Das Gehirn — Wie arbeitet es?
„Das Gehirn ist das schwierigste Studienobjekt des menschlichen Körpers“, meint E. Fuller Torrey, Psychiater am amerikanischen Nationalen Institut für Mentalhygiene. „Wir tragen es auf unseren Schultern in einem Kasten herum, der für Forschungen ziemlich unpraktisch ist.“
DENNOCH sagen Wissenschaftler, sie hätten bereits viel über die Art und Weise gelernt, wie das Gehirn Informationen von den fünf Sinnesorganen verarbeitet. Ziehen wir als Beispiel einmal heran, wie das Gehirn mit visuellen Eindrücken umgeht.
Die Augen des Gehirns
Licht erreicht das Auge und trifft am hinteren Teil des Augapfels auf die Netzhaut, die aus drei Zellschichten besteht. Das Licht dringt bis zur dritten Zellschicht durch. Diese Schicht enthält Zellen, sogenannte Stäbchen, die lichtempfindlich sind, und sogenannte Zäpfchen, die auf die verschiedenen Wellenlängen des Lichts der Farben Rot, Grün und Blau reagieren. Durch die Lichteinwirkung bleichen die Pigmente in den Zellen aus. Diese senden ein Signal an Zellen in der zweiten Schicht, und von dort wird das Signal an andere Zellen in der vordersten Schicht weitergeleitet. Axone dieser Zellen bilden gemeinsam den Sehnerv.
Die Millionen Neuronen des Sehnervs laufen an der sogenannten Sehnervenkreuzung im Gehirn zusammen. Hier treffen sich nun jeweils die Neuronen mitsamt den Signalen von der linken Hälfte der Netzhaut jedes Auges und wandern parallel zur linken Seite des Gehirns. Signale von der rechten Hälfte jeder Netzhaut treffen ebenfalls aufeinander und wandern zur rechten Seite. Als nächstes erreichen die Impulse eine Schaltstation im Thalamus, und von dort aus geben die nächsten Neuronen die Signale an eine Region im hinteren Teil des Gehirns weiter, an die sogenannte Sehrinde.
Verschiedene visuelle Informationen werden auf parallelen Bahnen weitergeleitet. Forscher wissen heute, daß die primäre Sehrinde zusammen mit einer benachbarten Region ähnlich wie ein Postamt die verschiedenen Informationen, die die Neuronen übermitteln, sortiert, weiterleitet und integriert. Eine dritte Region erkennt Formen, wie die Umrisse eines Objekts, und Bewegungen. Eine vierte Region erkennt sowohl die Form als auch die Farbe, während eine fünfte Region auf Karten ständig visuelle Daten aktualisiert, um Bewegungen zu verfolgen. Der gegenwärtige Stand der Forschung läßt darauf schließen, daß sage und schreibe 30 verschiedene Gehirnregionen die vom Auge erfaßten visuellen Informationen verarbeiten. Doch wie entsteht daraus ein Gesamtbild? Ja wie „sieht“ das Gehirn?
Mit dem Gehirn „sehen“
Das Auge erfaßt die Informationen für das Gehirn, aber die Hirnrinde bearbeitet offensichtlich die Informationen, die das Gehirn erhält. Nimmt man mit einer Kamera ein Bild auf, sind auf dem Foto sämtliche Details des Gesamtbildes zu sehen. Richtet sich das menschliche Auge jedoch auf dieselbe Szene, sieht der Betreffende bewußt nur den Ausschnitt, auf den er sich konzentriert. Wie das Gehirn das bewerkstelligt, bleibt ein Geheimnis. Manche sind der Ansicht, dies erfolge durch die stufenweise Integration visueller Informationen in sogenannte Konvergenzzonen, die einem helfen, das, was man sieht, mit dem zu vergleichen, was man bereits kennt. Andere meinen, wenn man etwas nicht deutlich sähe, läge es schlicht daran, daß die Neuronen, die die visuelle Aufmerksamkeit steuern, nicht feuern würden.
