Unser erstaunlicher Geist
„MARIA, wo hast du meine Angelrolle hingelegt?“
„In das oberste Regal des Schrankes in der Garage“, antwortete die Frau des Anglers ohne Zögern. Obwohl sie die Rolle vor sechs Monaten dorthin gelegt hatte, kam ihre Antwort spontan, als ob sie sie bereit gehabt hätte.
Wenngleich sie sich dessen nicht bewußt war, war ihr Nervensystem in diesen vergangenen sechs Monaten in jeder wachen Sekunde von unzähligen Impulsen bombardiert worden, die über ihren Gesichts-, ihren Gehör- und ihren Tastsinn übermittelt worden waren. Von dieser Gesamtzahl, so sagen Forscher, waren 800 000 000 Impulse wichtig genug, um in ihr höheres Gehirnzentrum zu gelangen. Doch aus dieser ungeheuren Menge von Informationen in den „Archiven“ ihres Geistes konnte sie die Antwort herausfinden und sie in Sprache umsetzen.
Während sie das tat, wurde ihr Sinn mit Millionen weiterer Informationen bombardiert. Gleichzeitig leitete sie ihr Geist bei der Zubereitung einer besonderen Mahlzeit für das Abendbrot — und all das mit Leichtigkeit, routinemäßig.
Es ist unmöglich, alles zu beschreiben, was im Sinn der Hausfrau vor sich ging, während sie all diese Dinge gleichzeitig tat. Wie war ihr das möglich? Welche Faktoren spielten dabei eine Rolle? Die Wissenschaftler kennen tatsächlich einige der Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, aber sie wissen praktisch nichts darüber, wieso das Gedächtnis mit einer solchen Geschwindigkeit und Präzision arbeiten kann. Wenden wir uns einen Augenblick dem Gehirn, dem Werkzeug des Geistes, zu.
Das menschliche Gehirn
Das menschliche Gehirn wiegt durchschnittlich etwa drei Pfund. Es gibt unterschiedlich große Gehirne, aber die alte Theorie, daß die Intelligenz von der Größe des Gehirns abhängig sei, ist ein Trugschluß. Eine andere falsche Vorstellung ist, daß der Mensch nur einen kleinen Prozentsatz seines Gehirns benutze. Anscheinend gibt es keinen Teil des Gehirns, der nie benutzt wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Mensch seine Gehirnkapazität je völlig ausnutzt. Die Frage scheint hier zu lauten: Wie gut nutzt er sie aus, indem er seinen Geist schult und wertvolle Erinnerungen speichert?
Das Gehirn besteht aus einem weichen, geleeartigen Gewebe. Es ist im Schädel eingeschlossen, wird von schützenden Membranen umgeben und ist durch die Gehirnrückenmarksflüssigkeit — ein Plasma, das aus bestimmten Blutgefäßen „sickert“ — gegen Erschütterungen geschützt. Durch große Arterien wird das Gehirn mit mehr Blut versorgt als irgendein anderer Körperteil, denn es verbraucht ein Viertel des Sauerstoffvorrats im Blut. Dennoch hat das Gehirn bei seiner außerordentlichen Leistungsfähigkeit einen verhältnismäßig geringen Energieverbrauch. Ein Forscher sagt, eine halbe Erdnuß gebe genügend Kraft für eine Stunde intensiver geistiger Arbeit.
Das Gehirn besteht aus verschiedenen Teilen, die jeweils ihre besonderen Funktionen erfüllen, aber erst durch die Wechselwirkungen und Verknüpfungen, die zwischen ihnen bestehen, das Gehirn zu seinen Leistungen befähigen. Der Teil, mit dem wir uns besonders befassen, sind die höheren Gehirnzentren — das Großhirn und die darüberliegende Schicht grauer Substanz, Großhirnrinde genannt. Allerdings können die anderen Teile des Gehirns bei keiner Funktion des Geistes außer acht gelassen werden.
