Drei Tage nach Ausbruch des Krieges wurde August zur „politischen Abteilung“ bestellt. Doch vor dem Appell warnte ihn sein Bruder Heinrich, den er von der neuen Entwicklung unterrichtet hatte, daß nun der Krieg ausgebrochen sei und er sich auf alles gefaßt machen müsse. Er müsse sich jetzt völlig darüber im klaren sein, was er zu tun gedenke. August antwortete: „Sie mögen mit mir machen, was sie wollen. Ich werde nicht unterschreiben, ich werde keinen Kompromiß mehr eingehen.“
Das Verhör fand an jenem Nachmittag statt, aber August kehrte nicht zu den Brüdern zurück. Wie es sich später herausstellte, hatte er nicht nur die Unterschrift unter den Wehrpaß verweigert, sondern darüber hinaus noch ein sehr schönes Zeugnis gegeben. Er wurde in einer Einzelzelle im Bunker untergebracht, während der Lagerkommandant diesen Fall Himmler vortrug und um die Erlaubnis bat, Dickmann öffentlich in Gegenwart der Brüder und des gesamten Lagers hinzurichten. Er war überzeugt, daß eine große Zahl Zeugen Jehovas angesichts des Todes die Unterschrift leisten würde. Bis jetzt hätten sich die meisten geweigert zu unterschreiben, aber es seien nur Drohungen ausgesprochen worden. Himmler antwortete postwendend, daß Dickmann zum Tode verurteilt sei und hingerichtet werden solle. Jetzt war der Weg für „Vierkants“ großes Schauspiel frei.
Es war ein Freitag. Über dem ganzen Lager lastete eine unheimliche Stille, während plötzlich ein Kommando anrückte und in kurzer Zeit mitten auf dem Appellplatz einen Schießstand errichtete. Dies gab natürlich zu allen möglichen Gerüchten Anlaß. Die Spannung stieg noch höher, als die Arbeitskommandos den Befehl erhielten, die Arbeit eine Stunde früher als üblich zu beenden. Paul Buder erinnert sich noch, daß beim Einmarschieren der Arbeitskommandos ein SS-Mann lachend zu ihm sagte: „Heute machen wir Himmelfahrt. Heute fährt einer von euch in den Himmel.“
Als das Arbeitskommando, dem Heinrich Dickmann zugeteilt worden war, einrückte, ging der Lagerälteste auf ihn zu und fragte ihn, ob er wisse, was hier vor sich gehe. Als er erwiderte, er wisse es nicht, wurde ihm gesagt, sein Bruder August solle erschossen werden.
Doch war jetzt nicht die Zeit für lange Diskussionen. Alle Gefangenen erhielten den Befehl, auf dem Appellplatz aufzumarschieren. Jehovas Zeugen mußten sich unmittelbar vor dem Schießstand aufstellen. Alle Augen waren auf diesen Punkt gerichtet. Dann zogen die Wachen der SS auf; die Sicherheitsmaßnahmen wurden um das Vierfache verstärkt. Der Überzug, der die Maschinengewehre verdeckte, wurde entfernt, und die Munitionsgurte wurden in die Waffen eingeführt, so daß sie zum sofortigen Einsatz bereit waren. Auf der hohen Mauer saßen die SS-Leute in Erwartung der kommenden Dinge — es waren so viele, daß man den Eindruck hatte, die ganze Truppe sei zu diesem blutigen Schauspiel abkommandiert worden. Am Haupttor, das aus starken Rundeisenstäben gefertigt worden war, standen und hingen die sensationslüsternen SS-Leute wie eine Traube. Einige von ihnen waren sogar auf die Querstangen geklettert, um besser sehen zu können. Ihren Augen konnte man nicht nur die Neugierde, sondern auch den Blutdurst ablesen. Bei einigen war es aber auch ein gewisses Grauen, denn schließlich wußten sie alle, was in wenigen Minuten vor sich gehen sollte.
Dann wurde, begleitet von einigen hohen SS-Offizieren, August Dickmann vorgeführt, dessen Hände vorn gefesselt waren. Jeder war von seiner Ruhe und Gelassenheit beeindruckt. Er wirkte wie jemand, der schon den Kampf gewonnen hatte. Etwa sechshundert Brüder waren anwesend; sein leiblicher Bruder Heinrich stand nur wenige Meter von ihm entfernt.
Plötzlich war ein Knacken in den Lautsprechern zu hören, als die Mikrofone eingeschaltet wurden. „Vierkants“ Stimme war zu hören: „Häftlinge, herhören!“ Sofort trat Stille ein. Nur das kurze, asthmatische Atmen dieses Ungeheuers war zu vernehmen. Dann fuhr er fort:
„Der Häftling August Dickmann aus Dinslaken, geboren am 7. Januar 1910, verweigert den Wehrdienst, weil er ein Bürger des Königreiches Gottes sei. Er sagt: ,Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden.‘ So hat er sich außerhalb der Volksgemeinschaft gestellt und wird auf Anordnung des ,Reichsführers SS‘ Himmler erschossen.“
Während nun Totenstille über dem weiten Platz lag, fuhr „Vierkant“ fort: „Ich habe den Häftling Dickmann vor einer Stunde davon unterrichtet, daß sein elendes Leben um sechs Uhr ausgelöscht wird.“
Einer der Beamten trat zu ihm heran und fragte ihn, ob der Häftling noch einmal gefragt werden solle, ob er seinen Sinn geändert habe und doch den Wehrpaß unterschreiben wolle, worauf ihm „Vierkant“ antwortete: „Es hat keinen Zweck.“ An August Dickmann gerichtet, befahl er: „Dreh dich um, du Schwein!“ Dann gab er den Befehl zum Schießen. Darauf wurde August von hinten von drei SS-Unterführern erschossen. Anschließend ging ein hoher SS-Führer zu ihm und schoß ihm noch eine Kugel durch den Kopf, so daß das Blut über seine Wange lief. Nachdem ihm ein SS-Mann niederen Grades die Handschellen abgenommen hatte, wurden vier Brüder beauftragt, ihn in eine schwarze Kiste zu legen und ins Revier zu tragen.
Während nun alle anderen Gefangenen abtreten und in ihre Baracken gehen durften, mußten Jehovas Zeugen stehenbleiben. Jetzt war für „Vierkant“ die Zeit gekommen, seine Behauptung wahr zu machen. Mit großem Nachdruck stellte er die Frage, wer nun bereit sei, die Erklärung zu unterschreiben. Wer diese Erklärung unterschrieben hätte, hätte nicht nur seinem Glauben abgeschworen, sondern sich auch bereit erklärt, Soldat zu werden. Keiner meldete sich. Dann traten zwei vor — aber nicht, um die Erklärung zu unterschreiben. Sie baten darum, daß die Unterschrift, die sie beide vor etwa einem Jahr gegeben hatten, annulliert würde.
Das war für „Vierkant“ zuviel. Wütend verließ er den Appellplatz. Wie zu erwarten war, ging es den Brüdern an jenem Abend und in den darauffolgenden Tagen sehr schlecht. Aber sie blieben standhaft.
Dickmanns Hinrichtung wurde in den nächsten Tagen mehrmals im Rundfunk bekanntgemacht, offensichtlich in der Absicht, die anderen Zeugen, die sich noch in Freiheit befanden, einzuschüchtern.