Wie auch immer, es ist für Wissenschaftler ungleich einfacher, die Sehvorgänge zu erklären, als herauszufinden, was „Bewußtsein“ und „Sinn“ wirklich ausmacht. Durch bildgebende Verfahrenstechniken wie die Kernspintomographie und die Positronenemissionstomographie steht Wissenschaftlern ein neues Fenster zum menschlichen Gehirn zur Verfügung. Und dadurch, daß sie beobachtet haben, wie bestimmte Hirnregionen bei Denkprozessen durchblutet werden, sind sie mit ziemlicher Bestimmtheit zu dem Schluß gekommen, daß offensichtlich verschiedene Regionen der Hirnrinde dazu beitragen, daß man Wörter hören, Wörter sehen und Wörter sprechen kann. Dennoch zog ein Verfasser folgendes Fazit: „Das Phänomen des Sinns, des Bewußtseins, ist weit komplexer ..., als man gedacht hätte.“ Ja, das Gehirn gibt noch viele Rätsel auf.
Das Gehirn — Nur ein erstklassiger Computer?
Um unser komplexes Gehirn zu verstehen, sind unter Umständen einige Vergleiche ganz hilfreich. Zu Beginn der industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts verglich man das Gehirn oft mit einer Maschine. Als später Telefonzentralen das Symbol des Fortschritts wurden, zog man Parallelen zwischen dem Gehirn und einer Telefonzentrale, in der das Fräulein vom Amt emsig die Schaltungen vornahm. Heute werden komplizierte Aufgaben von Computern bewältigt, weshalb manche das Gehirn mit einem Computer vergleichen. Wird dieser Vergleich der Arbeitsweise des Gehirns gerecht?
Das Gehirn und der Computer unterscheiden sich grundlegend voneinander. Das Gehirn ist im wesentlichen ein chemisches System, kein elektronisches. In jeder Zelle laufen zahllose chemische Reaktionen ab — ein krasser Gegensatz zur Arbeitsweise eines Computers. Außerdem gibt es nach den Worten von Professor Susan Greenfield „keinen Programmierer für das Gehirn. Es ist ein proaktives Organ, das von selbst arbeitet“ — im Gegensatz zu einem Computer, der programmiert werden muß.
Neuronen kommunizieren auf komplizierte Weise miteinander. Viele Neuronen reagieren auf 1 000 oder mehr synaptische Eingaben. Um erfassen zu können, was das bedeutet, beschäftigen wir uns einmal kurz mit den Forschungen eines Neurobiologen. Er hat einen Bereich an der Unterseite des Gehirns direkt oberhalb und hinter der Nase erforscht, um herauszufinden, wie Gerüche erkannt werden. Er bemerkt: „Sogar an dieser scheinbar einfachen Aufgabe — die im Vergleich zu dem Nachweis eines Lehrsatzes der Geometrie oder dem Begreifen eines Streichquartetts von Beethoven ein Kinderspiel zu sein scheint — sind ungefähr 6 Millionen Neuronen beteiligt, und jedes Neuron erhält vielleicht 10 000 Eingaben von anderen Neuronen.“
Das Gehirn ist jedoch mehr als eine Anhäufung von Neuronen. Jedes Neuron ist von mehreren Gliazellen umgeben. Diese Zellen halten nicht nur das Gehirn zusammen, sondern sorgen auch für die elektrische Isolation der Neuronen, bekämpfen Infektionen und bilden gemeinsam die schützende Blut-Hirn-Schranke. Forscher glauben, daß die Gliazellen wahrscheinlich noch andere, bisher unentdeckte Aufgaben haben. „Die naheliegende Analogie zu dem vom Menschen konstruierten Computer, der elektronische Daten digital verarbeitet, dürfte ebenso unvollkommen wie irreführend sein“, so das Resümee der Zeitschrift The Economist.
Das führt uns zu einem anderen Geheimnis.
Woraus bestehen Erinnerungen?