Das Lernen
Von Geburt an lernen wir. Schon ein Baby muß die elementarsten Dinge lernen. Das Gehirn eines Kleinkindes kann in gewisser Hinsicht mit einer Straßenkarte verglichen werden, auf der die Hauptstraßen und nur wenige Verbindungsstraßen eingezeichnet sind. Die Grundlagen des Geistes sind ererbt, aber die meisten Verbindungen entstehen erst, wenn das Kind Erkenntnisse aus einer Welt aufnimmt, in der ihm alles neu ist.
Was alles ist an dem Lernprozeß beteiligt? Wie zum Beispiel konnte sich die anfangs erwähnte Frau den Ort einprägen, an dem sie die Angelrolle aufgehoben hatte, so daß er in ihrem Gedächtnis „haftenblieb“ und sie sich bei Bedarf daran erinnern konnte?
Forscher nennen verschiedene Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ist, daß sich beim Lernen, bei dem das Gedächtnis eine wichtige Rolle spielt, nicht die Zahl der Zellen im Gehirn vermehrt, sondern daß die Nervenfasern angeregt werden, neue Verästelungen zu bilden, die dann mit anderen Nervenzellen auf elektrochemischem Wege Verbindungen herstellen. Wie wir noch sehen werden, können auch andere Veränderungen vor sich gehen. Geistiges Wachstum erfordert eine Schulung des Gehirns. Die Neuronen (Nervenzellen) im Gehirn müssen benutzt werden, sonst „verkümmern“ sie wie ein unbenutzter Muskel. Sie sterben dann zwar nicht vollständig ab, so daß sie nicht mehr benutzt werden könnten, aber einem ungeschulten Gehirn fällt das Lernen viel schwerer. Es wird unreif bleiben und nicht die „Verbindungen“ herstellen können, die nötig wären.
Ein wenig benutztes Gehirn ist wie eine Bibliothek, in der nur wenig Bücher stehen. Es fehlt einfach an Informationen. Der Betreffende ist schlecht ausgerüstet, um die Probleme des Lebens zu meistern. Jemand anders, der in einer verrufenen Umgebung aufgewachsen ist, mag seinen Geist mit schlechten Dingen angefüllt haben, und er mag als Verbrecher sehr geschickt sein und „Erfolg“ haben, aber es fehlt ihm an Ehrlichkeit, Barmherzigkeit und Liebe. Und wovon läßt jemand sein Handeln leiten, wenn er Haß oder Eifersucht in seinem Herzen und in seinem Sinn hat? Jemand, der immer negativ denkt und der bei anderen nur die Fehler und Schwächen sieht, hat alle guten „Bücher“ aus seiner „Bibliothek“, seinem Gedächtnis, verbannt und hat daher nur „Bücher“, durch die sein Haß und seine kritische Einstellung genährt werden. Ein solcher Mensch mag ein außerordentliches Geschick besitzen, Unruhe zu stiften, sich zu rechtfertigen usw., aber er sollte sich ändern und beginnen, gute Gedankenmuster zu entwickeln, das heißt ein aufrichtiges Interesse an anderen und an den guten Dingen seiner Umwelt.
Das alles zeigt, wie wichtig es ist, daß wir unseren Geist mit guten, nützlichen Dingen beschäftigen und wirklich lernen. Wenn jemand seine Zeit mit unnützen Dingen verbringt, wird sein Geist träge. Er vergeudet ihn gewissermaßen genauso wie seine Zeit. Die Bibel empfiehlt, daß man seinen Geist mit nützlichen Dingen beschäftigt (Phil. 4:8). Und der Apostel Petrus schrieb an Christen: „Es ist genug, daß ihr in der vergangenen Zeit den Willen der Nationen vollbracht habt, als ihr in Zügellosigkeiten wandeltet, in Lüsten, übermäßigem Weingenuß, Schwelgereien, Trinkgelagen und gesetzwidrigen Götzendienereien“ (1. Petr. 4:3).
