Das Gehirn — „Mehr als ein Computer“
EIN weiteres ausgezeichnetes Organ ist das menschliche Gehirn. Zusammen mit dem übrigen Nervensystem wird es oft mit einem Computer verglichen. Natürlich ist ein Computer von jemandem gebaut worden und arbeitet Schritt für Schritt nach den Anweisungen in seinem Programm. Doch viele glauben nicht, daß jemand für die „Verdrahtung“ und die „Programmierung“ des menschlichen Gehirns verantwortlich ist.
Selbst extrem schnelle Computer können nur eine Information nach der anderen verarbeiten. Das menschliche Gehirn verarbeitet dagegen Millionen von Informationseinheiten gleichzeitig. Bei einem Spaziergang im Frühling kann man sich zum Beispiel an der schönen Umgebung erfreuen, den Vögeln lauschen und den Duft der Blumen riechen. Alle jene angenehmen Sinnesreize werden dem Gehirn gleichzeitig übertragen. Zur selben Zeit fließen Informationen von den Sinnesrezeptoren in den Beinen zum Gehirn und geben Auskunft über die momentane Stellung der Beine und über den Zustand jedes Muskels. Hindernisse auf dem Weg werden von den Augen geortet. Aufgrund all dieser Informationen stellt das Gehirn sicher, daß jeder Schritt ungestört erfolgt.
Die tiefer liegenden Zentren des Gehirns steuern unterdessen den Herzschlag, die Atmung und andere lebenswichtige Funktionen. Aber das Gehirn erledigt weit mehr. Während du spazierengehst, kannst du singen, dich unterhalten, das, was du siehst, mit dem, was du früher gesehen hast, vergleichen oder Pläne für die Zukunft schmieden.
„Das Gehirn“, so das Werk The Body Book, „ist weit mehr als ein Computer. Kein Computer hätte je das Empfinden, er sei gelangweilt oder verschwende seine Talente und sollte sich einem neuen Lebensstil zuwenden. Ein Computer kann keine drastischen Änderungen in seinem Programm vornehmen; bevor er eine andere Richtung einschlägt, muß ihn jemand, der über ein Gehirn verfügt, neu programmieren. ... Ein Computer kann sich nicht entspannen oder vor sich hin träumen oder lachen. Er kann sich nicht von etwas inspirieren lassen oder schöpferisch tätig sein. Er hat kein Bewußtsein und kann nichts begreifen. Er kann sich nicht verlieben.“
Das wundervollste Gehirn, das es gibt
Tiere wie Elefanten und einige große Meerestiere haben ein größeres Gehirn als der Mensch, doch im Verhältnis zur Körpergröße ist das menschliche Gehirn das größte. „Der Gorilla“, erklärt Richard Thompson in seinem Buch The Brain, „ist größer als ein Mensch, aber die Größe seines Gehirns beträgt nur ein Viertel von dem des Menschen.“
Die Zahl der verschiedenen Verbindungswege zwischen den Neuronen (Nervenzellen) im menschlichen Gehirn ist astronomisch hoch. Das liegt daran, daß die Neuronen so zahlreiche Verknüpfungen bilden können; ein Neuron kann mit 100 000 anderen verbunden sein. „Die Zahl der möglichen Verbindungen in unserem Gehirn ist im Grunde genommen unbegrenzt“, schreibt Anthony Smith in seinem Buch The Mind. Die Zahl ist größer „als die Gesamtzahl aller Kernteilchen, aus denen das uns bekannte Universum besteht“, bemerkt der Neurologe Thompson.
Doch es gibt noch etwas weit Bemerkenswerteres. Es ist die Art und Weise, wie jenes weitverzweigte Netzwerk von Neuronen verbunden ist, so daß der Mensch denken, sprechen, hören, lesen und schreiben kann, und das in mehreren Sprachen. „Die Sprache ist der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier“, sagt Karl Sabbagh in seinem Buch The Living Body. Die Verständigung zwischen den Tieren ist vergleichsweise einfach. Der Unterschied ist gemäß dem Evolutionisten Sabbagh „nicht einfach eine triviale Verbesserung der Lautbildungsfähigkeiten der Tiere — die Sprache ist die grundlegende Fähigkeit, die Menschen menschlich macht, und sie tritt durch wesentliche Unterschiede im Aufbau des Gehirns zutage“.