Was das Gedächtnis angeht — nach Meinung von Professor Richard F. Thompson „das vielleicht außergewöhnlichste Phänomen in der Natur“ —, sind etliche verschiedene Hirnfunktionen beteiligt. Die meisten Gehirnforscher unterscheiden beim Gedächtnis zwischen zwei Formen: das prozedurale und das deklarative. Das prozedurale umfaßt Fertigkeiten und Gewohnheiten. Das deklarative hat mit dem Speichern von Fakten zu tun. In dem Buch Das Gehirn — Von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung werden Gedächtnisprozesse entsprechend der Zeit eingeordnet, die sie in Anspruch nehmen: das ultrakurze Gedächtnis, das nur ungefähr 100 Millisekunden währt; das Kurzzeitgedächtnis, das wenige Sekunden bestehenbleibt; das Arbeitsgedächtnis, in dem neue Erfahrungen gespeichert werden; und das Langzeitgedächtnis, in dem mehrmals wiederholte verbale Informationen und erworbene motorische Fertigkeiten untergebracht sind.
Eine mögliche Erklärung für das Langzeitgedächtnis ist, daß es seine Aktivität im vorderen Teil des Gehirns beginnt. Die Information, die ins Langzeitgedächtnis übergehen soll, läuft als elektrischer Impuls zum sogenannten Hippocampus. Hier findet der Prozeß der Langzeitpotenzierung statt, durch den die Fähigkeit der Neuronen, Signale weiterzuleiten, gesteigert wird. (Siehe den Kasten „Die Lücke überbrücken“.)
Eine andere Theorie über das Gedächtnis rührt von der Ansicht her, daß Gehirnwellen eine Schlüsselfunktion einnehmen. Die Verfechter dieser Theorie glauben, daß regelmäßige Schwingungen als Folge der elektrischen Hirnaktivität, vergleichbar mit dem rhythmischen Schlagen einer Trommel, dazu beitragen, Erinnerungen zu verdichten und den Zeitpunkt zu kontrollieren, an dem verschiedene Gehirnzellen aktiviert werden.
Forscher sind der Meinung, das Gehirn speichere unterschiedliche Aspekte des Gedächtnisses an verschiedenen Stellen, wobei jeder Aspekt mit der entsprechenden spezialisierten Hirnregion verbunden sei. Bei bestimmten Teilen des Gehirns ist man sich sicher, daß sie zum Gedächtnis beitragen. Der Mandelkern, eine fingerhutgroße Ansammlung von Nervenzellen nahe dem Hirnstamm, verarbeitet Erinnerungen an Furcht. Die Basalganglien konzentrieren sich auf Gewohnheiten und körperliche Fähigkeiten, und das Kleinhirn am unteren Teil des Gehirns ist für konditioniertes Lernen und Reflexe zuständig. Hier soll die Fertigkeit, das Gleichgewicht zu halten, gespeichert sein — eine Fertigkeit, die man beispielsweise zum Radfahren benötigt.
Bei unserem kurzen Überblick über die Funktionsweise des Gehirns konnten wir notgedrungen nicht näher auf weitere einzigartige Funktionen eingehen, wie zum Beispiel den Zeitsinn des Gehirns, seine Veranlagung, eine Sprache zu erlernen, seine ausgeklügelten motorischen Fertigkeiten oder die Art und Weise, wie es das Nervensystem des Körpers sowie wichtige Organe steuert und wie es mit Schmerzen umgeht. Noch zu erforschen sind außerdem die chemischen Botenstoffe, durch die es mit dem Immunsystem verknüpft ist. „Es ist so unglaublich komplex“, bemerkt der Neurowissenschaftler David Felten, „daß man sich fragt, ob überhaupt die Hoffnung besteht, jemals alles herauszufinden.“
Doch auch wenn viele Geheimnisse um das Gehirn noch im dunkeln liegen, schenkt uns dieses außergewöhnliche Organ die Fähigkeit, zu denken, nachzusinnen und uns an Gelerntes zu erinnern. Wie können wir unser Gehirn aber optimal nutzen? Die Antwort darauf finden wir im letzten Artikel dieser Serie.
[Kasten/Bilder auf Seite 8]
DIE LÜCKE ÜBERBRÜCKEN
Wenn ein Neuron Reize erhält, wandert ein Nervenimpuls an dem Axon des Neurons entlang. Beim Erreichen des Synapsenköpfchens bewirkt er, daß winzige Kügelchen (synaptische Vesikel), die sich innerhalb des Köpfchens befinden und von denen jedes mit Tausenden von Neurotransmittermolekülen gefüllt ist, mit der Oberfläche des Köpfchens verschmelzen und ihre Ladung in den synaptischen Spalt abgeben, die den Spalt dann überquert.
