Das Gesetz vor der Zeit Christi
„Wie liebe ich doch dein Gesetz! Den ganzen Tag befasse ich mich damit“ (PSALM 119:97).
1. Wodurch wird die Bewegung der Himmelskörper gelenkt?
SEIT seiner Kindheit hatte Hiob wahrscheinlich staunend zu den Sternen emporgeblickt. Vielleicht hatten ihn seine Eltern die Namen der großen Sternbilder gelehrt sowie das, was sie über die Gesetze wußten, durch die die Bewegung der Sternbilder am Himmel gelenkt wird. Immerhin diente den Menschen bereits in alter Zeit die beständige Bewegung dieser riesigen, eleganten Sternkonstellationen zur Bestimmung der wechselnden Jahreszeiten. Doch auch wenn Hiob die Sternformationen oft und ehrfürchtig beobachtete, hatte er trotzdem keine Vorstellung davon, welche gewaltigen Kräfte diese zusammenhalten. Deshalb konnte er keine Antwort geben, als Jehova Gott ihn fragte: „Kennst du die Gesetze des Himmels ...?“ (Hiob 38:31-33, Neue Jerusalemer Bibel). Ja, die Sterne werden durch Gesetze gelenkt — Gesetze, die so präzise und komplex sind, daß die heutigen Wissenschaftler sie nicht völlig verstehen.
2. Warum kann gesagt werden, daß die gesamte Schöpfung durch Gesetze gelenkt wird?
2 Jehova ist der oberste Gesetzgeber im Universum. Alle seine Werke werden durch Gesetze gelenkt. Sein geliebter Sohn, „der Erstgeborene aller Schöpfung“, hielt, schon bevor das materielle Universum existierte, treu das Gesetz seines Vaters (Kolosser 1:15). Durch Gesetze werden auch die Engel geleitet (Psalm 103:20). Selbst Tiere werden durch Gesetze gelenkt, da sie den Geboten ihres Instinkts gehorchen, die ihr Schöpfer für sie festgelegt hat (Sprüche 30:24-28; Jeremia 8:7).
3. (a) Warum benötigen die Menschen Gesetze? (b) Wodurch leitete Jehova die Nation Israel?
3 Was ist über die Menschen zu sagen? Wir sind zwar mit Gaben gesegnet wie Vernunft, Sittlichkeit und Spiritualität, aber wir benötigen trotzdem auch ein gewisses Maß an göttlichen Gesetzen, die uns anleiten, diese Gaben zu gebrauchen. Unsere Ureltern, Adam und Eva, waren vollkommen, weshalb einige wenige Gesetze genügten, um ihnen Anleitung zu geben. Die Liebe zu ihrem himmlischen Vater hätte ihnen ausreichend Grund geben sollen, ihm gern zu gehorchen. Doch sie wurden ungehorsam (1. Mose 1:26-28; 2:15-17; 3:6-19). Deshalb waren ihre Nachkommen sündige Geschöpfe, die zu ihrer Anleitung viele weitere Gesetze benötigten. Im Laufe der Zeit entsprach Jehova liebevollerweise diesem Bedürfnis. Er gab Noah spezielle Gesetze, die er an seine Angehörigen weitergeben sollte (1. Mose 9:1-7). Jahrhunderte später übermittelte Gott der neuentstandenen Nation Israel durch Moses eine detaillierte schriftliche Gesetzessammlung. Damit leitete Jehova erstmals eine ganze Nation durch sein göttliches Gesetz. Eine Betrachtung dieses Gesetzes wird uns helfen, die wichtige Rolle zu verstehen, die das göttliche Gesetz heute im Leben eines Christen spielt.
Das mosaische Gesetz — sein Zweck
4. Warum gab es, was das Hervorbringen des Samens der Verheißung betraf, bei den auserwählten Nachkommen Abrahams ein Problem?
