Der Standpunkt der Bibel
Darf ein Christ Geschworener oder Schöffe sein?
VIELE Leute erwarten von den Gerichten oder der Rechtspflege Gerechtigkeit. In Ländern, deren Recht auf dem sogenannten „Civil Law“, dem römischen Recht, beruht (Europa und Lateinamerika), werden die Rechtsfälle — sowohl Strafprozesse als Zivilprozesse — gewöhnlich von einem einzelnen Berufsrichter oder von mehreren solchen Richtern behandelt und beurteilt. Allerdings gibt es in der BRD und in West-Berlin auch die Beteiligung von Laien an der Strafrechtspflege, und zwar als Geschworene bei den Schwurgerichten und als Schöffen bei den Schöffengerichten. Ein besonderes Merkmal der „Common-Law“-Länder (in denen das anglo-amerikanische Recht Gültigkeit hat) sind die Geschworenengerichte, die sich aus einfachen Bürgern zusammensetzen. Ein aus ungefähr 12 Geschworenen bestehendes Gericht behandelt den Fall und entscheidet die Schuldfrage. Je nach der Art des Falles setzt der Richter dann die Strafe fest.
Wer in einem Land wohnt, dessen Bürger verpflichtet sind, als Geschworene oder Schöffen zu amtieren, mag sich fragen: Darf ein Christ Geschworener oder Schöffe sein? Aber selbst für den, der in einem Land wohnt, wo es keine solchen Geschworenen oder Schöffen gibt, kann es nützlich sein, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, denn einige der biblischen Grundsätze, um die es dabei geht, können auch Anwendung finden, wenn man gebeten wird, einen Streit am Arbeitsplatz zu „entscheiden“ oder Händel zwischen Nachbarn zu „schlichten“.
Wozu sind Christen verpflichtet?
Das Amt eines Geschworenen oder Schöffen wird oft als eine Pflicht bezeichnet, deren Erfüllung jedem Bürger zugemutet werden kann. Unter anderem wird wie folgt argumentiert: Da alle Bürger von den Gerichten einen Nutzen haben, sollten sie bereit sein, als Geschworene oder Schöffen zu amtieren, ähnlich wie alle Bürger von den Diensten, die ihnen die übrigen staatlichen Einrichtungen leisten, profitieren und sie deshalb dafür Steuern zahlen sollten.
Diese Auffassung ist für jeden Christen von Interesse, wenn man bedenkt, was der Apostel Paulus über die „obrigkeitlichen Gewalten“ schrieb. Paulus gab den Rat: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam ... Sie [die staatliche Gewalt] steht im Dienst Gottes und verlangt, daß du das Gute tust. ... Gebt allen, was ihr schuldig seid, sei es Steuer, Zoll, Furcht oder Ehre“ (Röm. 13:1-7, Einheitsübersetzung).
Natürlich erwähnte Paulus das Amtieren als Geschworener oder Schöffe nicht, denn unter der römischen Herrschaft waren Schwurgerichte, wie sie heute in den Ländern mit angelsächsischem Recht existieren, unbekannt. Von einigen wird jedoch die Auffassung vertreten, daß der Staat unsere Zeit „besteuert“, wenn er verlangt, daß jeder qualifizierte Bürger für kurze Zeit als Geschworener amtiert. Es ist bemerkenswert, daß das Amt des Geschworenen fast überall nicht mit irgendwelchen politischen Tätigkeiten verbunden ist, was ein Christ wegen seiner neutralen Stellung ablehnen müßte (Joh. 15:19; Jes. 2:1-4; Apg. 5:29). Einige Christen sind deshalb zu dem Schluß gekommen, daß sie das Amt eines Geschworenen oder Schöffen annehmen dürfen.
Andere Christen dagegen haben anders entschieden. Im Jahre 1966 gab das Oberste Berufungsgericht von West Virginia einem Christen recht, der es ablehnte, als Geschworener zu amtieren. In der Urteilsbegründung hieß es:
„Er erklärte, als Geschworener amtieren zu müssen würde seine Gewissensfreiheit verletzen und er besitze aufgrund seines religiösen Glaubens die Autorität, innerhalb seiner Gemeinde zu richten oder zu entscheiden, aber er sei nicht befugt, das außerhalb seiner Gemeinde zu tun, und er zitierte Texte aus der Bibel, um seinen Standpunkt zu untermauern“ (West Virginia gegen Everly).
Was für Bibeltexte er wohl zitiert haben mag? Der eine oder andere hat die Worte Jesu, die in Matthäus 7:1, 2 zu finden sind, angeführt: „Hört auf zu richten, damit ihr nicht gerichtet werdet; denn mit dem Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.“ Aus dem Kontext ist jedoch zu erkennen, daß Jesus von einem persönlichen oder privaten Richten sprach, wie dem Kritisieren von Gewohnheiten oder der Vorliebe, die ein Mensch hat (Röm. 14:1-4, 10). Ein Prediger kann aber auch ohne weiteres Lukas 12:13, 14 und 1. Korinther 5:12 bis 6:8 anführen.