Einige entschuldigen ihr Versäumnis, sich geistig zu betätigen, mit den Worten: „Ich bin zu alt, um zu lernen.“ Das ist nicht wahr. Man hat festgestellt, daß man noch bis Ende Vierzig sehr viel lernt und daß die Lernfähigkeit bei vielen Personen bis zu ihrem Lebensende erhalten bleibt.
Manchmal antworten alte Personen nicht so schnell auf Fragen wie junge Leute und reagieren auch nicht so schnell. Wie kommt das? Das liegt nicht immer an einem Nachlassen ihres Nervensystems, sondern oft ist der Grund, daß ältere Menschen vorsichtiger sind. Sie zögern, unter Druck Entscheidungen zu treffen. Sie haben mehr Erfahrung und wissen oft mehr und haben daher bessere Voraussetzungen für ihre Entscheidungen. Während Jugendliche dazu neigen mögen, ein vorschnelles Urteil zu fällen, erwägen ältere Menschen gewöhnlich mehr Faktoren, und sie gehen dabei mehr in die Tiefe. Das trifft besonders dann zu, wenn ein älterer Mensch bereits von Kindheit an seinen Geist gut gebraucht hat.
Welche Kapazität hat unser Gedächtnis?
Das Gedächtnis des Menschen ist einfach erstaunlich. Es enthält Millionen von Informationen, die für den Betreffenden wichtig sind, und viele weitere, die verhältnismäßig unbedeutend sind. Daher würden die zehn Milliarden Zellen der Großhirnrinde nicht ausreichen, um all diese Informationen zu speichern, wenn jede Zelle ein kleiner Behälter wäre, in dem jeweils eine Erinnerung aufgehoben würde. Angesichts des ständigen Sperrfeuers an Informationen, die durch die verschiedenen Sinnesorgane, hauptsächlich durch die Augen, ins Gehirn gelangen, wären sie dann schon nach einer Woche „gefüllt“.
Doch das Gehirn enthält tausend Trillionen (eine Eins mit einundzwanzig Nullen) Moleküle. Jedes dieser Moleküle kann in seiner Struktur viele Änderungen erfahren und danach die geänderte Form beibehalten. Diese geänderte Struktur mag einen neuen Sinneseindruck darstellen. Wenn ein Molekül abgenutzt ist, wird es durch ein anderes ersetzt, das die gleiche Struktur und Form hat. Das ist noch nicht alles. Da die Verästelung der Nervenzellen zufolge des größer werdenden Gedächtnisses zunimmt, werden neue Kombinationen aufgrund der erhöhten Zahl von Kontakten ermöglicht. Dadurch kann das Gehirn eine gewaltige Menge Erinnerungen speichern, mehr, als wir uns vorstellen können. Außerdem scheinen noch weitere, unbekannte Faktoren eine Rolle zu spielen, und dadurch wird die Zahl noch vervielfacht.
Folgendes Beispiel mag zeigen, wie schon ein Faktor, die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der zehn Milliarden Zellen der Großhirnrinde, eine unvorstellbar hohe Zahl ergibt: In einem Packen von nur 52 Spielkarten gibt es über 635 000 000 000 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten für jeweils 13 Bridge-Karten. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu den Milliarden mal Milliarden Kombinationsmöglichkeiten im Gehirn.