Drei Tage später wurde sein Bruder Heinrich zur „politischen Abteilung“ gerufen. Zwei hohe Gestapobeamte waren aus Berlin eingetroffen, um festzustellen, wie die Hinrichtung seines Bruders auf ihn gewirkt habe. Nach seinem eigenen Bericht verlief die Unterhaltung wie folgt:
„ ,Hast du gesehen, wie dein Bruder erschossen wurde?‘ Meine Antwort war: ,Jawohl.‘ ,Welche Lehre ziehst du daraus?‘ ,Ich bin und bleibe ein Zeuge Jehovas.‘ ,Dann bist du der nächste, der erschossen wird.‘ Darauf konnte ich einige Fragen biblisch beantworten, bis mich der Beamte anschrie: ,Ich will nicht wissen, was geschrieben steht, ich will deine Meinung wissen!‘ Und während er mir die Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung begreiflich machen wollte, flocht er immer Sätze wie diese ein: ,Du bist der nächste, der erschossen wird, ... der nächste, der kippt, ... der nächste, der fällt‘, bis der andere Beamte sagte: ,Es hat keinen Zweck, mach die Akten fertig!‘ “
Dann wurde Bruder Dickmann noch einmal die Erklärung zur Unterschrift vorgelegt. Er lehnte sie mit den Worten ab: „Wenn ich damit Staat und Führung anerkenne, würde ich damit auch das Todesurteil meines Bruders gutheißen und unterschreiben. Das kann ich nicht.“ Die Antwort: „Dann kannst du dir ausrechnen, wie lange du noch lebst.“
Aber wie erging es „Vierkant“, der Jehova geschmäht und herausgefordert hatte wie kaum jemand anders? Er wurde nur noch ein paarmal im Lager gesehen und dann überhaupt nicht mehr. Die Häftlinge fanden jedoch heraus, daß er kurz nach August Dickmanns Hinrichtung von einer schrecklichen Krankheit heimgesucht wurde. Er starb fünf Monate später, ohne noch einmal die Gelegenheit gehabt zu haben, Jehova oder seine Zeugen zu verspotten. „Ich habe einen schweren Kampf mit Jehova aufgenommen. Wir wollen sehen, wer stärker ist — ich oder Jehova.“ Das hatte „Vierkant“ gesagt, als er am 20. März 1938 die Brüder in die „Isolierung“ führte. Der Kampf hatte sich entschieden. „Vierkant“ hatte verloren. Und während unsere Brüder ein paar Monate später aus der „Isolierung“ herauskamen und in einigen Fällen eine gewisse Erleichterung erfuhren, verbreitete sich im Lager immer mehr das Gerücht, „Vierkant“ sei ernsthaft krank und immer, wenn er von Offizieren an seinem Krankenlager besucht würde, würde er jammern: „Die Bibelforscher beten mich tot, weil ich ihren Mann habe erschießen lassen.“ Fest steht, daß seine Tochter nach dem Tode ihres Vaters immer, wenn sie nach der Ursache des Todes ihres Vaters gefragt wurde, sagte: „Die Bibelforscher haben meinen Vater in den Tod gebetet.“
DACHAU
Bruder Friedrich Frey aus Röt schreibt über die Behandlung in der „Isolierung“ in Dachau: „Der Hunger, die Kälte und die Folterungen — dies alles ist kaum zu beschreiben. Einmal trat mir so ein Scherge mit dem Stiefel in den Magen, so daß ich ein schweres Leiden davongetragen habe. Ein andermal wurde mir das Nasenbein krumm geschlagen, so daß ich seither Atembeschwerden habe, weil das Nasenbein beide Luftwege versperrt. Ein andermal nahm ich während der Arbeit ein paar alte Krumen Brot zu mir, um den Hunger zu stillen, was ein SS-Mann beobachtete. Dieser kam sofort zu mir, trat mir ebenfalls mit dem Stiefel in den Bauch, so daß ich kopfüber stürzte. Danach wurde ich zur Strafe noch an einen drei Meter hohen Pfahl gehängt. Dabei wurden die Arme mit einer Kette auf dem Rücken zusammengebunden. Da durch das Körpergewicht in diesem unnormalen Zustand das Blut in den Adern gestaut wurde, entstand ein unsagbarer Schmerz, der nicht zu beschreiben ist. Ein SS-Mann hat mich dann zusätzlich an den Beinen gepackt und hin und her geschwenkt, indem er gleichzeitig schrie: ,Sind Sie immer noch ein Zeuge Jehovas?‘ Doch ich konnte nicht mehr antworten, der Todesschweiß stand mir bereits auf der Stirn. Von dieser Tortur habe ich heute noch ein Nervenzucken zurückbehalten. Ich mußte dabei immer an die letzte Stunde unseres Herrn und Meisters denken, dem sogar die Hände und Füße durchschlagen wurden.“
In Dachau wurde kurz vor Weihnachten ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt und mit elektrischen Kerzen und anderen Schmucksachen behängt. Die 45 000 Häftlinge des Lagers, darunter 100 Zeugen Jehovas, hofften, ein paar friedliche Tage verleben zu dürfen. Doch was geschah? Am sogenannten Heiligen Abend, als alle Häftlinge schon in ihren Baracken waren, ertönte um 8 Uhr plötzlich die Lagersirene; die Gefangenen sollten so schnell wie möglich auf dem Appellplatz aufmarschieren. Schon von weitem hörte man die SS-Kapelle spielen. Fünf Kompanien der SS marschierten in voller Ausrüstung ein. Der Lagerkommandant, begleitet von SS-Offizieren, hielt eine kurze Rede und erklärte den Häftlingen, an diesem Abend wollten sie mit ihnen auf ihre Art Weihnachten feiern. Darauf zog er aus seiner Aktentasche eine Liste hervor und las fast eine ganze Stunde lang die Namen der Häftlinge vor, denen schon in den vergangenen Wochen eine Strafe zugedacht worden war. Dann wurde der „Bock“ herausgebracht und aufgestellt und der erste Häftling darübergeschnallt. Anschließend bezogen zwei mit einer Stahlrute ausgerüstete SS-Männer rechts und links von dem Bock Stellung und begannen zu schlagen, während die Musikkapelle das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ spielte, das alle Lagerinsassen mitsingen mußten. Gleichzeitig mußte der Häftling, der die fünfundzwanzig Schläge erhielt, diese laut mitzählen. Jedesmal, wenn ein neuer Häftling auf den Bock geschnallt wurde, traten zwei neue, ausgeruhte SS-Männer aus den fünf Kompanien hervor, um die verhängte Strafe auszuteilen. Wahrlich, ein würdiges Weihnachtsfest für eine „christliche Nation“!
Angesichts einer solchen Behandlung benötigten unsere Brüder einen starken Glauben, einen Glauben, der durch ein sorgfältiges Studium des Wortes Gottes gestärkt worden war. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Studium versäumt und demzufolge nicht genügend auf derartige Prüfungen vorbereitet ist, erfuhr Helmut Knöller. Wir wollen ihn seine eigene Erfahrung erzählen lassen:
„Die ersten Tage in Dachau waren sehr hart. Unter den Neulingen war ich mit meinen zwanzig Jahren der jüngste. Ich wurde sofort in ein Sonderkommando gesteckt, das auch am Sonntag arbeiten mußte. Der Kapo, der uns zu beaufsichtigen hatte, nahm mich besonders hart heran. Ich mußte alles, selbst die schwersten Arbeiten, die ich nicht gewohnt war, im Laufschritt machen. Ich brach wiederholt zusammen, wurde aber jedesmal zur Ernüchterung im Keller bis zur Hüfte ins Wasser gestellt und dort zusätzlich mit Wasser übergossen.
Ich wurde dann immer weiter gejagt, bis ich fast physisch zusammengebrochen war. So ging es Tag für Tag, und ich war nahe daran zu verzweifeln, wenn ich dachte, daß dies wochen-, ja monatelang so weitergehen würde. ... Doch die Schwierigkeiten im Lager wurden dann so groß, daß ich mich eines Tages bei der Lagerführung meldete und dort den bekannten Schrieb unterzeichnete, wonach ich nichts mehr mit der IBV [Internationale Bibelforscher-Vereinigung] zu tun haben wollte. Ich unterschrieb, weil ich zu Hause wenig studiert hatte. Meine Eltern hatten selbst zu wenig studiert, so daß wir Kinder nur mangelhaft von ihnen unterrichtet worden waren. ... Es war mir vor Augen geführt worden, daß wir ein solches Schreiben ruhig unterzeichnen könnten, da erstens nur etwas von Bibelforschern darin gesagt werde und nichts von Jehovas Zeugen und wir zweitens den Feind ruhig belügen könnten, wenn wir dadurch wieder frei würden, um Jehova draußen noch besser dienen zu können.“ Erst später, als er in Sachsenhausen war, halfen ihm reife Brüder, die Bedeutung der christlichen Lauterkeit zu verstehen, und stärkten seinen Glauben.
MAUTHAUSEN
Obwohl schon in Dachau viele Menschen vergast und auf andere grausame Weise ums Leben gebracht wurden, war Mauthausen ein ausgesprochenes Vernichtungslager. Der Lagerführer Ziereis sagte immer wieder, er wolle nur Totenscheine sehen. Tatsächlich wurden innerhalb von sechs Jahren in den beiden modernen Krematorien, die es dort gab, 210 000 Männer verbrannt, das ist ein Durchschnitt von täglich 100.
Soweit Häftlinge dort überhaupt zum Arbeitseinsatz kamen, mußten sie im allgemeinen im Steinbruch arbeiten. Dort befand sich eine steile Wand, die von der unmenschlichen SS die „Mauer der Fallschirmspringer“ genannt wurde. Hunderte von Häftlingen wurden dort hinuntergestoßen, die dann zerschmettert liegenblieben oder in einem mit Regenwasser gefüllten Graben ertranken. Viele verzweifelte Häftlinge stürzten sich sogar freiwillig in diesen Abgrund.
Eine andere Attraktion war die „Todestreppe“. Hierbei handelte es sich um eine Treppe mit 186 verschiedenartigen und auch verschieden hohen, lose übereinandergelegten Blöcken, die Stufen genannt wurden. Nachdem die Häftlinge schwere Steine auf ihren Schultern nach oben geschleppt hatten, machten sich die SS-Männer einen Spaß daraus, einen Massensturz in Gang zu setzen, indem sie sie traten oder mit dem Kolben ihres Gewehres schlugen und sie dadurch die „Treppe“ wieder hinunterstießen. Viele fanden dabei den Tod, und die Zahl der Erschlagenen wurde durch die herabstürzenden Steine immer größer. Valentin Steinbach aus Frankfurt erinnert sich, daß häufig Strafkommandos, die morgens noch eine Stärke von 120 Mann hatten, abends nur mit 20 Mann zurückkehrten.
KONZENTRATIONSLAGER FÜR FRAUEN
Nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen wurden Konzentrationslager errichtet. Eines davon wurde schon 1935 in Moringen, in der Nähe von Hannover, in Betrieb genommen. Als im Jahre 1937 der Druck auf Jehovas Zeugen verstärkt wurde, wurde das Lager in Moringen aufgelöst. Im Dezember wurden ungefähr 600 Häftlinge in das Lager Lichtenburg gebracht. Da die Bemühungen, unsere Schwestern von ihrer konsequenten Haltung abzubringen, scheiterten, wurde eine Strafstation eingerichtet. Ihre Aufseherinnen gaben ihnen sehr wenig zu essen und suchten ständig, Gründe zu finden, um sie zu bestrafen. Der Lagerkommandant sagte ihnen dann: „Wenn ihr leben wollt, dann kommt zu mir und unterschreibt.“
Eine Methode, die man anwandte, um unsere Schwestern zu veranlassen, ihre Lauterkeit aufzugeben, schildert Schwester Ilse Unterdörfer: „Eines Tages wurde Schwester Elisabeth Lange aus Chemnitz zum Direktor gerufen. Da sie entschieden ablehnte, sich umzustellen, das heißt den üblichen Revers zu unterschreiben, ließ er sie in eine Arrestzelle bringen. Die Arrestzellen befanden sich im Keller dieser alten Burg. Wie sich wohl jeder, der die alten Burgen und ihre Burgverliese kennt, denken kann, war der Aufenthalt dort äußerst unheimlich. Es waren dunkle Löcher mit einem kleinen vergitterten Fenster. Die Bettstatt war aus Steinen gemauert. Auf diesem kalten, harten Lager mußte man meistens ohne Strohsack liegen. In diesem Kellerloch mußte Schwester Lange ein halbes Jahr in Einzelhaft verbringen, aber auch dies konnte sie in ihrer Standhaftigkeit nicht erschüttern, obwohl sie gesundheitlich sehr litt.“
Eine andere Methode, die angewandt wurde, um die Standhaftigkeit unserer Schwestern zu erschüttern, bestand darin, daß man ihnen schwere körperliche Arbeit aufbürdete. Aus diesem Grund wurde eine Anzahl Schwestern nach Ravensbrück gebracht. Am 15. Mai 1939 traf dort die erste Gruppe ein, und andere folgten bald darauf. Das Lager war bald auf 950 Frauen angewachsen, und etwa 400 von ihnen waren Zeuginnen Jehovas. Alle wurden zu den schwersten Aufbau- und Aufräumungsarbeiten herangezogen, Arbeiten, die normalerweise nur von Männern verlangt werden. Der neue Lagerkommandant, der sich durch besondere Brutalität auszeichnete, glaubte nun, die Schwestern durch die harte Arbeit mürbe machen zu können.