Die erstaunliche Struktur des menschlichen Gehirns hat viele dazu bewogen, ihre Möglichkeiten mehr auszuschöpfen, indem sie ein Handwerk oder eine andere Sprache erlernt haben, oder sie haben ein Musikinstrument spielen gelernt oder irgendeine Fertigkeit entwickelt, die das Leben erfreulicher macht. „Wenn man sich eine neue Fertigkeit aneignet“, schreiben Dr. R. und Dr. B. Bruun in ihrem Buch The Human Body, „trainiert man seine Neuronen dazu, sich auf neue Weise zu verbinden. ... Je mehr man sein Gehirn gebraucht, desto leistungsfähiger wird es.“
Wer hat es gemacht?
Kann etwas derart Hochorganisiertes und Geordnetes wie die Hand, das Auge und das Gehirn durch Zufall entstanden sein? Wenn man es dem Menschen zuschreibt, Werkzeuge, Computer und Filme erfunden zu haben, sollte gewiß jemand dafür geehrt werden, daß er die Hand, das Auge und das Gehirn — weit vielseitigere Instrumente — gemacht hat. „O Jehova“, sagte der Psalmist, „ich werde dich lobpreisen, weil ich auf furchteinflößende Weise wunderbar gemacht bin. Deine Werke sind wunderbar, wie meine Seele es sehr wohl weiß“ (Psalm 139:1, 14).
Viele einzigartige Funktionen des menschlichen Körpers erfolgen unbewußt. In künftigen Ausgaben dieser Zeitschrift werden einige dieser erstaunlichen Mechanismen besprochen. Ferner wird behandelt, ob das Altern, Krankheit und Tod besiegt werden können, so daß es möglich ist, daß wir uns ewig unseres Lebens erfreuen.
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Die erstaunlichen Neuronen
EIN Neuron ist eine Nervenzelle mit all ihren Funktionen. Das Nervensystem besteht aus vielen Arten von Neuronen, von denen es im Körper insgesamt ungefähr 500 Milliarden gibt. Einige wirken als Rezeptoren, die Informationen aus verschiedenen Bereichen des Körpers an das Gehirn leiten. Die Neuronen, die an den höheren Bereichen der Gehirnfunktionen beteiligt sind, arbeiten wie ein Videorecorder. Sie können auf Dauer Informationen speichern, die zum Beispiel von den Augen oder den Ohren kommen. Jahre später kann man das Gesehene oder das Gehörte sozusagen wieder abspielen lassen, und das zusammen mit Überlegungen und Empfindungen, die kein technisches Gerät festhalten kann.
Das Gedächtnis des Menschen ist nach wie vor ein Geheimnis. Das liegt zum Teil in der Art und Weise begründet, wie die Neuronen miteinander verknüpft sind. „Die durchschnittliche Gehirnzelle“, erklärt Karl Sabbagh in seinem Buch The Living Body, „ist mit ungefähr 60 000 anderen verknüpft — manche Zellen sogar mit einer viertel Million anderen ... Das menschliche Gehirn könnte in den Verbindungswegen seiner Nervenzellen mindestens 1 000mal soviel Informationen speichern wie eine große 20- bis 30bändige Enzyklopädie.“
Aber wie leitet ein Neuron seine Information an ein anderes weiter? Tiere mit einem einfachen Nervensystem haben viele miteinander verbundene Nervenzellen. In einem solchen Fall überquert ein elektrischer Impuls die Brücke von einem Neuron zum nächsten. Die Überbrückung wird elektrische Synapse genannt. Sie ist schnell und einfach.
Es erscheint möglicherweise befremdend, aber die meisten Neuronen im menschlichen Körper geben Botschaften über eine chemische Synapse weiter. Diese langsamere und zugleich schwierigere Methode kann wie folgt veranschaulicht werden: Ein Zug trifft an einem Fluß ein, über den keine Brücke führt, und muß deshalb übergesetzt werden. Wenn ein elektrischer Impuls auf eine chemische Synapse trifft, kommt er zum Stillstand, weil die Neuronen durch einen Spalt voneinander getrennt sind. An dieser Stelle wird das Signal „übergesetzt“, und zwar durch die Übertragung chemischer Substanzen. Worin besteht der Vorteil der elektrochemischen Methode der Übertragung von Nervenimpulsen?
Wissenschaftler bezeichnen die chemische Synapse in vieler Hinsicht als vorteilhaft. Sie gewährleistet, daß die Botschaften in eine Richtung laufen. Sie gilt auch als plastisch, weil ihre Funktionsweise oder ihre Struktur leicht zu ändern ist. Signale können hier modifiziert werden. Durch Gebrauch werden einige chemische Synapsen verstärkt, während sich andere auflösen, weil sie nicht gebraucht werden. „Das Lernen und Erinnern könnte in einem Nervensystem, in dem es nur elektrische Synapsen gibt, nicht zustande kommen“, sagt Richard Thompson in seinem Buch The Brain.