Zusätzliche Speicherkapazität erhält das Gehirn durch die Art und Weise, wie die Erinnerungen anscheinend gespeichert werden. Wenn wir uns etwas ansehen, sagen wir eine Bergszene, so wird das Bild in unserem Gehirn nicht als Ganzes gespeichert. Es wird in viele Einzelteile, in elektrisch oder chemisch verschlüsselte Stücke, aufgeteilt und bildet so eine Art verschlüsseltes „Mosaik“. Wenn wir dann eine andere Szene sehen, ähneln gewisse Teile dieser Szene der früheren. Gegenseitige Vergleiche helfen dem Gedächtnis und erlauben es dem Geist, mit Hilfe dieser Vergleiche und Kontraste zu „experimentieren“. Es kann sich dabei um einen Vergleich von Größen, Formen, Farben, Gesprächen, Bibeltexten, Vorstellungen und Grundsätzen handeln. Dadurch wird das Gedächtnis beträchtlich erweitert und gestärkt. Diese Vorgänge ermöglichen auch das Vorstellungsvermögen, Überlegungen, neue Ideen und Schlußfolgerungen. Der Geist verrichtet dabei keine mechanische Arbeit, wobei er sich mühsam erinnern müßte, sondern eine Arbeit, die dem Menschen viel Freude bereitet.
Erstaunt über die zahllosen Möglichkeiten der Wechselwirkungen der Gehirnneuronen, schrieb George Leonard, der Autor des Buches Education and Ecstasy: „Ein Gehirn, das aus solchen Neuronen zusammengesetzt ist, kann offensichtlich nie ausgelastet werden.“ Einige Forscher sagen, daß alles, was man irgendwann einmal gesehen, gehört oder erlebt hat, irgendwo und irgendwie im Gedächtnis gespeichert ist. Andere sagen, daß man etwa 90 Prozent wieder vergißt, nämlich Dinge von geringerer Bedeutung, Dinge, die man nur einmal zufällig sieht oder die man für unwichtig hält. Dein Auge mag ein Gebäude erblicken. Du siehst die Einzelheiten — die Zahl der Fenster, die Namen der Firmen usw. Aber dein Geist versucht nicht, diese Einzelheiten zu behalten. Und doch vollbringt der Geist manchmal Leistungen, die der Ansicht, daß der Geist solche Sachen wieder vergißt, zu widersprechen scheinen. Zum Beispiel kannst du dich vielleicht an einen Laden erinnern, den du in einer kleinen Stadt gesehen hast, durch die du im Urlaub gefahren bist. Du magst den Laden noch deutlich vor Augen haben und dich erinnern, daß ein Auto davorstand, obwohl du dich damals überhaupt nicht dafür interessiertest.
Dennoch scheint das Gehirn im allgemeinen Eindrücke hauptsächlich für den späteren Gebrauch zu registrieren und nicht einfach, um eine Menge Tatsachen zu speichern. John Pfeiffer schrieb in seinem Buch The Human Brain: „Das Wort ,aufgespeichert‘ mag noch zu schwach sein. Das Gehirn ist ein dynamisches System von Zellen. Es hört nie auf, seine Gedächtnisspuren immer wieder zu benutzen, neue Informationen hinzuzufügen oder neue Kombinationen auszuprobieren. Sein Abstraktionsvermögen hilft uns unter anderem, etwas vorherzusagen.“ Wettervorhersagen, Prognosen von Wirtschaftstrends und unsere Handlungen im täglichen Leben, wie z. B. das Kaufen neuer Kleidung, stützen sich auf unsere Erinnerung an das, was gestern oder letzten Monat oder letztes Jahr geschehen ist.
Ein Beispiel dafür, wie unser Gedächtnis unserem unmittelbaren, gegenwärtigen Vorhaben dient, statt lediglich ein Speicher für vergangene Ereignisse zu sein, ist folgendes: Du magst in einem Kaufhaus eine bestimmte Ware suchen, sagen wir eine Rolle rotes Garn. Während du an den Verkaufstischen vorbeigehst, schenkst du anderen Waren keine besondere Aufmerksamkeit, sondern hältst nur nach dem Garn Ausschau. Einige Tage später magst du jedoch etwas anderes benötigen — vielleicht einen Schulranzen für dein Kind. Du erinnerst dich daran, daß du in dem Kaufhaus einen gesehen hast. Oder du erinnerst dich an das Schild „Büchertaschen“, dem du vorher keine Beachtung geschenkt hast. Du kannst dich vielleicht nicht mehr genau daran erinnern, wo die Ware ausgestellt war, noch an die Waren, die in der Nähe standen. Aber jetzt hast du ein Bedürfnis, und die Erinnerung an diesen besonderen Gegenstand kommt dir nun plötzlich zu Hilfe. Die Erinnerung daran war vorhanden, und sie kam dir wieder zum Bewußtsein, als du sie brauchtest. Hättest du sie nicht benötigt, wäre sie vielleicht nie aus dem „Archiv“ deines Gedächtnisses in dein Bewußtsein gelangt.