Natürlich verloren bei einer solchen Behandlung sehr viele Schwestern das Leben. Darüber hinaus wurden ganze Transporte nach Auschwitz gebracht, ein Lager, das wie das Lager Mauthausen besonders zur Massenvernichtung eingerichtet war. Frauen, die alt oder krank waren und die nicht den Maßstäben entsprachen, die die SS-Männer an Frauen anlegten, die eine „Herrenrasse“ hervorbringen konnten, mußten mit dem Tod rechnen. Berta Maurer erzählt uns, was dort vor sich ging:
„Zur Auswahl mußten wir alle nackt vor einer Kommission erscheinen. Gleich danach ging auch schon der erste Transport nach Auschwitz. Unter ihnen befand sich eine ganze Anzahl Schwestern, denen man zwar vortäuschte, sie kämen in ein Lager, wo sie es leichter hätten, obwohl alle wußten, daß das Leben in Auschwitz noch unerträglicher war. Dasselbe wurde auch denen gesagt, die den zweiten Transport bildeten. Darunter befanden sich ebenfalls viele schwache und kranke Schwestern.“ Bald darauf wurden ihre Verwandten von ihrem Tod unterrichtet. In den meisten Fällen gab man als Todesursache „Kreislaufstörung“ an.
Etwas anderes, was für unsere Schwestern eine Prüfung hätte darstellen können, berichtet Auguste Schneider aus Bad Kreuznach:
„Eines Tages kam ein Häftling zu mir und sagte: ,Frau Schneider, ich gehe jetzt fort von hier.‘ Ich fragte sie, wohin sie denn gehen wolle, worauf sie mir antwortete: ,Es sind zu viele Männer da, und es muß ein Freudenhaus eingerichtet werden. Wir sind gefragt worden, und es haben sich zwanzig bis dreißig Frauen gemeldet. Wir bekommen jetzt schöne Kleider und werden ganz fein gemacht.‘ Ich fragte sie dann, wo das sein sollte, worauf sie antwortete: ,Im Männerlager.‘
Es ist kaum zu beschreiben, was sich dann dort alles abgespielt hat. Doch eines Tages sagte ein SS-Führer zu mir: ,Frau Schneider, Sie werden gehört haben, was im Männerlager vor sich geht. Doch das muß ich sagen, keiner von den Zeugen Jehovas war dabei!‘ “
Ravensbrück wurde als das berüchtigtste aller Frauenkonzentrationslager bekannt. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war die Zahl der Schwestern dort auf etwa 500 angestiegen.
Eines Tages wurden einige Schwestern plötzlich aus ihren Zellen gerufen und erhielten den Auftrag, den ganzen Bau auf Hochglanz zu bringen, da Himmler angedeutet hatte, er werde das Lager besichtigen. Aber der Tag ging vorüber, ohne daß er kam. Unsere Schwestern hatten sich schon zum Schlafen fertiggemacht, das heißt, sie hatten ihre Schuhe ausgezogen, die ihnen als Kopfkissen dienten. Wegen der Kälte schliefen sie in ihren Kleidern. Sie legten sich so dicht wie möglich aneinander, damit sie sich gegenseitig wärmten. Von Zeit zu Zeit wechselten sie ihre Plätze, so daß jeder einmal an die Außenseite kam, wo es natürlich kälter war. Plötzlich waren laute Stimmen in den Gängen zu hören, und die Zellentüren wurden aufgeschlossen. Jetzt standen unsere Schwestern vor dem Mann, der in Deutschland über Leben und Tod entschied. Himmler musterte die Schwestern scharf, stellte ihnen einige Fragen und mußte sich davon überzeugen, daß sie nicht bereit waren, irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
Noch am gleichen Abend, nachdem Himmler und seine Begleiter wieder fort waren, wurde eine ganze Anzahl Häftlinge herausgerufen, und andere Häftlinge konnten ihre Schreie hören. Himmler hatte die „verschärfte“ Strafe auch für Frauen eingeführt; sie erhielten fünfundzwanzig Schläge mit der Stahlrute auf das entblößte Gesäß.
Eine Schwester berichtet von dem Mut, mit dem viele ihre Probleme ertrugen: „In meinem Block war auch eine Jüdin, die die Wahrheit angenommen hatte. Auch sie wurde eines Nachts geweckt. Ich hörte es, stand auf und gab ihr noch einige Worte des Trostes mit auf den schweren Gang. Doch sie sagte: ‚Ich weiß genau was mir bevorsteht. Doch ich bin glücklich, noch die wunderbare Hoffnung der Auferstehung kennengelernt zu haben. Ich gehe gefaßt in den Tod.‘ Und tapfer schritt sie von dannen.“
SPALTUNGEN VERSCHLIMMERN DIE MÜHSALE
Als die Brüder in den Lagern von den Brüdern draußen abgeschnitten waren, spürten sie ein großes Verlangen nach geistiger Speise. Neuankömmlinge wurden von den Brüdern ausgefragt, was inzwischen im Wachtturm veröffentlicht worden sei. Manchmal wurden die Informationen genau vermittelt, manchmal aber auch nicht. Es gab auch Brüder, die versuchten, anhand der Bibel das Datum festzustellen, an dem sie befreit werden würden, und obwohl ihre Argumente schwach waren, griffen doch einige hoffnungsvoll nach diesem „Strohhalm“.
In dieser Zeit wurde ein Bruder, der ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis hatte, nach Buchenwald gebracht. Zuerst war seine Fähigkeit, sich zu erinnern und anderen die Dinge mitzuteilen, die er gelernt hatte, eine Quelle der Ermunterung für die Brüder. Aber im Laufe der Zeit wurde er ein Idol, „das Wunder von Buchenwald“, und seine Äußerungen, sogar seine persönliche Meinung, wurden als maßgebend betrachtet. Von Dezember 1937 bis 1940 hielt er jeden Abend einen Vortrag, insgesamt also etwa 1 000 Vorträge, und viele davon wurden in Kurzschrift mitgeschrieben, damit sie vervielfältigt werden konnten. Obwohl es viele ältere Brüder im Lager gab, die die Fähigkeit hatten, Vorträge zu halten, war dieser Bruder der einzige, der dies tat. Alle, die nicht völlig in Übereinstimmung mit ihm waren, wurden als „Feinde des Königreiches“ und als „Achans Familie“ bezeichnet und sollten von den „Treuen“ gemieden werden. Fast vierhundert Brüder waren mehr oder weniger bereit, diese Vorkehrung anzuerkennen.
Diejenigen, die so zu „Feinden“ gestempelt wurden, waren ebenfalls Brüder, die bereit waren, ihr Leben einzusetzen, um die Königreichsinteressen nach bestem Können zu fördern. Auch sie waren ins Lager gebracht worden, weil sie entschlossen waren, ihre Lauterkeit selbst bis zum Tode zu beweisen. Zwar wandten einige von ihnen biblische Grundsätze nicht völlig an. Doch wenn sie mit den Verantwortlichen Verbindung aufnehmen wollten, damit auch sie aus der geistigen Speise Nutzen ziehen konnten, die in Buchenwald erhältlich war, betrachteten diese es als „unter ihrer Würde“, solche Angelegenheiten zu besprechen.
Wilhelm Bathen aus Dinslaken, der Jehova immer noch treu dient, erzählt, wie es ihm persönlich erging: „Als ich wußte, daß ich auch ausgeschlossen war, war ich seelisch derart herunter und deprimiert, daß ich mich fragte, wie so etwas möglich sein könne. ... Ich habe oft auf den Knien gelegen und zu Jehova gebetet, er möge mir ein Zeichen geben. Ich fragte mich, ob ich etwa selbst daran schuld sei und ob auch er mich ausgeschlossen habe. Da ich eine Bibel hatte, habe ich darin bei verdunkeltem Licht gelesen und fand großen Trost bei dem Gedanken, daß dies mir zur Prüfung widerfahren sei. Sonst wäre ich zugrunde gegangen, denn es war ein gewaltiger Schmerz, von der Gemeinschaft der Brüder ausgeschlossen zu sein.“
So trugen menschliche Unvollkommenheiten und eine übertriebene Ansicht über die eigene Wichtigkeit zu Spaltungen unter Gottes Volk bei, und das bedeutete für einige eine schwere Prüfung.
VON DEM WUNSCH ZU „ÜBERLEBEN“ ÜBERMANNT
Einige, die in ein Lager gebracht wurden, da sie entschlossen waren, keine Kompromisse einzugehen, ließen später ihren Wunsch zu „überleben“ stärker werden als ihre Liebe zu Jehova und zu ihren Brüdern. Wenn jemand in der Lagerorganisation eine verantwortliche Stellung erhalten konnte und mit der Aufsicht über irgendeinen Arbeitsbereich betraut wurde, mußte er seine Kraft nicht mehr bei harter Zwangsarbeit verschleißen. Aber das war gefährlich. In vielen Fällen erforderte dies, daß er eng mit der SS zusammenarbeitete, daß er die Häftlinge zu schnellerer Arbeit antrieb und daß er Häftlinge — sogar seine eigenen Brüder — anzeigte, damit sie bestraft würden.
Ein Bruder namens Martens befand sich in einer solchen Lage, als er im Lager Wewelsburg war. Zuerst hatte er die Aufsicht über 250 Bibelforscher. Er bemühte sich ständig, ein sehr guter „Lagerältester“ in den Augen der SS zu sein. Im Laufe der Zeit wurden auch viele politische und andere Häftlinge ins Lager gebracht. Martens wollte seine Stellung nicht verlieren, und daher vertrat er die Interessen der SS und wandte ihre Methoden an.