4 Der Apostel Paulus, der das Gesetz eingehend studiert hatte, stellte die Frage: „Warum denn das GESETZ?“ (Galater 3:19). Um darauf die Antwort geben zu können, müssen wir an die Verheißung denken, die Jehova seinem Freund Abraham gab, nämlich daß aus seiner Nachkommenschaft ein Same hervorgehen sollte, der für alle Nationen große Segnungen herbeiführen würde (1. Mose 22:18). Doch in Verbindung damit gab es ein Problem: Bei den Israeliten, den auserwählten Nachkommen Abrahams, handelte es sich nicht ausnahmslos um Personen, die Jehova liebten. Im Laufe der Zeit erwiesen sich die meisten von ihnen als halsstarrig und rebellisch — teilweise waren sie fast unregierbar (2. Mose 32:9; 5. Mose 9:7). Für die Betreffenden war die Zugehörigkeit zu Gottes Volk lediglich eine Sache der Geburt, nicht der persönlichen Wahl.
5. (a) Was lehrte Jehova die Israeliten durch das mosaische Gesetz? (b) Wie sollte das Gesetz das Verhalten derjenigen beeinflussen, die daran gebunden waren?
5 Wie konnte ein solches Volk den verheißenen Samen hervorbringen und durch ihn Nutzen haben? Jehova lenkte sein Volk nicht wie Roboter, sondern belehrte es durch das Gesetz (Psalm 119:33-35; Jesaja 48:17). Tatsächlich bedeutet das hebräische Wort für „Gesetz“, tōráh, „Unterweisung“. Was lehrte das Gesetz? In erster Linie zeigte es den Israeliten, wie dringend sie den Messias benötigten, der sie aus ihrem sündigen Zustand loskaufen würde (Galater 3:24). Das Gesetz lehrte auch Gottesfurcht und Gehorsam. Im Einklang mit der abrahamischen Verheißung sollten die Israeliten allen anderen Nationen als Zeugen für Jehova dienen. Das Gesetz mußte ihnen daher einen erhabenen, edlen Verhaltenskodex vermitteln, der ein gutes Licht auf Jehova werfen würde; es sollte Israel helfen, sich von den verdorbenen Handlungen der Nachbarnationen getrennt zu halten (3. Mose 18:24, 25; Jesaja 43:10-12).
6. (a) Wie viele Gesetze umfaßte das mosaische Gesetz in etwa, aber warum waren das eigentlich nicht besonders viele? (Siehe Fußnote.) (b) Welchen Aufschluß kann uns ein Studium des mosaischen Gesetzes geben?
6 Es ist daher nicht verwunderlich, daß das mosaische Gesetz viele Bestimmungen umfaßte, nämlich über 600.a Diese schriftliche Gesetzessammlung regelte Bereiche wie die Anbetung, die Regierung, die Moral, die Justiz, ja selbst Ernährungs- und Hygienefragen. Bedeutete das jedoch, daß das Gesetz lediglich aus einer Menge nüchterner Regeln und knapper Gebote bestand? Keinesfalls! Ein Studium dieser Gesetzessammlung gibt weitreichenden Aufschluß über die liebevolle Persönlichkeit Jehovas. Betrachten wir einige Beispiele.
Ein Gesetz, das von Barmherzigkeit und Mitgefühl zeugte
7, 8. (a) Inwiefern legte das Gesetz Nachdruck auf Barmherzigkeit und Mitgefühl? (b) Wieso wandte Jehova das Gesetz in Davids Fall mit Barmherzigkeit an?
7 Das Gesetz legte Nachdruck auf Barmherzigkeit und Mitgefühl, vor allem gegenüber Niedergedrückten oder Hilflosen. Witwen und Waisen wurden unter besonderen Schutz gestellt (2. Mose 22:22-24). Arbeitstiere schützte es vor Quälerei. Grundlegende Eigentumsrechte mußten respektiert werden (5. Mose 24:10; 25:4). Das Gesetz forderte für Mord die Todesstrafe, aber in Fällen von unabsichtlichem Totschlag ermöglichte es Barmherzigkeit (4. Mose 35:11). Israelitische Richter hatten offenbar einen Spielraum, was die Bestrafung gewisser Vergehen betraf, abhängig von der Einstellung des Missetäters. (Vergleiche 2. Mose 22:7 und 3. Mose 6:1-7.)