Stabilität des Gedächtnisses
Das Gedächtnis ist für den Menschen so wertvoll, daß es sich katastrophal auswirken würde, wenn er es verlöre. Dadurch würde ein großer Teil seiner Persönlichkeit ausgelöscht werden. Aber es gibt einen unbekannten „Sicherheitsfaktor“, der gewöhnlich ein solches Unheil verhindert. Die meisten Personen, die ihr Gedächtnis durch einen Unfall oder eine Verletzung verlieren, verlieren lediglich die Erinnerung an die nahe Vergangenheit. In dem bereits erwähnten Buch The Human Brain wird ein Vorfall geschildert, über den vor Jahren in der New York Times berichtet wurde. Es handelte sich um Jack Sharkey, der Anwärter auf die Boxweltmeisterschaft im Schwergewicht war. Er ging mit seinem Manager gerade am Yankee-Stadion vorbei und bemerkte:
„Mir gefällt der Himmel nicht. Es könnte regnen, und ich würde mich ärgern, wenn mein Kampf verschoben werden müßte.“
„Welcher Kampf?“ fragte sein Manager.
„Sie sind doch mein Manager, oder nicht?“ gab Sharkey zur Antwort. „Ich möchte Sie nicht überraschen, aber ich kämpfe heute abend hier im Stadion gegen Jack Dempsey.“
„Es mag für Sie neu sein, aber Sie haben bereits gegen Dempsey gekämpft. Er hat Sie in der siebten Runde k. o. geschlagen.“
In dem Buch heißt es dann weiter:
„Vollständiges Vergessen vergangener Episoden ist auf eine Verletzung der Schläfenlappen der Hirnrinde [unter den Schläfen an beiden Seiten des Kopfes] zurückzuführen. Wenn diese Stellen verletzt werden, können keine Gedächtnisspuren entstehen. Sharkey wußte während des Kampfes genau, was er tat. Er erkannte seinen Manager, befolgte seine Ratschläge und lieferte einen guten Kampf. Er war völlig bei Bewußtsein und konnte sich auch an Vergangenes erinnern. Aber sein Gehirn speicherte nicht die momentanen Ereignisse. Mit anderen Worten, die unmittelbare Vergangenheit war nur im Kurzzeitgedächtnis vorhanden, da in den Schaltkreisen der Nervenzellen Wirbelströme aufgetreten waren. Die Wirbelströme hörten nach dem K. o. auf. Obwohl das Gedächtnis des Boxers in bezug auf früher Erlebtes intakt blieb, gab es für die Zeit des Kampfes eine Lücke — ein ,Loch‘ in seiner Vergangenheit.“
Dieser Vorfall zeigt, daß Erinnerungen an gerade Erlebtes, die im Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden, ausgelöscht werden können. In viel selteneren Fällen haben Personen auch fest eingeprägte Erinnerungen verloren, aber ihr Gedächtnis ist oft wiederhergestellt worden. Es ist ein Rätsel, wo der Sitz des Gedächtnisses ist. Wenn das Gehirn eines Menschen an einer bestimmten Stelle durch einen elektrischen Impuls angeregt wird, mag er sich in allen Einzelheiten an ein Erlebnis erinnern, das viele Jahre zurückliegt. Seltsamerweise wird jedoch die Erinnerung daran nicht zerstört, wenn das Gehirn genau an dieser Stelle verletzt wird. Manche Personen haben große Hirnschäden erlitten, ohne daß ihr Langzeitgedächtnis und damit ihre bleibenden Erinnerungen ernsthaft beeinträchtigt wurden. Tieren hat man die Hälfte ihres Gehirns abgetrennt, ohne daß das, was sie gelernt hatten, wesentlich beeinträchtigt wurde. Das Gedächtnis scheint nicht nur auf einen Teil des Gehirns beschränkt zu sein, sondern es scheint auch andere Bahnen benutzen zu können oder eine „dreidimensionale“ Lage im Gehirn zu haben. Das ist ein wirklicher Schutz.