Es dauerte nicht lange, und er verbot den Brüdern, den Tagestext zu besprechen oder gemeinsam zu beten. Bald führte er Leibesvisitationen durch und schlug diejenigen, bei denen er einen Zettel mit dem Tagestext fand, mit einem Gummischlauch. Eines Morgens, als mehrere Brüder gemeinsam beteten, sprang er in ihre Mitte, unterbrach sie und rief: „Kennt ihr nicht die Lagerordnung? Soll ich euretwegen hier Schwierigkeiten haben?“ So wurde einer großen Zahl treuer Brüder zusätzliches Leid durch einige wenige bereitet, die ihr Ziel aus dem Auge verloren hatten.
DAS PROBLEM DES HUNGERS
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden alle verfügbaren Nahrungsmittel an die Front geschickt. Die Mahlzeiten in den Konzentrationslagern bestanden größtenteils aus Steckrüben, die im allgemeinen nur als Tierfutter verwendet werden. Alles wurde so lieblos zubereitet, daß man oft von Häftlingen hören konnte, selbst Schweine würden ein derartiges Futter ablehnen. Aber es ging nicht darum, etwas Schmackhaftes zu sich zu nehmen, sondern einfach zu überleben. Viele verhungerten. „Die größte Prüfung war für mich persönlich der Hunger“, schreibt Bruder Kurt Hedel und erklärt in seinem Bericht weiter: „Ich bin 1,90 Meter groß und habe ein Normalgewicht von 105 kg. Aber im Winter 1939/40 wog ich nur noch 40 kg und weniger. Ich war nur noch Haut und Knochen, denn ich bekam trotz meiner Körpergröße nicht mehr zu essen als diejenigen, die kleiner waren. Oft habe ich dagestanden und mir vor Schmerzen die Fäuste in die Magengegend gedrückt, bis mir ein reifer Bruder den Rat gab, mein Problem Jehova im Gebet darzulegen und ihn zu bitten, er möge mir helfen, die Schmerzen zu ertragen. Bald darauf durfte ich erkennen, welche Hilfe das Gebet in solchen Situationen bietet.“ Ein anderer Bruder erinnert sich, daß er oft etwas Sand in den Mund nahm, um damit gegen das Hungergefühl anzukämpfen.
Wie wohltuend wirkte sich in solchen Situationen dann die brüderliche Gemeinschaft aus! Ja, es war ergreifend zu sehen, wenn Brüder, die selbst schon vom Tode gezeichnet waren, denjenigen, denen es noch schlechter ging, etwas von ihrer kargen Brotration abgaben. Oft waren es nur Krumen, die sie denen heimlich unter ihr Kopfkissen legten, denen das Essen aus irgendeinem Grund entzogen worden war und die bis zum Schlafengehen bei grimmiger Kälte mit dürftiger Kleidung auf dem Appellplatz stehen mußten. Wie ermutigend war aber auch für diejenigen, die der Feind beinahe „mürbe“ gemacht hatte, ein ermunterndes Wort aus dem Mund eines reifen Bruders, das wie Öl in eine Wunde träufelte und neue Kraft vermittelte, wenn die Lage fast unerträglich geworden war! Und wie machtvoll wirkte sich das gemeinsame Gebet aus! Häufig wurden abends, nachdem die Baracken abgeschlossen worden waren und in den Schlafräumen alles ruhig geworden war, Probleme gemeinsam Jehova im Gebet vorgetragen. Oft handelte es sich dabei um Angelegenheiten, die sie alle betrafen, aber genausooft auch um Probleme, die einzelne Brüder hatten. Wenn dann Jehova — wie in so zahlreichen Fällen — sofort handelte und ein Unheil abwendete, gab es schon am nächsten Tag Ursache für ein gemeinsames Dankgebet. Die Brüder wären mit bestimmten Situationen nicht allein fertig geworden, aber sie erkannten immer wieder, daß sie nie allein waren.
WAS MIT DENEN GESCHAH, DIE KOMPROMISSE SCHLOSSEN
Es ist interessant, daß die SS, die oft die schmutzigsten Tricks anwandte, um jemand zur Unterschrift unter die Erklärung zu verleiten, sich häufig gegen die wandte, die tatsächlich unterschrieben, und diese später mehr drangsalierte als zuvor. Karl Kirscht bestätigt dies: „Jehovas Zeugen wurden in den Konzentrationslagern am meisten schikaniert. Man glaubte, sie dadurch zur Unterschrift einer Widerrufserklärung bewegen zu können. Wir wurden wiederholt gefragt, ob wir zu dieser Unterschrift bereit wären. Einzelne taten dies, mußten aber in den meisten Fällen über ein Jahr auf ihre Entlassung warten. Während dieser Zeit wurden sie von der SS oft öffentlich als Heuchler und Feiglinge beschimpft und mußten manchmal sogar eine ,Ehrenrunde‘ um ihre Brüder machen, bevor sie das Lager verlassen durften.“
Wilhelm Röger erinnert sich an einen Bruder, der nach dem Besuch seiner Frau und seiner Tochter das Schriftstück unterschrieb, aber seinen Brüdern im Lager nichts davon erzählte. „Einige Wochen später wurde er aufgerufen, um entlassen zu werden. (Solche mußten sich dann gewöhnlich am Tor aufstellen, bis sie aufgerufen wurden.) Dieser Bruder stand aber abends noch am Tor, so daß er wieder in die Baracke zu den Brüdern zurückgehen mußte. Nach dem Abendappell, den der gefürchtete Oberscharführer Knittler abnahm, mußte der erwähnte Bruder einen Schemel aus der Baracke holen und sich auf dem Appellplatz vor die aufmarschierten Brüder stellen. Jetzt wies Knittler auf diesen Bruder hin, indem er uns alle scharf anschaute und sagte: ,Seht da, euer Feigling, der unterschrieben hat, ohne euch etwas davon zu sagen!‘ Tatsächlich hätte es die SS gern gesehen, wenn wir alle unterschrieben hätten. Doch dann wäre es mit der Achtung, die sie uns doch immerhin im geheimen zollte, vorbei gewesen.“
Schwester Dietrichkeit erinnert sich an zwei Schwestern, die die Erklärung unterschrieben. Als sie zurückkehrten, erklärten sie Schwester Dietrichkeit, sie hätten unterschrieben, weil sie fürchteten, verhungern zu müssen. Sie verschwiegen auch nicht, daß die SS sie gefragt hatte: „So, jetzt habt ihr euren Gott Jehova abgeleugnet. Welchem Gott wollt ihr jetzt dienen?“ Die beiden Schwestern wurden bald darauf entlassen, aber als die Russen ins Land kamen, wurden beide aus irgendeinem Grund erneut verhaftet und von den Russen ins Gefängnis gebracht, wo sie tatsächlich verhungerten. In einem anderen Fall wurde eine Schwester, die die Unterschrift leistete, noch in den letzten Tagen des Krieges von Russen vergewaltigt und darauf ermordet.
Eine große Anzahl Brüder, die die Erklärung unterschrieben, wurden zum Militär eingezogen und an die Front gebracht, wo die meisten von ihnen umkamen.
Obwohl es genügend Beweise dafür gibt, daß die Brüder, die die Unterschrift leisteten, sich dadurch außerhalb des Schutzes Jehovas begaben, waren sie in den meisten Fällen keine „Verräter“. Viele machten ihre Unterschrift vor ihrer Entlassung rückgängig, nachdem ihnen verständnisvolle, reife Brüder geholfen hatten, zu erkennen, was sie getan hatten. Reuevoll baten sie Jehova, ihnen noch eine Gelegenheit einzuräumen, ihre Treue zu beweisen, und viele von ihnen schlossen sich nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes sogleich den Reihen der Verkündiger an und begannen als Versammlungsverkündiger zu arbeiten, später als Pioniere, Aufseher, ja sogar als reisende Aufseher und förderten auf beispielhafte Weise die Interessen des Königreiches Jehovas. Viele wurden durch die Erfahrung getröstet, die Petrus machte, der ebenfalls seinen Herrn und Meister verleugnet hatte, aber später wieder seine Gunst erlangte. — Matth. 26:69-75; Joh. 21:15-19.
VERRAT
Während einige vorübergehend ihr geistiges Gleichgewicht aufgrund der raffinierten Methoden, die angewandt wurden, oder aufgrund menschlicher Schwäche verloren, gab es andere, die Verräter wurden und viel Leid über ihre Brüder brachten.
In den Jahren 1937/38 kam, wie Julius Riffel berichtet, „ein Bruder Hans Müller aus Dresden ins Bethel in Bern und versuchte auf diesem Wege, mit Brüdern aus Deutschland in Verbindung zu kommen, angeblich mit dem Ziel, ,nach der Verhaftung so vieler Brüder die Untergrundorganisation in Deutschland wiederaufzubauen‘.
Natürlich erklärte ich mich — und auch noch einige andere Brüder — bereit mitzuarbeiten. Leider war es uns damals nicht bekannt, daß dieser Bruder Müller bereits mit der Gestapo in Deutschland zusammenarbeitete. Wir haben darum in unserer Ahnungslosigkeit in Bern unsere Pläne gemacht und gingen dann an die Arbeit. Ich sollte Baden-Württemberg übernehmen. Im Februar 1938 ging ich allein über die Grenze nach Deutschland und versuchte, neue Fäden zu knüpfen und Verbindungen zu jenen Brüdern herzustellen, die noch in Freiheit waren. Aber schon nach vierzehn Tagen wurde ich verhaftet. ... Die Gestapo war über unsere Tätigkeit bis ins kleinste informiert, und dies durch diesen falschen Bruder, der zuerst mithalf, die Untergrundorganisation aufzubauen, um sie dann der Gestapo wieder auszuliefern. Dasselbe tat dieser angebliche ,Bruder‘ ein Jahr später in Holland und auch in der Tschechoslowakei. ...