Der Wissenschaftsautor Anthony Smith erklärt in seinem Buch The Mind: „Neuronen geben nicht einfach ein Signal ab oder nicht ... Sie müssen viel kompliziertere Informationen weitergeben als ja oder nein. Sie gleichen nicht einem Hammer, mit dem der nächste Nagel schneller oder langsamer eingeschlagen wird. Sie sind, um bei diesem Beispiel zu bleiben, der Werkzeugsatz eines Zimmermanns mit verschiedenen Schraubenziehern, Zangen — und Hämmern. ... Jeder Nervenimpuls wird unterwegs umgewandelt, und das geschieht nirgendwo anders als an den Synapsen.“
Die chemische Synapse hat einen weiteren Vorteil. Sie nimmt weniger Raum ein als eine elektrische, was erklärt, warum das menschliche Gehirn so viele Synapsen hat. Die Zeitschrift Science nennt eine Zahl von 100 000 000 000 000 — das entspricht der Zahl der Sterne von Hunderten von Galaxien wie der Milchstraße. „Wir sind, was wir sind“, fügt der Neurologe Thompson hinzu, „weil unser Gehirn im Grunde genommen chemisch statt elektrisch arbeitet.“
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Warum unser Gehirn so viel Blut benötigt
BEVOR du in ein Schwimmbecken springst, tauchst du vielleicht erst einmal die Zehen ins Wasser. Wenn es kalt ist, sprechen die winzigen Kälterezeptoren in der Haut unverzüglich an. In weniger als einer Sekunde registriert das Gehirn die Temperatur. Schmerzrezeptoren sind noch schneller. Einige Nervensignale legen 360 Kilometer in der Stunde zurück — im Vergleich dazu müßte ein 100-Meter-Läufer eine Sekunde nach dem Start das Ziel erreichen.
Wie stellt das Gehirn aber fest, wie stark ein Sinneseindruck ist? Eine Möglichkeit dazu bietet die Häufigkeit, mit der ein Neuron Impulse aussendet. Einige geben tausend und mehr Impulse in der Sekunde ab. Die Betriebsamkeit der Neuronen im Gehirn wäre jedoch ohne Pumpen und ohne Kraftwerke undenkbar.
Jedesmal, wenn ein Neuron einen Impuls abfeuert, ergießen sich elektrisch geladene Atome, Ionen genannt, in die Zelle. Wenn jenen Natriumionen erlaubt würde, sich anzusammeln, könnte das Neuron mit der Zeit keine Impulse mehr abfeuern. Wie wird das Problem gelöst? „Jedes Neuron“, erklärt der Wissenschaftsautor Anthony Smith in seinem Buch The Mind, „enthält über eine Million Pumpen — jede ist ein kleiner Höcker auf der Zellmembran —, und jede Pumpe kann in der Sekunde ungefähr 200 Natriumionen gegen 130 Kaliumionen austauschen.“ Selbst wenn sich die Neuronen in Ruhe befinden, arbeiten die Pumpen weiter. Warum? Um dem Effekt entgegenzuwirken, daß ständig Natriumionen in die Zelle eindringen und Kaliumionen austreten.
Die Pumptätigkeit kostet fortlaufend Energie. Diese wird in den winzigen Mitochondrien oder „Kraftwerken“ erzeugt, die im Zellinnern gleichmäßig verteilt sind. Zur Energieerzeugung benötigt jedes von ihnen Sauerstoff und Zucker (Glucose) aus dem Blut. Kein Wunder, daß das Gehirn so gut durchblutet sein muß! „Obwohl das Gehirn nur 2 Prozent des Körpergewichts ausmacht“, schreibt Richard Thompson in seinem Buch The Brain, „beansprucht es 16 Prozent der Blutversorgung ... Gehirngewebe wird 10mal stärker durchblutet als Muskelgewebe.“
Wenn du das nächste Mal die Wassertemperatur testest, dann sei dankbar für die Billionen Pumpen und Kraftwerke in deinem Gehirn. Denke auch daran, daß die ganze Betriebsamkeit nur durch den Sauerstoff und den Zucker ermöglicht wird, die das Blut herbeischafft.
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Das menschliche Gehirn verarbeitet Millionen von Informationseinheiten gleichzeitig. Bei jeder Bewegung unterrichten die Sinnesrezeptoren in den Gliedmaßen das Gehirn über die momentane Stellung der Arme und über den Zustand jedes Muskels.
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Das Gehirn ist weit komplizierter und vielseitiger als ein Computer