8 Jehova gab Richtern dadurch ein Beispiel, daß er das Gesetz dort, wo notwendig, mit Strenge anwandte, aber dort, wo möglich, barmherzig war. Barmherzigkeit wurde beispielsweise König David erwiesen, als er Ehebruch und einen Mord begangen hatte. Nicht, daß er straffrei ausging, denn Jehova bewahrte ihn keineswegs vor den furchtbaren Folgen, die seine Sünde nach sich zog. Doch wegen des Königreichsbundes und weil David von Natur aus ein barmherziger Mensch war, der eine äußerst reumütige Herzenseinstellung hatte, wurde er nicht zu Tode gebracht (1. Samuel 24:4-7; 2. Samuel 7:16; Psalm 51:1-4; Jakobus 2:13).
9. Welche Rolle spielte die Liebe im mosaischen Gesetz?
9 Im mosaischen Gesetz wurde außerdem Nachdruck auf die Liebe gelegt. Man stelle sich einmal vor, eine der heutigen Nationen hätte eine Verfassung, die tatsächlich Liebe fordern würde. Das mosaische Gesetz verbot deshalb nicht nur Mord; es enthielt auch das Gebot: „Du sollst deinen Mitmenschen lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19:18). Es untersagte nicht nur eine ungerechte Behandlung des ansässigen Fremdlings, sondern beinhaltete auch das Gebot: „Du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ansässige Fremdlinge wurdet ihr im Land Ägypten“ (3. Mose 19:34). Nicht nur, daß das mosaische Gesetz Ehebruch verbot; es gebot dem Ehemann sogar, seine Frau zu erfreuen (5. Mose 24:5). Allein im Bibelbuch 5. Mose werden etwa 20mal hebräische Wörter gebraucht, die sich auf die Eigenschaft der Liebe beziehen. Jehova versicherte den Israeliten, sie gegenwärtig und zukünftig genauso zu lieben, wie er es bereits in der Vergangenheit getan hatte (5. Mose 4:37; 7:12-14). Das größte Gebot des mosaischen Gesetzes lautete tatsächlich: „Du sollst Jehova, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deiner ganzen Tatkraft“ (5. Mose 6:5). Wie Jesus sagte, hing an diesem Gebot sowie an dem Gebot, seinen Nächsten zu lieben, das ganze Gesetz (3. Mose 19:18; Matthäus 22:37-40). Kein Wunder, daß der Psalmist schrieb: „Wie liebe ich doch dein Gesetz! Den ganzen Tag befasse ich mich damit.“ (Psalm 119:97)!
Der Mißbrauch des Gesetzes
10. Wie standen die meisten Juden zum mosaischen Gesetz?
10 Wie tragisch ist es daher, daß es Israel weitgehend an Wertschätzung für das mosaische Gesetz fehlen ließ! Das Volk mißachtete das Gesetz, ignorierte oder vergaß es. Außerdem verunreinigten die Juden die reine Anbetung durch abscheuliche religiöse Praktiken, die sie von anderen Nationen übernahmen (2. Könige 17:16, 17; Psalm 106:13, 35-38). Und sie verrieten das Gesetz auch in anderer Hinsicht.
11, 12. (a) Welchen Schaden richteten Gruppen von geistlichen Führern nach den Tagen Esras an? (Siehe Kasten.) (b) Warum hielten es die damaligen Rabbis für erforderlich, „einen Zaun um die Thora“ zu machen?