Im Jahre 1939 wurde ich einmal im Gefängniswagen zu einem Gerichtsprozeß nach Koblenz am Rhein gebracht, um als Zeuge in Verbindung mit drei Schwestern vernommen zu werden, die mit mir im Untergrundwerk in Stuttgart zusammengearbeitet hatten. Dort war ich Ohrenzeuge, wie ein Gestapobeamter einem Justizbeamten erzählte, wie sie über uns in allen Einzelheiten Bescheid wußten, was Deckadressen, Decknamen sowie den Aufbau der Organisation betraf. Als wir uns einmal im Gang aufhalten mußten, sagte derselbe Gestapobeamte zu mir, daß sie nicht so leicht hinter unsere Tätigkeit gekommen wären, wenn wir nicht Strolche in unseren Reihen hätten. Leider konnte ich ihm nicht unrecht geben. ... Es war mir möglich, von Zeit zu Zeit aus dem Gefängnis vor diesem verräterischen ,Bruder‘ zu warnen, jedoch hat Bruder Harbeck die Warnung nie beachtet, weil er es nicht glauben konnte. Nach meiner Auffassung hat dieser Müller Hunderte unserer Brüder ins Gefängnis gebracht.“
DER STROM FLIESST WEITER
Obwohl der Feind wiederholt neue Breschen in die Reihen des Volkes Gottes schlug und die Zahl derer, die sich noch in Freiheit befanden, immer mehr dezimiert wurde, gab es stets einige, die die Notwendigkeit erkannten, die Brüder mit geistiger Speise zu versorgen. Dies taten sie unter Einsatz ihres Lebens. Einer der Brüder, die eine Wachtturm-Verteilerorganisation wiederaufbauten, während Müller seine schmutzige Arbeit in Dresden fortsetzte, war Ludwig Cyranek. Er tat dies, bis er verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Doch sobald Bruder Cyranek aus dem Gefängnis freigelassen wurde, begab er sich wieder an die Arbeit.
Viele Schwestern füllten freudig die Lücken aus, die durch die Verhaftung der Brüder entstanden waren, obwohl ihnen bewußt war, daß sie zufolge der verschärften Kriegsgesetze das Leben verlieren konnten, wenn sie ertappt würden. Unter denen, die den Wachtturm verteilten, befanden sich zum Beispiel Schwester Neuffer aus Holzgerlingen, Schwester Pfisterer aus Stuttgart und Schwester Franke aus Mainz. Bruder Cyranek schrieb diesen Schwestern Briefe harmlosen Inhalts, die die Schwestern erst bügeln mußten, damit sie die geheime Botschaft lesen konnten, die er darunter mit Zitronensaft geschrieben hatte und durch die sie erfuhren, wohin sie die vervielfältigten Exemplare des Wachtturms bringen sollten und wie viele.
Von Zeit zu Zeit fuhr Bruder Cyranek nach Stuttgart, wo Maria Hombach für ihn als Sekretärin, arbeitete. Er diktierte ihr Berichte über das Werk in Deutschland, die er dann an Arthur Winkler in den Niederlanden sandte, der für Deutschland und Österreich zuständig war. Schwester Hombach schrieb diese Briefe ebenfalls mit Zitronensaft, damit wichtige Informationen nicht in unbefugte Hände fielen.
Daß diese Untergrundtätigkeit mindestens ein Jahr lang funktionierte, kann nur der Führung Jehovas zugeschrieben werden. Oft sorgte er dafür, daß sein Volk seltsame Wege geführt wurde, damit es geistige Speise zur rechten Zeit empfing. Müller sah bald die Zeit dafür gekommen, diesen ganzen Organisationsring an die Gestapo zu verraten. Jeder der Beteiligten wurde innerhalb einiger Tage verhaftet. Während des Prozesses in Dresden wurde Bruder Cyranek zum Tode verurteilt, und die anderen erhielten hohe Zuchthausstrafen. Am 3. Juli 1941, nur wenige Stunden vor seiner Hinrichtung, schrieb er an seine Verwandten folgenden Brief:
„Mein lieber Bruder, meine liebe Schwägerin, meine lieben Eltern, alle anderen Geschwister mit eingeschlossen!
Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre! Nunmehr muß ich Euch die schmerzliche Eröffnung machen, daß ich mich bei Ankunft dieses Briefes nicht mehr in diesem Dasein befinde. Seid bitte, bitte nicht allzu traurig. Denket, daß es für den allmächtigen Gott ein leichtes ist, mich aus dem Tode zu erwecken. Ja, er vermag alles, und wenn er mich den bitteren Kelch trinken läßt, dann hat es auch seinen Zweck. Wißt, daß es mein Bestreben war, ihm in meiner Schwachheit zu dienen, und ich bin überzeugt davon, daß Gott mir bis zum Ende beisteht. Ich befehle mich in seine Hände. Ich scheide von Euch, indem meine Gedanken bei Euch, Ihr Lieben, in der letzten Stunde verweilen. Möge Euer Herz nicht erschrecken, vielmehr fasset Euch, denn so ist es ja sicherlich besser für Euch, als mich dauernd im Zuchthaus wissend, was eine ständige Sorge für Euch wäre. Und nun will ich Euch, liebe Mutter, lieber Vater, danken für alles Gute, das Ihr mir erwiesen habt. Ich kann ja nur einen schwachen Dank stammeln. Möge Jehova Euch alles vergelten. Mein Flehen ist, daß er Euch bewahren und segnen möge, denn sein Segen allein macht reich. Lieber Toni! Ich glaube gern, daß Du alle Hebel in Bewegung gesetzt hättest, um mich aus der „Löwengrube“ herauszuholen, doch vergebens. Heute abend erhielt ich Bescheid, daß das Gnadengesuch abgelehnt wurde und morgen früh die Vollstreckung erfolgt. Niemals habe ich selbst eine Eingabe gemacht und um Gnade von Menschen gebeten. Ich anerkenne aber Deinen guten Willen, mir zu helfen, und danke Dir sowie Luise aus tiefstem Herzensgrund für das Gute, das Ihr mir schenktet. Die Zeilen, die Eure Anteilnahme bekunden, haben mir wohlgetan. So seid alle miteinander herzlich gegrüßt und geküßt, besonders habe ich Karl in mein Herz geschlossen. Gott mit Euch, bis wir uns wiedersehen. Es umarmt Euch alle [gez.] Ludwig Cyranek“
Julius Engelhardt, der den Wachtturm zusammen mit Schwester Frey in Bruchsal vervielfältigte, hatte in Süddeutschland eng mit Bruder Cyranek zusammengearbeitet. Es war vorgesehen, daß er im Falle der Verhaftung Bruder Cyraneks das Werk fortsetzen sollte. Leider wurde auch er von Müller an die Gestapo verraten, und bald fand man seinen Schlupfwinkel in seiner Heimatstadt Karlsruhe. Aber Bruder Engelhardt hatte die Schwestern immer mit den Worten ermuntert: „Mehr als unseren Kopf kann es nicht kosten“, und er war entschlossen, seine Freiheit so teuer wie möglich zu verkaufen. Obwohl ihn der Gestapobeamte schon gefaßt hatte, riß er sich plötzlich los, eilte die Treppen hinab und verschwand auf der Straße unter der Menge, bevor ihn die Polizei aufhalten konnte. Es ist interessant, was weltliche Chronisten in dem Buch Widerstand und Verfolgung in Essen 1933—1945 aus den Gestapoakten über die Tätigkeit von Bruder Engelhardt zusammengetragen haben:
„Mit der Verhaftung von Cyranek, Noernheim und anderen war die Versorgung mit illegalem Schriftenmaterial keineswegs unterbunden, denn Engelhardt, der zuerst im Südwesten operiert hatte, mußte sich von dort im März 1940 nach dem Ruhrgebiet absetzen, da ihm in seinem bisherigen Stützpunkt Karlsruhe die Festnahme drohte. Nach vorübergehendem Aufenthalt in Essen fand er eine illegale Unterkunft in Oberhausen-Sterkrade, wo er von Anfang 1941 bis zum April 1943 27 verschiedene Auflagen des ,Wachtturms‘ in einer Auflage von zuerst 240 und später 360 Exemplaren herstellte sowie anderes Schriftenmaterial. Vom Ruhrgebiet aus richtete er Stützpunkte in München, Mannheim, Speyer, Dresden sowie Freiberg in Sachsen ein und übernahm Kassiereraufgaben im ganzen Reich. ... Gegen die Mitglieder einer Essener Gruppe, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit Engelhardts Zusammenkünfte abhielten und regelmäßig den ,Wachtturm‘ sowie das ,Mitteilungsblatt der deutschen Verbreitungsstelle des Wachtturms‘ verteilt hatten, wurden am 18. September 1944 vom Oberlandesgericht in Hamm hohe Zuchthausstrafen verhängt. Viele von ihnen sind umgebracht worden.“
Christine Hetkamp gibt uns ebenfalls einen ermutigenden Bericht über Bruder Engelhardts Tätigkeit. „Von dieser Zeit an wurde mein Mann, der auch ein getaufter Zeuge Jehovas war, ein sehr bösartiger Verfolger der Wahrheit. ... Ich [habe] keine Versammlung versäumt, die abwechselnd in der Wohnung meiner Mutter, in meiner und in der meines Bruders stattfanden. Ich konnte es in meiner Wohnung tun, da mein Mann unsere Wohnung verließ, und zwar von Montag bis Samstag. Er hielt sich die ganze Woche bei seiner Schwester auf, die etwas außerhalb unserer Heimatstadt wohnte. Diese Familie war eine sehr politische Nazi-Familie, wo mein Mann Unterschlupf fand, denn er konnte unseren Geist nicht mehr ertragen, was auch verständlich war. So wurde während seiner Abwesenheit in meiner Wohnung fast drei Jahre lang unterirdisch Der Wachtturm gedruckt. Ein Bruder [Bruder Engelhardt], der bei uns drei Jahre verborgen lebte, schrieb auf der Schreibmaschine erst die Matrizen, mit denen er dann den Wachtturm vervielfältigte. Anschließend begab er sich mit meiner Mutter auf die Reise. Sie fuhren nach Berlin, Mainz und Mannheim usw. und gaben die Zeitschriften an zuverlässigen Stellen ab. Von dort aus wurden sie weiterverteilt. So hatten Bruder Engelhardt und meine Mutter alle Fäden in der Hand, während ich das Essen kochte und die Wäsche wusch. Als meine Mutter inhaftiert wurde, habe ich die Wachttürme selbst nach Mainz und Mannheim zu den Stützpunkten gebracht. ... Im April 1943 wurde meine Mutter zum zweiten Mal verhaftet. Diesmal für immer. Anschließend auch Bruder Julius Engelhardt, der noch so lange die Fäden in den Händen behielt und das Untergrundwerk leitete.“
Später wurden Schwester Hetkamps Tochter, ihr Schwager, ihre Schwester, ihre Schwägerin und ihre Tante verhaftet. Ihr Prozeß fand am 2. Juni 1944 statt. Bruder Engelhardt und sieben weitere Angeklagte, darunter Schwester Hetkamps Mutter, wurden zum Tode verurteilt. Bald danach wurden sie alle enthauptet.