Man darf nicht vergessen, daß der Geist nicht unabhängig funktioniert. Der ganze Körper trägt zu seiner Funktion bei. Alle Organe des Körpers hängen wechselseitig miteinander zusammen, und das in Übereinstimmung mit der biblischen Erklärung, daß der Mensch eine Einheit ist, eine Seele (1. Mose 2:7; 1. Kor. 12:14-20). Jedes Organ wirkt sich auf die Persönlichkeit aus. Das Gehirn erhält seinen Aufschluß durch die Sinnesorgane. Diese Sinnesorgane sind für die Funktion des Gehirns unerläßlich. Sie ermöglichen auch eine „Rückkoppelung“, ohne die das Gehirn nur geringen praktischen Nutzen hätte. Wenn du eine Frucht, zum Beispiel einen Pfirsich, aufhebst, teilt das Auge dem Gehirn Stellung, Richtung und Geschwindigkeit deiner Hand mit, wobei ständig Korrekturen vorgenommen werden. Dein Tastsinn läßt das Gehirn wissen, wann die Finger den Pfirsich berühren und wie fest sie zugreifen — fest genug, um ihn zu halten aber nicht so fest, daß er zerdrückt würde. Gleichzeitig fangen in Erwartung des Genusses der Speichel und andere Verdauungssäfte an zu fließen.
Den Geist schulen
Welche Faktoren spielen bei der Schulung des Geistes eine Rolle? Ein wichtiger Faktor ist die Sprache. Sie ist dem Gedächtnis eine große Hilfe, und durch sie ist es viel leichter, sich an gelernte Dinge zu erinnern. Schon der Aufbau des Gehirns läßt die Bedeutung der Verwendung der Sprache erkennen. Eine ungewöhnlich große Hirnregion dient der Kontrolle des Gesichtsausdruckes, besonders der Bewegungen des Mundes, der Zunge und der Lippen. Die Sprache hilft dem Geist, viele Informationen in kompakter Form zu speichern. Wörter sind „verschlüsselte“ Informationen. Denke an all die Bedeutungen und Gedankenverbindungen, die einem bei der Erwähnung des Wortes „Haus“ einfallen.
Folglich wird unser Geist durch den Gebrauch der Sprache geschult. Wenn wir eine gute Sprache und ausdrucksvolle Worte verwenden und vulgäre oder obszöne Ausdrücke vermeiden, werden wir in unserem Gedächtnis eine „Bibliothek“ einrichten, die uns von Nutzen sein wird (Eph. 4:29; Kol. 3:8, 9).
Von größter Wichtigkeit für die Schulung unseres Geistes ist unsere Einstellung. Sie ist zu einem großen Teil dafür verantwortlich, was sich in unserem Langzeitgedächtnis einprägt. Wenn wir ausschließlich Dinge lieben die den Geist lediglich unterhalten, werden wir vielleicht nie über den geistigen Stand eines Zwölfjährigen hinwegkommen. Wir werden dann in unserem Gedächtnis nicht die Dinge haben, die unser Geist benötigt, um durch richtige Gedankenverbindungen in wichtigen Angelegenheiten des Lebens zu ernsthaften Schlußfolgerungen zu kommen. Wenn wir unsere Vorliebe und Aufmerksamkeit auf unwesentliche oder erniedrigende Dinge konzentrieren, wird unser Gedächtnis mit „Schund“ angefüllt, und mehr als Schund werden wir dann auch nicht herausholen können.