11 Den größten Schaden fügten allerdings diejenigen dem Gesetz zu, die behaupteten, es zu lehren und zu bewahren. Diese Entwicklung trat nach den Tagen des treuen Abschreibers Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. ein. Esra hatte angestrengt gegen die verderblichen Einflüsse anderer Nationen gekämpft und sich nachdrücklich für das Vorlesen und das Lehren des Gesetzes eingesetzt (Esra 7:10; Nehemia 8:5-8). Einige Gesetzeslehrer, die vorgaben, in Esras Fußstapfen zu treten, bildeten die sogenannte Große Synagoge. Zu deren Aussprüchen gehörte die Anweisung: „Machet einen Zaun um die Thora.“ Jene Lehrer argumentierten, das Gesetz gleiche einem wertvollen Garten. Damit niemand durch das Übertreten der Gebote widerrechtlich in diesen Garten eindrang, schufen sie weitere Regeln, das „mündliche Gesetz“, damit die Menschen erst gar nicht in die Gefahr gerieten, eine solche Verfehlung zu begehen.
12 Einige mögen der Ansicht sein, die jüdischen Führer hätten für ihre Überlegungen gute Gründe gehabt. Nach den Tagen Esras wurden die Juden von fremden Mächten beherrscht, vor allem von Griechenland. Gruppen geistlicher Führer standen unter den Juden auf, um gegen den Einfluß der griechischen Philosophie und Kultur anzukämpfen. (Siehe Kasten auf Seite 10.) Im Laufe der Zeit machten einige dieser Gruppen der levitischen Priesterschaft den Rang als Gesetzeslehrer streitig und stachen sie sogar aus. (Vergleiche Maleachi 2:7.) Etwa ab 200 v. u. Z. wurde der Einfluß des mündlichen Gesetzes auf das jüdische Leben immer stärker. Ursprünglich durften diese Gesetze nicht schriftlich festgehalten werden, um zu verhindern, daß sie dem geschriebenen Gesetz gleichgestellt wurden. Doch allmählich wurden diese menschlichen Gedanken den göttlichen vorangestellt, so daß der „Zaun“ dem „Garten“, den er angeblich schützen sollte, tatsächlich Schaden zufügte.
Die Verunreinigung durch das Pharisäertum
13. Wie rechtfertigten einige geistliche Führer der Juden das Aufstellen vieler Regeln?
13 Da die Thora oder das mosaische Gesetz vollkommen war, mußte darin nach Ansicht der Rabbis Antwort auf jede Frage gegeben werden, die aufkommen konnte. Diese Vorstellung zeugte nicht von echter Ehrerbietung. Tatsächlich gab sie den Rabbis einen Freibrief, sich schlauer menschlicher Überlegungen zu bedienen, wobei sie den Anschein erweckten, als sei Gottes Wort die Grundlage der Regeln für alle möglichen Belange, die teilweise persönlicher Art, teilweise aber auch ganz banal waren.
14. (a) Wie unbiblisch und extrem legten die geistlichen Führer der Juden das biblische Gebot der Trennung von den Nationen aus? (b) Was zeigt, daß die rabbinischen Regeln das jüdische Volk nicht vor heidnischen Einflüssen bewahrten?
14 Immer wieder griffen die geistlichen Führer Gebote der heiligen Schriften heraus und legten sie in extremer Weise aus. Das mosaische Gesetz förderte beispielsweise die Trennung von den Nationen, aber die Rabbis bestanden in unvernünftiger Weise darauf, alles zu verachten, was nicht jüdisch war. Sie lehrten, daß ein Jude nicht einmal sein Vieh in einen nichtjüdischen Gasthof stellen durfte, da Nichtjuden „der schändlichen Vermischung [Sodomie] verdächtig sind“. Eine Jüdin durfte einer Nichtjüdin keine Geburtshilfe leisten, weil sie dadurch „ein Kind für den Götzendienst gebären hilft“. Da den Rabbis die griechischen Sportstätten verdächtig vorkamen — und das zu Recht —, verboten sie sämtliche athletischen Übungen. Wie die Geschichte beweist, half das jedoch wenig, die Juden vor heidnischen Glaubensansichten zu bewahren. Denn schließlich kam es so weit, daß die Pharisäer selbst die heidnisch-griechische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele lehrten! (Hesekiel 18:4).