Von da an wurden die Zustände in Deutschland immer verworrener. Es ist jetzt nicht mehr genau festzustellen, wo um diese Zeit noch Der Wachtturm vervielfältigt wurde, aber er wurde verfielfältigt.
TREU BIS ZUM TODE
Die zahlreichen Hinrichtungen, die während des Dritten Reiches vollstreckt wurden, nehmen einen besonderen Platz in der Geschichte der Verfolgung ein. Laut unvollständigen Berichten wurden mindestens 203 Brüder und Schwestern enthauptet oder erschossen. In dieser Zahl sind nicht diejenigen inbegriffen, die an Hunger, Krankheit oder brutaler Mißhandlung starben.
Über einen Bruder, der zum Tode verurteilt worden war, berichtet Bruder Bär: „Alle Mitgefangenen und auch die Vollzugsbeamten waren voller Bewunderung für ihn. Da er als Schlosser Reparaturarbeiten machte, kam er im ganzen Gefängnis herum. Er machte täglich seine Arbeit, ohne mißmutig oder traurig zu sein; im Gegenteil, er sang bei seiner Arbeit zum Preise Jehovas.“ Eines Tages wurde er gegen Mittag aus der Werkstatt geholt und noch an jenem Abend hingerichtet.
Bruder Bär fährt dann in seinem Bericht fort: „Meine Frau sah einmal eine ihr unbekannte Schwester im Gefängnis in Potsdam. Sie begegnete ihr im Gefängnishof, wo sie an ihr vorübergeführt wurde. Als die Schwester meine Frau sah, hob sie ihre beiden gefesselten Hände empor und winkte meiner Frau freudig zu. Obwohl zum Tode verurteilt, lag in ihrem Blick weder Schmerz noch Traurigkeit.“ Diese Ruhe und dieser Frieden, die unsere zum Tode verurteilten Brüder und Schwestern ausstrahlten, gewinnen noch an Wert, wenn man bedenkt, was sie in ihren Zellen erdulden mußten.
Während unsere Brüder und Schwestern entschlossen und gefaßt, ja manchmal sogar freudig waren angesichts des schweren Weges, den sie gehen mußten, brachen andere, die keine Zeugen waren, oft in ihrer Todesangst zusammen und schrien laut, bis sie gewaltsam zum Schweigen gebracht wurden.
Jonathan Stark aus Ulm fiel nicht dieser Furcht zum Opfer. Zwar war er erst siebzehn Jahre alt, als er von der Gestapo verhaftet und ohne gesetzliche Formalitäten nach Sachsenhausen geschickt wurde, wo man ihn in die „Todesbaracke“ steckte. Sein Vergehen? Er hatte sich geweigert, den Arbeitsdienst zu leisten. Emil Hartmann aus Berlin hörte, daß Jonathan in diese Baracke gebracht worden war, und obwohl Bruder Hartmann hätte schwer bestraft werden können, gelang es ihm doch, mit diesem jungen Bruder Verbindung aufzunehmen und ihn zu stärken. Für beide waren diese kurzen Besuche sehr ermunternd. Jonathan war immer sehr glücklich. Obwohl er mit dem Tod rechnen mußte, tröstete er seine Mutter mit der wunderbaren Hoffnung auf die Auferstehung. Als ihn nur zwei Wochen nach seiner Ankunft der Lagerkommandant zur Hinrichtungsstätte führte, waren Jonathans letzte Worte: „Für Jehova und für Gideon.“ (Gideon war ein treuer Diener Jehovas, der Jesus Christus vorschattete.) — Ri. 7:18.
Elise Harms aus Wilhelmshaven erinnert sich, daß ihr Mann siebenmal aufgefordert wurde zu widerrufen, nachdem er verurteilt worden war, und als er sich weigerte, erhielt sie die Erlaubnis, ihn zu besuchen, doch unter der Bedingung, daß sie mit all ihrer Kraft versuchte, seine Meinung zu ändern. Aber sie konnte es nicht. Als er enthauptet war, war sie glücklich, daß er Jehova treu geblieben war und daß er nicht länger unter dem Druck stand, untreu zu werden. Inzwischen war sein Vater, Martin Harms, zum dritten Mal verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht worden. Ergreifend ist, was ihm sein Sohn kurz vor seiner Hinrichtung am 9. November 1940 schrieb:
„Mein lieber, guter Vater!
Noch trennen uns gut drei Wochen vom 3. Dezember, von dem Tag, an dem wir uns beide vor zwei Jahren zum letzten Mal sahen. Ich sehe noch Dein liebes Lächeln, als Du im Keller des Gefängnisses warst, um dort zu arbeiten, und ich auf dem Gefängnishof spazierenging. In den Morgenstunden ahnten wir noch nicht, daß mein liebes Lieschen [seine Frau] und ich am Mittag entlassen werden sollten und Du, mein lieber Vater, zu unser aller Schmerz an dem gleichen Tag nach Vechta gebracht wurdest, um später nach Oranienburg [Sachsenhausen] ins Konzentrationslager überführt zu werden. Noch sind mir die letzten Augenblicke in bester Erinnerung, als wir beide allein im Geschäftszimmer des Gefängnisses in Oldenburg waren, als ich meinen Arm um Dich schlang und Dir versprach, für Mutter und auch für Dich zu sorgen, soweit es in meinen Kräften stehe. Meine letzten Worte waren: „Bleibe treu, mein lieber Vater!“ In den letzten 1 3⁄4 Jahren [21 Monaten], in denen ich die Knechtschaft in Freiheit ertragen durfte, habe ich mein Versprechen an Dir wahr gemacht, um es am 3. September, als ich eingezogen wurde, an Deine anderen Kinder abzutreten. Mit Stolz habe ich in der Zeit auf Dich geschaut und mit Bewunderung gesehen, wie Du Dein Los in der Treue zum Herrn trägst. Und nun ist auch mir Gelegenheit gegeben, dem Herrn gegenüber die Treue zu beweisen, ja die Treue nicht nur bis an den Tod, sondern bis in den Tod. Schon jetzt ist das Todesurteil gegen mich ausgesprochen, ich liege Tag und Nacht in Fesseln — die Druckstellen [auf dem Papier] stammen von den Handschellen —, aber ich habe noch nicht bis aufs Blut widerstanden. Das Stehen wird einem Zeugen Jehovas nicht so leicht gemacht. So ist auch mir immer noch die Gelegenheit gegeben, mein irdisches Leben zu retten, um das wirkliche Leben zu verlieren. Ja sogar angesichts des Schafotts wird dem Zeugen Jehovas nochmals Gelegenheit gegeben, seinen Bund zu brechen. Darum bleibt auch der Kampf für mich noch bestehen, und auch ich habe noch viele Siege zu erringen, um sagen zu können: „Ich habe den Kampf gekämpft, ich habe den Glauben bewahrt, fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche Gott, der Gerechte, geben wird.“ Der Kampf ist zweifelsohne schwer, ich bin aber dem Herrn von ganzem Herzen dankbar, daß er mir nicht nur bis hierher die Kraft gegeben hat zu stehen, sondern mir auch jetzt, angesichts des Todes, eine Freudigkeit gegeben hat, die ich gern mit allen meinen Lieben teilen möchte.
Mein lieber Vater, noch bist Du ja auch ein Gefangener, und ob Dich dieser Brief jemals erreicht, das weiß ich nicht. Wenn Du aber einmal freikommst, dann bleibe auch dann noch treu, denn Du weißt, wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. ...
Wenn Du, lieber Vater, wieder zu Hause bist, dann nimm Dich auch ganz besonders meines lieben Lieschens an, denn es wird für sie dann ganz besonders schwer sein, weiß sie doch, daß sie ihren Liebsten nicht zurückerwarten braucht. Ich weiß, daß Du dies tun wirst, ich sage Dir schon jetzt vielen Dank dafür. Mein lieber Vater, im Geiste rufe ich Dir zu, bleibe auch Du treu, wie ich mich bemühe, treu zu sein, dann werden wir uns wiedersehen. Ich werde auch Deiner bis zuletzt gedenken.
Dein Sohn Johannes
Auf Wiedersehen!“
WORTE DER ERMUNTERUNG AN DIEJENIGEN, DIE SICH IN FREIHEIT BEFANDEN
Nicht nur wurden Todeskandidaten von Brüdern, die sich noch in Freiheit befanden, ermuntert, sondern diejenigen, die sich in Freiheit befanden, wurden oft noch mehr von ihren Brüdern im Gefängnis ermuntert. Schwester Auschner aus Kempten kann dies bestätigen. Sie empfing am 28. Februar 1941 einen Brief von ihrem einundzwanzigjährigen Sohn, in dem die folgenden kurzen Zeilen an seinen achtzehneinhalbjährigen Bruder gerichtet waren: „Mein lieber Bruder! Im letzten Brief hatte ich Dich an ein Buch erinnert, und ich hoffe, daß Du es Dir inzwischen zu Herzen genommen hast, was Dir gewiß nur von Nutzen sein wird.“ Zweieinhalb Jahre später empfing Schwester Auschner von ihrem jüngsten Sohn einen Abschiedsbrief. Er hatte sich zu Herzen genommen, was sein älterer Bruder geschrieben hatte, und folgte ihm auf demselben Weg in den Tod.
Die beiden Brüder Ernst und Hans Rehwald aus Stuhm (Ostpreußen) standen einander in der gleichen Weise bei. Nachdem Ernst vor ein Militärgericht gestellt und zum Tode verurteilt worden war, schrieb er in seiner Todeszelle einen Brief an seinen Bruder Hans, der sich in Stuhm im Gefängnis befand: „Lieber Hans, sollte es Dir so ergehen wie mir, dann denke an die Macht des Gebetes. Ich kenne keine Furcht, denn in meinem Herzen ist der Friede Gottes.“ Kurze Zeit später befand sich sein Bruder in der gleichen Lage, und obwohl er erst neunzehn Jahre alt war, wurde er hingerichtet.