Im ersten Text wird berichtet, daß ein Jude Jesus bat, einen Erbstreit zu schlichten. Christus lehnte das ab, indem er sagte: „Wer hat mich zum Richter oder Erbteiler über euch gesetzt?“ Die Gemeinde Israel besaß ein Erbrecht, und es waren Älteste eingesetzt, die Erbstreitigkeiten schlichteten. Jesus war nicht zur Erde gesandt worden, um solche Händel zu schlichten, sondern er sollte seine Zeit zum Predigen der guten Botschaft vom Königreich verwenden.
Der zweite Text berichtet über einen Fall, der sich in der Korinther Versammlung zugetragen hatte. Paulus wies die Brüder an, den Missetäter auszuschließen. Dann fügte er hinzu: „Denn was habe ich damit zu tun, die, die draußen sind, zu richten? Richtet ihr nicht die, die drinnen [in der Gemeinde] sind, während Gott die richtet, die draußen sind?“ Er sagte außerdem, daß Christen es sogar vermeiden sollten, ihre Klagen oder Streitigkeiten vor ein weltliches Gericht zu bringen.
Dieser biblische Rat sollte Christen klarmachen, daß sie sich nicht ohne weiteres mit den persönlichen Angelegenheiten anderer, insbesondere mit den Angelegenheiten von Personen außerhalb der Versammlung, befassen sollten. Und man kann verstehen, warum der erwähnte Christ in West Virginia zu dem Schluß kam, daß er seine Bemühungen, „zu richten oder zu entscheiden“, auf die Versammlung beschränken und daher nicht als Geschworener eines weltlichen Gerichts amtieren sollte.
Der eine oder andere Christ hat auch über die Fälle nachgedacht, die Geschworene manchmal zu beurteilen haben. In gewissen Gegenden kann oder muß jemand, der ein bestimmtes Verbrechen verübt hat, mit dem Tode bestraft werden. Aus der Bibel geht zwar hervor, daß der Staat das Recht hat, einen Mörder hinzurichten, doch derjenige, der aufgefordert wird, als Geschworener zu amtieren, mag anzweifeln, daß er allein aufgrund der Sachlage, die bei der Gerichtsverhandlung zutage gefördert wird, entscheiden könnte (1. Mose 9:5, 6). Oder bei dem zu beurteilenden Fall könnte es sich um Abtreibung, Ehescheidung, Erziehungsgewalt der Eltern oder um eine andere Frage handeln, in der sich der Christ an Gottes in der Bibel niedergelegte Grundsätze halten würde, selbst wenn das Gesetz des Landes anders lautet. Er könnte deshalb schwerlich erklären, streng nach den staatlichen Gesetzen entscheiden zu wollen, wenn er zum Geschworenen oder Schöffen berufen wird.
Folgendes Erlebnis einer Krankenschwester in Texas zeigt ein weiteres Problem auf. Ein junger Mann, der Sohn einer prominenten Familie, war angeklagt, einen anderen jungen Mann totgeschlagen zu haben. Bei diesem Fall mußte sie als Geschworene amtieren. Während des Prozesses erinnerte sie sich daran, daß sie im Krankenhaus Röntgenaufnahmen des Opfers gesehen hatte, doch diese wurden vor Gericht nicht als Beweismittel zugelassen. Im Gegensatz zu den übrigen Geschworenen konnte sie die Behauptung, der junge Mann habe sich bei einem Sturz verletzt, nicht akzeptieren. Die anderen Geschworenen versuchten jedoch, sie dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen, um zu vermeiden, daß wegen Uneinigkeit der Geschworenen der Prozeß noch einmal aufgerollt werden mußte. Die Krankenschwester, die mit Jehovas Zeugen die Bibel studiert hatte, widerstand dem Drängen mehrere Tage. Doch schließlich erklärte sie sich bereit, für Freispruch zu stimmen. Obschon seither viele Jahre vergangen sind, empfindet sie immer noch Gewissensbisse; sie hat das Gefühl, an einem Justizirrtum mitschuldig zu sein. Könnte nicht auch auf einem anderen Gebiet ein solches Problem für einen christlichen Geschworenen oder Schöffen entstehen? Daran sollte man denken.
Wie sollte man nun handeln? Einige Christen haben es abgelehnt, als Geschworener oder Schöffe zu amtieren, indem sie den Behörden gegenüber geltend gemacht haben, daß es doch unklug wäre, jemand zu zwingen, bei einem Prozeß mitzuwirken, dann aber ein uneiniges Schwurgericht oder Schöffengericht zu haben, weil der Betreffende nicht bereit wäre, jemanden schuldig zu sprechen (1. Petr. 3:16). Andere Christen dagegen haben das Amt angenommen, aber darum gebeten, bei Fällen suspendiert zu werden, in denen ihre von der Bibel beeinflußte Auffassung von dem weltlichen Gesetz abweicht. Andere wiederum haben die Berufung zum Geschworenen oder Schöffen angenommen, weil sie der Meinung sind, der Staat habe das Recht, von seinen Bürgern die Erfüllung dieser Aufgabe zu verlangen (Matth. 22:21). Da in der Bibel nichts Direktes über das Amt eines Geschworenen oder Schöffen gesagt wird, muß jeder selbst entscheiden, ob er es annehmen möchte oder nicht, nachdem er alles, was damit zusammenhängt, erwogen und dabei auch die biblischen Grundsätze und sein Gewissen berücksichtigt hat.