Mit Hilfe eines komplizierten Systems öffnet und schließt der Neurotransmitter Empfängerkanäle im nächsten Neuron. Infolgedessen fließen elektrisch geladene Teilchen in die Zielnervenzelle und verursachen weitere chemische Veränderungen, die dort entweder einen elektrischen Impuls auslösen oder eine weitere elektrische Aktivität hemmen.
Das Phänomen Langzeitpotenzierung tritt ein, wenn Neuronen regelmäßig Reize erhalten und Neurotransmitter in den synaptischen Spalt abgeben. Manche Forscher glauben, daß die Neuronen dadurch enger zusammenrücken. Andere behaupten, es gebe Anhaltspunkte dafür, daß ein Signal von der Empfängernervenzelle zum Absender zurückgeleitet wird. Dadurch werden wiederum chemische Veränderungen verursacht, durch die noch mehr Proteine erzeugt werden, die dann als Neurotransmitter fungieren. Diese stärken die Verbindung zwischen den Neuronen.
Angesichts der sich ständig verändernden Verbindungen im Gehirn — seiner Plastizität — gilt das Motto „Wer rastet, der rostet“. Um etwas im Gedächtnis zu behalten, ist es also hilfreich, es sich oft in Erinnerung zu rufen.
Axon
Eine reizübertragende Faser, die Neuronen miteinander verbindet
Dendriten
Kurze, vielverzweigte Verbindungen zwischen Neuronen
Neuriten
Greifarmähnliche Fortsätze des Neurons; es gibt zwei Haupttypen: Axone und Dendriten
Neuronen
Nervenzellen; das Gehirn besitzt zwischen 10 Milliarden und 100 Milliarden Neuronen; „ein typisches Neuron ... weist buchstäblich Tausende von Synapsen mit anderen Zellen auf“
Neurotransmitter
Chemische Stoffe, die einen Nervenimpuls von einer sendenden Nervenzelle oder einem Neuron über den sogenannten synaptischen Spalt hinweg zu einer Empfängernervenzelle tragen
Synapse
Der Spalt zwischen einem signalsendenden und einem signalempfangenden Neuron
[Bildnachweis]
Nach dem Buch The Human Mind Explained von Professor Susan A. Greenfield (1996)
CNRI/Science Photo Library/PR
[Kasten/Bilder auf Seite 9]
DIE CHARAKTERISTISCHEN FÄHIGKEITEN DES MENSCHEN
Hirnregionen, die auf die Sprache spezialisiert sind, sogenannte Sprachzentren, statten den Menschen mit einzigartigen Fähigkeiten zur Kommunikation aus. Was man sagen möchte, scheint von der Region der linken Hirnhälfte gesteuert zu werden, der Wernickeschen Region (1). Sie kommuniziert mit der Brocaschen Region (2), die Grammatikregeln anwendet. Als nächstes treffen die Impulse in den nahe gelegenen motorischen Regionen ein, die die Gesichtsmuskeln steuern und uns helfen, die passenden Wörter zu artikulieren. Außerdem nehmen diese Regionen Kontakt mit dem Sehsystem des Gehirns auf, damit wir lesen können, sowie mit dem Hörsystem, damit wir das, was andere sagen, hören, verstehen und darauf reagieren können, und schließlich, nicht zu vergessen, mit unserem Gedächtnis, damit wir uns lohnende Gedanken merken. „Was den Menschen tatsächlich von anderen Lebewesen unterscheidet“, so der Kommentar in dem Studienführer Journey to the Centres of the Brain, „ist die Fähigkeit, eine erstaunliche Vielzahl an Fertigkeiten, Fakten und Regeln zu erlernen, und zwar nicht nur, was stoffliche Dinge in ihrem Umfeld betrifft, sondern insbesondere, was andere Menschen und ihre Eigenheiten angeht.“
[Bilder auf Seite 7]
Verschiedene Gehirnregionen nehmen Farbe, Form, Gestalt und Umrisse wahr; außerdem registrieren sie Bewegungen
[Bildnachweis]
Parks Canada/J. N. Flynn