EINE PRÜFUNG DER LOYALITÄT FÜR EHEPARTNER
Es war beeindruckend zu sehen, wie enge Angehörige ihre Lieben ermutigten, in ihrer Lauterkeit nicht nachzugeben. Schwester Höhne aus Frankfurt (Oder) begleitete ihren Mann bis zum Bahnhof, nachdem er seinen Gestellungsbefehl erhalten hatte, und sah ihn nie wieder. Ihre letzten Worte waren: „Sei treu“ — Worte, die Bruder Höhne bis zum Tode beherzigt hat.
In vielen Fällen waren die Brüder jung verheiratet, und wäre ihre Liebe zu Jehova und Christus Jesus nicht so stark gewesen, wären sie bestimmt nicht in der Lage gewesen, das Zerschneiden des Bandes zu ihren Angehörigen zu ertragen. Zwei Schwestern, die nun seit über dreiunddreißig Jahren Witwen sind, blicken jetzt dankbar auf die turbulente Zeit zurück, weil Jehova ihnen Hilfe gewährte. Schwester Bühler und Schwester Ballreich aus Neulosheim in der Nähe von Speyer heirateten beide kurz vor Beginn des Verbotes und lernten die Wahrheit ungefähr um die gleiche Zeit kennen. Im Jahre 1940 wurden beide Ehemänner eingezogen, und als sie sich weigerten, Militärdienst zu leisten, wurden sie verhaftet.
Schwester Ballreich fuhr darauf zum Wehrbezirkskommando in Mannheim, wo sie erfuhr, daß die beiden Brüder nach Wiesbaden gebracht worden seien, wo sie vor ein Kriegsgericht gestellt werden sollten. Schwester Ballreich erhielt die Erlaubnis, ihren Mann zu besuchen, doch nur unter der Bedingung, daß sie versuchte, ihn zu einer Sinnesänderung zu bewegen. Unter der gleichen Bedingung erhielt Schwester Bühler die Erlaubnis, ihren Mann zu besuchen. Beide Schwestern fuhren sofort nach Wiesbaden. Schwester Bühler berichtet:
„Das war ein Wiedersehen — ich kann es nicht schildern, wie traurig es war. Er [ihr Mann] fragte nur: ,Warum kommst du?‘, worauf ich ihm antwortete, daß ich ihn beeinflussen solle. Aber er tröstete mich, gab mir biblischen Rat und bat mich, nicht traurig zu sein wie die übrigen, die keine Hoffnung haben, sondern mein ganzes Vertrauen auf unseren großen Gott Jehova zu setzen. ... Ein junger Gerichtsschreiber, der uns beide — Schwester Ballreich und mich — ins Gefängnis begleitete, gab uns den Rat, bis Dienstag in Wiesbaden zu bleiben, denn an diesem Tag wäre die Hauptverhandlung. Wenn wir anwesend wären, so würden wir ihr bestimmt beiwohnen dürfen. Und so blieben wir bis Dienstag. Auf der Straße warteten wir, bis unsere beiden Männer — begleitet von zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren — wie zwei Schwerverbrecher durch die Stadt geführt wurden. Wirklich, ein Schauspiel für Engel und Menschen! Schwester Ballreich und ich sprangen auf der Straße neben ihnen her bis zur Gustav-Freytag-Straße. Wir konnten bei der Verhandlung zugegen sein. Es dauerte nicht einmal eine Stunde, bis zwei unbescholtene, brave Männer ,wegen Wehrzersetzung‘ zum Tode verurteilt waren. Anschließend durften wir noch etwa zwei Stunden mit ihnen im Erdgeschoß zusammen sein. Doch als wir das Gerichtsgebäude wieder verlassen hatten, liefen wir beide in Wiesbaden umher wie zwei verlorene Schafe.“
Wenig später erhielten die beiden jungen Schwestern die Nachricht, daß ihre Männer am 25. Juni 1940 durch Erschießen hingerichtet worden seien. „Es lebe Jehova!“ seien ihre letzten Worte gewesen.
ELTERN UND KINDER SETZEN JEHOVA AN DIE ERSTE STELLE
Ein Fall, der nicht nur die Aufmerksamkeit der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verteidiger, sondern auch die der Öffentlichkeit erregte, betraf zwei Brüder der Familie Kusserow in Paderborn. Aufgrund der guten Unterweisung in Jehovas Wegen, die sie zu Hause erhalten hatten, waren sie bereit, ihr Leben furchtlos niederzulegen. Und ihre Mutter nahm ihren Tod als Anlaß, um anderen in ihrer Nachbarschaft von der Auferstehungshoffnung zu erzählen. Ein dritter Bruder, Karl, wurde drei Monate später verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht; er starb vier Wochen nach seiner Entlassung. Diese Familie zählte dreizehn Glieder; zwölf von ihnen wurden ins Gefängnis gesteckt und zu insgesamt fünfundsechzig Jahren Haft verurteilt, wovon sie sechsundvierzig Jahre verbüßten.
Ähnlich wie bei der Familie Kusserow, wo nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder die Interessen des Königreiches ihren eigenen voranstellten, war es bei der Familie Appel aus Süderbrarup. Sie besaß dort eine kleine Buchdruckerei. Was ihnen widerfuhr, lassen wir Schwester Appel selbst erzählen:
„Im Jahre 1937, als die große Verhaftungswelle über Deutschland hinwegrollte, wurden mein Mann und ich am 15. Oktober spätabends von unseren vier Kindern weggeholt. Es kamen acht Personen in die Wohnung (Gestapo und Polizeibeamte). Sie durchsuchten alles, vom Boden bis zum Keller. Dann nahmen sie uns mit. ... Nach der Verurteilung kam mein Mann nach Neumünster und ich ins Frauengefängnis nach Kiel. ... Im Jahre 1938 wurden wir im Zuge einer Amnestie entlassen. ... Als jedoch der Zweite Weltkrieg ausbrach, wußten wir, was uns bevorstand, denn mein Mann war entschlossen, in dieser kriegerischen Auseinandersetzung die Neutralität zu bewahren. Darum besprachen wir alles mit unseren Kindern und machten sie auf biblische Aussprüche bezüglich der Verfolgung aufmerksam.
Soweit es uns möglich war, schafften wir Kleidung für die Kinder an, damit sie fürs erste versorgt wären. Nachdem mein Mann seine biblischen Gründe, weshalb er am Krieg nicht teilnehmen könne, dem zuständigen Wehrbezirkskommando mitgeteilt hatte, ordnete er auch seine persönlichen Sachen. So legten wir Jehova täglich unsere Sorgen im Gebet vor. Am 9. März 1941 schließlich klingelte es schon vormittags acht Uhr. Zwei Soldaten waren gekommen, um meinen Mann abzuholen. Sie blieben draußen vor der Tür stehen und gaben meinem Mann eine Viertelstunde Zeit, sich zu verabschieden. Unser Sohn Walter war schon fort zur Schule. Die übrigen drei Kinder und Schwester Helene Green, die bei uns in der Druckerei in Süderbrarup arbeitete, wurden telefonisch gebeten, sofort in die Wohnung zu kommen. Die letzte Bitte meines Mannes war: ,Singt noch das Lied: „Alle Getreuen, alle Ergebenen, sind von der Menschenfurcht frei“.‘ Obgleich uns die Worte in der Kehle würgten — wir sangen. Nach einem Gebet kamen die Soldaten herein und führten meinen Mann ab. Das war das letzte Mal, daß unsere Kinder ihren Vater sahen. Mein Mann wurde nun nach Lübeck gebracht, wo ein höherer Offizier lange Zeit väterlich auf ihn einsprach und ihm empfahl, doch erst einmal die Uniform anzuziehen. Aber Jehovas unveränderliches Gesetz war so fest im Herzen meines Mannes verankert, daß es für ihn kein Zurück mehr gab. ...
Es war am 1. Juli 1941, als frühmorgens ein Polizeibeamter kam und mir ein Schreiben ... überreichte mit der Nachricht, daß unser Personenwagen zwecks Einziehung kommunistischen Vermögens beschlagnahmt sei und die Buchdruckerei sofort polizeilich geschlossen werde. Dann überreichte er mir ein weiteres Schreiben, darin stand: ,Sie haben Ihre Kinder am 3. Juli 1941 vormittags auf dem Gemeindebüro abzuliefern. Kleider und Schuhzeug sind mitzubringen.‘ Das war ein schwerer Schlag.
So kam es, daß am Morgen des 3. Juli die dafür zuständigen Personen aus den Erziehungsanstalten kamen, um unsere Kinder dorthin zu bringen. Die Beamtin, die meine beiden fünfzehn und zehn Jahre alten Mädchen, Christa und Waltraud, abholte, sagte mir: ,Ich weiß schon einige Wochen, daß ich Ihre Kinder abholen soll, und seitdem habe ich nachts nicht mehr schlafen können, weil ich Kinder aus geordneten Familienverhältnissen herausreißen soll. Aber ich muß es tun.‘
Einige Personen aus der Bevölkerung hatten aus ihrer Empörung keinen Hehl gemacht. Doch da wurde von der zuständigen Stelle gleich eine Warnung in Umlauf gesetzt: ,Wer über den Fall Appel spricht, begeht Volkszersetzung.‘ Darum waren auch drei Polizeibeamte vorsichtshalber abkommandiert worden, um die Abfahrt der Kinder zu überwachen. ... Natürlich wurde mein Mann über die getroffenen Maßnahmen bezüglich des Geschäftes und der Kinder ebenfalls von den Behörden unterrichtet. Man hoffte, daß er dadurch weich werden würde. In Verbindung damit machte man ihm täglich die größten Vorwürfe, wie unehrlich und gewissenlos er handle, indem er so seine Familie im Stich ließe. Mein Mann schrieb uns darauf einen sehr lieben Brief. Er schrieb, daß er am nächsten Morgen früh aufstand, niederkniete und seine Familie im Gebet Jehova anbefahl. ...