15. Wie verdrehten die geistlichen Führer der Juden die Reinheitsgesetze und das Gesetz gegen Inzest?
15 Die Pharisäer verdrehten auch die Reinheitsgesetze. Man sagte, die Pharisäer würden selbst die Sonne reinigen, wenn sie Gelegenheit dazu hätten. Gemäß ihrem Gesetz verunreinigte es einen Menschen, wenn er „dem Ruf der Natur“ nicht unverzüglich Folge leistete. Aus dem Händewaschen wurde ein aufwendiges Ritual gemacht, bei dem festgelegt war, welche Hand als erste zu waschen war und wie das zu geschehen hatte. Frauen galten als besonders unrein. Auf der Grundlage des biblischen Gebots, sich keinem nahen Verwandten zu „nähern“ (in Wirklichkeit ein Gesetz gegen Inzest), bestimmten die Rabbis, daß ein Mann nicht hinter seiner Frau gehen dürfe; er sollte sich auf dem Marktplatz auch nicht mit ihr unterhalten (3. Mose 18:6).
16, 17. Wie umfangreich war das mündliche Gesetz das Gebot betreffend, den wöchentlichen Sabbat zu beobachten, und wozu führte das?
16 Besonders berüchtigt ist das, was man aus religiöser Verirrung durch das mündliche Gesetz aus dem Sabbatgesetz gemacht hat. Gott gab Israel ein einfaches Gebot: ‘Am siebten Tag der Woche sollt ihr keinerlei Arbeit tun’ (2. Mose 20:8-11). Doch im mündlichen Gesetz ging man noch weiter, indem 39 verschiedene Arten verbotener Arbeit definiert wurden, wozu unter anderem gehörte, einen Knoten zu binden oder zu lösen, zwei Stiche zu nähen oder zwei hebräische Buchstaben zu schreiben. Jede Art dieser Arbeiten erforderte wiederum weitere endlose Regeln. Welche Knoten waren erlaubt und welche verboten? Im mündlichen Gesetz gab es dafür recht willkürliche Regeln. Auch Heilen wurde als verbotene Arbeit betrachtet. So war es zum Beispiel untersagt, am Sabbat gebrochene Gliedmaßen einzurichten. Jemand, der Zahnschmerzen hatte, konnte Essig zwar zum Würzen seiner Speisen benutzen, durfte diesen aber nicht durch die Zähne ziehen. Das hätte ja seinen Zahn heilen können!
17 Unter Hunderten von menschlichen Regeln begraben, verlor das Sabbatgesetz seine religiöse Bedeutung, jedenfalls für die meisten Juden. Als Jesus Christus, der „Herr des Sabbats“, am Sabbat spektakuläre, zu Herzen gehende Wunder wirkte, ließ das die Schriftgelehrten und Pharisäer ungerührt. Für sie ging es allein darum, daß er offensichtlich ihre Regeln außer acht ließ (Matthäus 12:8, 10-14).
Aus der Torheit der Pharisäer eine Lehre ziehen
18. Welche Folgen hatte es, daß zum mosaischen Gesetz mündliche Gesetze und Traditionen hinzugefügt wurden? Veranschauliche es.