Die Wiederholung guter oder schlechter Gespräche oder Handlungen prägt den „Geist“ oder die vorherrschende Neigung eines Menschen. Doch selbst wenn wir unseren Geist nicht geschult haben oder uns viel mit schlechten Dingen beschäftigt haben, sollten wir nicht verzweifeln. Es ist nicht zu spät, etwas zu unternehmen, um eine Änderung herbeizuführen, ganz gleich, wie alt wir sind. Der Apostel Paulus sagte, daß wir in dem „Geist“ oder in der vorherrschenden Einstellung, die unseren Sinn antreibt, erneuert werden können und daß wir „die neue Persönlichkeit anziehen“ können (Eph. 4:23, 24, Kingdom Interlinear Translation). Wenn wir aufrichtig Gottes Wort, die Bibel, studieren, wird uns Gott auch helfen. Wenn wir über das, was wir lernen, nachdenken und es anwenden, wird unser Geist zur Tätigkeit angeregt, und das wird uns glücklich und unser Leben sinnvoll machen.
Diese Gedanken bringen einen unweigerlich zu einer Besonderheit des menschlichen Geistes, deren Wirkungsweise Wissenschaftler bei der Erforschung des Gehirns nicht beobachten konnten, deren Vorhandensein aber viele zugeben. Das ist die Religiosität des Menschen, sein Bedürfnis, ein Verhältnis zu Gott herzustellen. Ja, der Geist wurde mit dieser Fähigkeit erschaffen (1. Mose 1:26). Alle Menschen haben das Verlangen, etwas anzubeten, und sogar die Bemühungen atheistischer Regierungen, dieses Bedürfnis zu unterdrücken, sind gescheitert. Wird diese Fähigkeit nicht ausgenutzt oder dieses Bedürfnis nicht befriedigt, so kann der Mensch nicht glücklich sein. Jesus Christus wiederholte, was Gott der alten Nation Israel gesagt hatte: „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jeder Äußerung, die durch den Mund Jehovas ausgeht“ und: „Jehova, deinen Gott, sollst du anbeten, und ihm allein sollst du heiligen Dienst darbringen“ (Matth. 4:4; Luk. 4:8; 5. Mose 6:13; 8:3; 10:20).
Wenn der Geist also nicht die Gedanken Gottes in sich aufnimmt, kann er seine Aufgabe nicht völlig seiner Bestimmung gemäß erfüllen. Und arbeitet der Geist nicht richtig, so wird die gesamte Person davon betroffen, und das hat verhängnisvolle Folgen (Jak. 1:13-15). Doch wir können unseren Geist neugestalten, so daß er auf die Weise wirkt, wie es der Schöpfer vorgesehen hat (Röm. 12:2). Wenn wir das tun, werden wir in unserem Leben große Befriedigung finden.
[Diagramm auf Seite 16]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Eine Seite des Großhirns. Zur Steuerung von Mund, Zunge und Händen wird der größte Teil des Gehirngewebes beansprucht.
FUSS
BEIN
RUMPF
HAND
AUGE
NASE
MUND
ZUNGE
[Bilder auf Seite 17]
Das, womit man sich beschäftigt, wird in der Bibliothek des Gedächtnisses aufbewahrt. Welche Bibliothek würdest du vorziehen, um eine zuverlässige Anleitung zu erhalten?
[Bild auf Seite 19]
Wenn wir einen Gegenstand betrachten, sieht ihn unser Gehirn nicht als Ganzes. Tausende von Nervenzellen in der Netzhaut übermitteln dem Gehirn das Bild in verschlüsselten Teilinformationen, in einer Art Mosaikmuster.