An demselben Tag, als die Kinder abgeholt wurden, bekam ich vom Reichskriegsgericht Berlin-Charlottenburg die Aufforderung, dorthin zu kommen. Hier wurde ich dem Oberreichsanwalt vorgeführt. Dieser verlangte von mir, daß ich meinen Mann beeinflussen sollte, die Uniform anzuziehen. Als ich ihm den biblischen Grund nannte, warum ich dies nicht tun könne, rief er wutentbrannt: ,Dann bekommt er den Kopf abgehackt!‘ Als ich dann aber trotzdem um eine Sprecherlaubnis bat, gab er mir zwar keine Antwort, drückte aber auf eine Klingel, so daß der Soldat herbeigerufen wurde, der mich vorgeführt hatte. Dieser brachte mich eine Etage tiefer, wo einige Offiziere saßen, die mich mit eisiger Miene empfingen und dann mit Vorwürfen überhäuften. Als ich hinausging, kam einer mir nach, nahm meine Hände und sagte: ,Frau Appel, bleiben Sie so standhaft wie jetzt, Sie gehen den richtigen Weg.‘ Ich war wirklich überrascht. Wichtig war aber, daß ich meinen Mann sprechen konnte.
Während der Tage, da ich in Berlin war, hatten die Nazis unser Geschäft schon verkauft. Ich mußte den Kaufvertrag unterschreiben, denn ich sei — so sagte man mir — vogelfrei, andernfalls käme ich in ein Konzentrationslager.
Nachdem ich meinen Mann noch einige Male in Berlin besucht hatte, wurde er zum Tode verurteilt. Dabei sagte sein ,Verteidiger‘: ,Man hat dem Mann goldene Brücken gebaut, er hat sie aber nicht betreten‘, worauf mein Mann antwortete: ,Ich habe mich für Jehova und sein Königreich entschieden, und dabei bleibt es.‘
Am 11. Oktober 1941 wurde mein Mann im Zuchthaus in Brandenburg an der Havel enthauptet. In seinem letzten Brief, den er nur wenige Stunden vor seiner Hinrichtung schreiben durfte, brachte er zum Ausdruck: ,Wenn Dich dieser Brief erreicht, meine geliebte Maria, und meine vier Kinder, Christa, Walter, Waltraud und Wolfgang, ist alles schon geschehen, und ich habe den Sieg errungen durch Jesus Christus und hoffe, ein Überwinder zu sein. Ich wünsche Euch von Herzen einen gesegneten Eingang in Jehovas Königreich. Bleibt getreu! Nebenan sitzen drei junge Brüder, die morgen früh denselben Weg gehen wie ich. Ihre Augen strahlen.‘
Kurze Zeit danach mußte ich auch meine Wohnung in Süderbrarup räumen. Die Möbel wurden an fünf verschiedenen Stellen untergebracht. Ich persönlich landete völlig verarmt bei meiner Mutter.
Meinen Sohn Walter nahm man dann in der Erziehungsanstalt von der Schule. Er kam nach Hamburg in die Buchdruckerlehre. Im Jahre 1944 wurde er, erst siebzehnjährig, eingezogen. Auf wunderbare Weise war er vorher in den Besitz des Buches Die Harfe Gottes gelangt. Aus diesem Buch hat er während der vielen Bombennächte in Hamburg, die er in einer kleinen Dachkammer verbrachte, viel Erkenntnis geschöpft, so daß er den Wunsch hatte, sich Jehova hinzugeben. Nach vielen Schwierigkeiten gelang es dann doch, daß er zu Silvester 1943/44 nach Malente kommen konnte, wo er in einer verdunkelten Waschküche bei einem Bruder heimlich untergetaucht wurde. ...
Es gelang ihm, mich heimlich zu benachrichtigen. Ich habe viele Stunden auf den Straßen in Hamburg gewartet, bis er kam, denn mir war jegliches Zusammentreffen mit meinen Kindern verboten.
Zu seiner Stärkung konnte ich ihm noch sagen, daß ich von den Brüdern, die sich im Konzentrationslager Sachsenhausen befanden und die dort von unserem Geschick gehört hatten, einen Brief bekommen hatte. Darin schrieb Bruder Ernst Seliger, daß abends, wenn sich das Lager zur Ruhe begab, einige hundert Brüder verschiedener Nationen vor Jehova ihre Knie beugten und dabei auch unser im Gebet gedachten. Dann wurde mein Sohn zwangsweise nach Ostpreußen zu der zuständigen Einheit gebracht. In der eisigen Kälte nahm man ihm seine Kleidung weg und legte ihm die Uniform hin, die er aber nicht anzog. Auch bekam er 48 Stunden kein warmes Essen. Aber mein Sohn blieb standhaft.
In Hamburg hatten wir voneinander Abschied genommen. Dort sagte er mir, daß er denselben Weg gehen werde, wie ihn sein Vater gegangen sei. Nach etwa sieben Monaten wurde er, nachdem man seine Papiere verändert, ihn also älter gemacht hatte, als er in Wirklichkeit war, ohne eine Gerichtsverhandlung enthauptet. Rechtmäßig stand er noch unter dem Jugendschutz.
Ein Polizeiwachtmeister von Süderbrarup kam dann zu mir und las mir vor, was der Polizei aus Ostpreußen berichtet worden war. Ich selber bekam nichts in die Hände. Obgleich ich nicht mehr damit gerechnet hatte, daß mein Junge denselben Weg gehen mußte wie sein Vater, weil er noch ein Jugendlicher war und das Ende des Krieges abzusehen war, stieg doch trotz des großen Schmerzes ein einziges Dankgebet von mir zu Jehova empor. Ich konnte nur sagen: ,Habe Dank, Herr Jehova, daß er für dich gefallen ist!‘
Dann kam der große Umsturz 1945. Zu meiner großen Freude bekam ich meine drei mir verbliebenen Kinder zurück. Die beiden jüngsten waren die letzten drei Jahre aus der Erziehungsanstalt herausgekommen und bei einem Direktor des Arbeitsamtes untergebracht worden, wo sie nationalsozialistisch erzogen werden sollten. Dort durfte ich sie nur alle vierzehn Monate besuchen und einige Stunden unter Aufsicht mit ihnen sprechen. Trotzdem konnten mir meine beiden Mädchen einmal zuflüstern, daß sie ein kleines Testament hätten, das sie immer wieder sorgfältig versteckten. Wenn sie dann allein seien, würde immer eine an der Tür horchen, ob auch niemand käme, während die andere einige Verse vorläse. Natürlich war ich darüber sehr glücklich.
Jetzt, 1945, kamen die treuen Brüder aus der Gefangenschaft zurück. In Flensburg lag ein Schiff mit vielen Brüdern und Schwestern, hauptsächlich aus dem Osten. Zugleich begann eine emsige Tätigkeit. Dabei lernte ich auch meinen jetzigen Mann, Bruder Josef Scharner, kennen. Auch er war neun Jahre seiner Freiheit beraubt worden. Wahrlich, wir hatten beide sehr viel Schweres durchgemacht und hatten nun beide den gemeinsamen Wunsch, die letzte verbleibende Zeit mit allen unseren Kräften Jehova zu dienen.“
SOGAR IN DER HINRICHTUNGSZELLE WURDEN JÜNGER GEMACHT
Daß selbst in einer Hinrichtungszelle noch Jünger gemacht werden können, klingt fast unglaublich. Doch Bruder Massors berichtet eine solche Erfahrung in einem Brief an seine Frau, der das Datum vom 3. September 1943 trägt:
„Nun will ich Dir einen Bericht über Anton Rinker geben. In den Jahren 1928, 1930 und 1932 war ich ja in Prag [als Pionier]. Dort wurden Vorträge gehalten, und die Stadt wurde mit Büchern der Wahrheit belegt. Dabei kam ich zu einem politischen Redner der Regierung, zu Anton Rinker. Ich unterhielt mich lange mit ihm. Er kaufte damals eine Bibel und einige Bücher. Er erklärte mir aber auch, daß er jetzt keine Zeit habe, solche Sachen zu studieren, da er für seine Familie und sein Fortkommen sorgen müsse, erwähnte aber auch, daß seine Angehörigen alle sehr gottgläubig seien, nur daß sie nicht in die Kirche gingen.
In den Jahren 1940/41, schätze ich, war es dann, daß ich wieder — wie so oft — einen neuen Zelleninsassen bekam. Er war sehr bedrückt, als er hereinkam, doch das geht allen so, denn schließlich wird einem erst recht bewußt, wo man sich befindet, wenn die Zellentür hinter einem zufliegt. ,Anton Rinker heiße ich und bin aus Prag‘, sagte der Neue. Ich erkannte ihn sofort und sagte: ,Anton, ja Anton! Kennst du mich noch?‘ ,Nun, bekannt kommst du mir vor. ...‘ Es dauerte dann eine Weile, bis es ihm klar wurde, daß ich 1930/32 bei ihm gewesen war und er bei dieser Gelegenheit einige Bücher sowie eine Bibel von mir gekauft hatte. ,Was‘, sagte Anton, ,wegen des Glaubens bist du hier? Das kann ich nicht verstehen, das macht ja kein Pfarrer. Was glaubst du denn eigentlich?‘ Er sollte es sofort erfahren.
,Aber warum sagt uns die Geistlichkeit das nicht?‘ war seine Frage. ,Das ist die Wahrheit. Nun weiß ich auch, warum ich in dieses Gefängnis mußte. Ich will es dir sagen, lieber Franz, daß ich, bevor ich in diese Zelle kam, zu Gott gebetet habe, er solle mich doch zu einem gläubigen Menschen senden, sonst wolle ich mir das Leben nehmen. ...‘
So vergingen Wochen und Monate. Dann sagte Anton einmal: ,Ehe ich von dieser Welt scheide, möge Gott noch meiner Frau und meinen Kindern die Wahrheit zeigen, auf daß ich in Frieden scheide.‘ ... Da kam plötzlich ein Brief von seiner Frau, in dem u. a. folgendes zu lesen war:
,... Unsere Freude würde nur sein, wenn Du die Bibel und die Bücher lesen könntest, die Du damals von dem deutschen Mann gekauft hast, ja es ist alles so gekommen, wie in den Büchern geschrieben steht. Viele lesen es jetzt, denn es ist die Wahrheit, für die wir nie Zeit hatten.‘ “
[Bild auf Seite 171]
Hof am Eingang des Konzentrationslagers Mauthausen mit einer Gruppe unbekleideter Neuankömmlinge