18 Zusammenfassend können wir sagen, daß die zusätzlichen Gesetze und die Traditionen schließlich fest mit dem mosaischen Gesetz verbunden waren — gleich Seepocken, die am Rumpf eines Schiffes haften. Ein Schiffseigner wird alles daransetzen, diese unliebsamen Geschöpfe von seinem Schiff zu entfernen, da sie es bremsen und die Rostschutzfarbe angreifen. In ähnlicher Weise belasteten die mündlichen Gesetze und die Traditionen das Gesetz und setzten es verderblichem Mißbrauch aus. Doch statt die Zusätze zu entfernen, fügten die Rabbis immer mehr hinzu. Als der Messias kam, um das Gesetz zu erfüllen, war das „Schiff“ so sehr mit „Seepocken“ verkrustet, daß es sich kaum noch über Wasser halten konnte. (Vergleiche Sprüche 16:25.) Statt den Gesetzesbund zu schützen, begingen die geistlichen Führer die Torheit, ihn zu verraten. Doch wieso versagte ihr „Zaun“ von Regeln?
19. (a) Warum versagte der „Zaun“ um das Gesetz? (b) Was zeigt, daß es den geistlichen Führern der Juden an echtem Glauben fehlte?
19 Die Führer des Judaismus begriffen nicht, daß der Kampf gegen Verderbnis im Herzen ausgefochten wird und nicht auf den Seiten von Gesetzbüchern (Jeremia 4:14). Der Schlüssel für den Sieg ist Liebe — Liebe zu Jehova, Liebe zu seinem Gesetz und zu seinen gerechten Grundsätzen. Eine solche Liebe bewirkt einen entsprechenden Haß auf das, was Jehova haßt (Psalm 97:10; 119:104). Diejenigen, deren Herz voller Liebe ist, bleiben inmitten einer verdorbenen Welt den Gesetzen Jehovas treu. Die geistlichen Führer der Juden hatten eigentlich das große Vorrecht, das Volk zu belehren, um eine solche Liebe zu wecken und zu fördern. Warum versagten sie darin? Ihnen fehlte es offensichtlich an Glauben (Matthäus 23:23, Fußnote). Wenn sie daran geglaubt hätten, daß der Geist Jehovas die Macht hat, im Herzen treuer Menschen zu wirken, hätten sie es nicht für nötig gehalten, das Leben anderer rigoros zu überwachen (Jesaja 59:1; Hesekiel 34:4). Da es ihnen an Glauben fehlte, vermittelten sie keinen Glauben; sie belasteten das Volk mit von Menschen gemachten Geboten (Matthäus 15:3, 9; 23:4).
20, 21. (a) Welche generellen Auswirkungen hatte die traditionalistische Gesinnung auf den Judaismus? (b) Welche Lehre ziehen wir aus dem, was aus dem Judaismus geworden ist?
20 Die jüdischen Führer versäumten es, die Liebe zu fördern. Ihre Traditionen brachten eine von Äußerlichkeiten besessene Religion hervor, der man mechanisch Gehorsam leistete, um den äußeren Schein zu wahren — eine ideale Brutstätte für Heuchelei (Matthäus 23:25-28). Die Regeln lieferten zahllose Gründe, andere zu richten. Daher fühlten sich die stolzen, autoritären Pharisäer berechtigt, selbst Jesus Christus zu kritisieren. Sie verloren den Blick für den Hauptzweck des Gesetzes und verwarfen den wahren Messias. Dieser mußte deshalb der jüdischen Nation erklären: „Seht! Euer Haus wird euch verödet überlassen“ (Matthäus 23:38; Galater 3:23, 24).
21 Was lernen wir daraus? Durch eine strenge, traditionalistische Gesinnung wird die reine Anbetung Jehovas nicht gefördert. Bedeutet das jedoch, daß Anbeter Jehovas heute keinerlei Regeln haben, außer den ausdrücklich in der Heiligen Schrift dargelegten? Nein. Wir werden eine erschöpfende Antwort auf diese Frage erhalten, wenn wir als nächstes betrachten, daß Jesus Christus das mosaische Gesetz durch ein neues und besseres Gesetz ersetzte.
[Fußnote]
a Das ist natürlich eine sehr geringe Zahl im Vergleich zum Rechtssystem heutiger Nationen. Anfang der 90er Jahre umfaßten zum Beispiel die Bundesgesetze der Vereinigten Staaten über 125 000 Seiten, und jedes Jahr kommen Tausende von neuen Gesetzen hinzu.
Kannst du es erklären?
◻ Inwiefern wird die gesamte Schöpfung durch Gottes Gesetz geleitet?
◻ Was war der Hauptzweck des mosaischen Gesetzes?
◻ Was zeigt, daß das mosaische Gesetz Barmherzigkeit und Mitgefühl betonte?
◻ Warum fügten die geistlichen Führer der Juden zahllose Regeln zum mosaischen Gesetz hinzu, und wozu führte das?
[Kasten auf Seite 10]
Die geistlichen Führer der Juden
Schriftgelehrte: Sie betrachteten sich als Nachfolger Esras und als Erläuterer des Gesetzes. Gemäß dem Buch A History of the Jews „waren nicht alle Schriftgelehrten überragende Geister, und ihre Versuche, in das Gesetz versteckte Bedeutungen hineinzuinterpretieren, arteten oft in sinnlose Formeln und törichte Einschränkungen aus. Diese verfestigten sich im Brauchtum, das bald zu einem unerbittlichen Tyrannen wurde.“
Chassidim: Der Name bedeutet „Fromme“ oder „Heilige“. Sie wurden erstmals um 200 v. u. Z. als Gruppe erwähnt und waren politisch einflußreiche, fanatische Verteidiger der Reinheit des Gesetzes gegenüber der Tyrannei des griechischen Einflusses. Die Chassidim spalteten sich in drei Gruppen auf: in die Pharisäer, die Sadduzäer und die Essener.
Pharisäer: Nach Ansicht einiger Gelehrter ist ihr Name von den Wörtern für „Abgesonderte“ oder „Separatisten“ abgeleitet. Sie waren wahrhaft fanatisch in ihrem Feldzug, sich von Nichtjuden getrennt zu halten, aber sie sahen ihre Bruderschaft auch als getrennt vom allgemeinen jüdischen Volk und diesem überlegen, da es nichts von der Vielschichtigkeit des mündlichen Gesetzes wußte. Ein Historiker sagte über die Pharisäer: „Als Ganzes betrachtet, behandelten sie die Menschen wie Kinder, sie formalisierten und definierten die winzigsten Bestandteile ritueller Vorschriften.“ Ein anderer Gelehrter erklärte: „Das Pharisäertum brachte eine Unmenge gesetzlicher Vorschriften für sämtliche Situationen hervor mit der unvermeidlichen Konsequenz, daß sie Kleinigkeiten für höchst wichtig erklärten, wodurch aus höchst Wichtigem Kleinigkeiten wurden (Mt. 23:23).“
Sadduzäer: Eine Gruppe, die eng mit der Aristokratie und der Priesterschaft verbunden war. Die Sadduzäer widersetzten sich heftig den Schriftgelehrten und den Pharisäern und maßen dem mündlichen Gesetz nicht dieselbe Gültigkeit bei wie dem geschriebenen Gesetz. Daß sie diesen Kampf verloren, zeigt die Mischna: „Die Auflehnung gegen die Worte der Schriftgelehrten ist eine schwerere Sünde als die [Auflehnung] gegen die Worte der Thora.“ Der Talmud, der viele Kommentare zum mündlichen Gesetz enthält, ging später so weit zu sagen: „Die Worte der Schriftgelehrten sind ... kostbarer als die Worte der Thora.“
Essener: Eine Gruppe von Asketen, die sich in getrennten Gemeinschaften absonderten. Gemäß dem Werk The Interpreter’s Dictionary of the Bible waren die Essener noch anspruchsvoller als die Pharisäer, und „manchmal konnten sie noch pharisäerhafter sein als die Pharisäer“.
[Bild auf Seite 8]
Hiob war wahrscheinlich von seinen Eltern über die Gesetze, die die Sternbilder lenken, belehrt worden