Kapitel 11
Abtrünnigkeit — Der Weg zu Gott blockiert
1, 2. (a) Wieso sind die ersten 400 Jahre der Geschichte der Christenheit wichtig? (b) Welche Wahrheit äußerte Jesus hinsichtlich einer Wahl, die zu treffen ist?
WIESO sind die ersten 400 Jahre der Geschichte der Christenheit so wichtig? Aus demselben Grund, warum die ersten Lebensjahre eines Kindes wichtig sind. In diesen Jahren wird nämlich die Grundlage für die zukünftige Persönlichkeit des Kindes gelegt. Was offenbaren die ersten Jahrhunderte der Christenheit?
2 Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir uns die folgende Wahrheit in den Sinn zurückrufen, die Jesus Christus äußerte: „Geht ein durch das enge Tor; denn breit und geräumig ist der Weg, der in die Vernichtung führt, und viele sind es, die auf ihm hineingehen; doch eng ist das Tor und eingeengt der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden.“ Der Weg des Eigennutzes ist breit, doch der Weg der gerechten Grundsätze ist eng (Matthäus 7:13, 14).
3. Zwischen welchen zwei Wegen mußten sich Christen entscheiden, als sich das Christentum in seinem Anfangsstadium befand?
3 Als sich das Christentum in seinem Anfangsstadium befand, mußten sich diejenigen, die diesen unpopulären Glauben annahmen, zwischen zwei Wegen entscheiden: entweder kompromißlos an den Lehren und den Grundsätzen Christi und denen der Heiligen Schrift festzuhalten oder sich dem breiten und leichten Weg zuzuwenden und mit der damaligen Welt Kompromisse zu schließen. Wie wir sehen werden, läßt der Geschichtsbericht über die ersten 400 Jahre erkennen, welchen Weg die meisten einschlugen.
Die Verführung durch die Philosophie
4. Welchen Einfluß übte gemäß dem Historiker Durant das heidnische Rom auf die junge Kirche aus?
4 Der Historiker Will Durant erklärt: „Die Kirche [übernahm] einige im vorchristlichen Rom gebräuchliche religiöse Bräuche und Kultformen ...: die Stola und andere Kleidungsstücke heidnischer Priester, den Gebrauch von Weihrauch und Weihwasser bei Reinigungszeremonien, die Kerzen und das Ewige Licht vor dem Altar, den Heiligenkult, die Architektur der Basilika, das römische Recht als Grundlage des kanonischen Rechtes, den Titel des Pontifex Maximus für den Papst und im vierten Jahrhundert die lateinische Sprache ... Bald hatten die Bischöfe, und nicht mehr die römischen Praefecten, in den Städten die Macht inne; die Metropoliten oder Erzbischöfe unterstützten — wenn sie sie nicht ersetzten — die römischen Provinzstatthalter, und die Synode der Bischöfe sollte bald an die Stelle der Provinzversammlungen treten. Die römische Kirche folgte den Fußstapfen des römischen Staates“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 5: Weltreiche des Glaubens).
5. In welchem Gegensatz stand die Bereitschaft, mit der heidnischen römischen Welt Kompromisse zu schließen, zu dem, was einige der ersten Christen niederschrieben?
5 Diese Bereitschaft, mit der römischen Welt Kompromisse zu schließen, stand in scharfem Gegensatz zu den Lehren Christi und der Apostel. (Siehe Kasten, Seite 262.) Der Apostel Petrus gab folgende Empfehlung: „Geliebte, ... ich [wecke] ... durch Erinnerung euer klares Denkvermögen auf ..., damit ihr der zuvor von den heiligen Propheten geredeten Worte und des durch eure Apostel mitgeteilten Gebotes des Herrn und Retters gedenkt. Ihr daher, Geliebte, die ihr dies im voraus wißt, hütet euch, damit ihr nicht durch den Irrtum derer, die dem Gesetz trotzen, mit ihnen fortgerissen werdet und aus eurem eigenen festen Stand fallt.“ Paulus gab den deutlichen Rat: „Laßt euch nicht in ein ungleiches Joch mit Ungläubigen spannen. Denn welche Gemeinschaft besteht zwischen Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Teilhaberschaft hat Licht mit Finsternis? ... ‚ „Darum geht aus ihrer Mitte hinaus und sondert euch ab“, spricht Jehova, „und hört auf, das Unreine anzurühren“ ‘; ‚ „und ich will euch aufnehmen“ ‘ “ (2. Petrus 3:1, 2, 17; 2. Korinther 6:14-17; Offenbarung 18:2-5).
6, 7. (a) Inwiefern ließen sich die „Kirchenväter“ der frühen Kirche von der griechischen Philosophie beeinflussen? (b) Bei welchen Lehren war der griechische Einfluß besonders zu erkennen? (c) Welche Warnung gab Paulus in Verbindung mit der Philosophie?
6 Trotz dieser unmißverständlichen Ermahnung schmückten sich die abtrünnigen Christen des 2. Jahrhunderts mit dem „Putz“ der heidnischen römischen Religion. Sie wandten sich von der reinen biblischen Quelle ab und übernahmen heidnische römische Gewänder und Titel; außerdem wurde das Christentum mit griechischer Philosophie durchsetzt. Professor Wolfson von der Harvarduniversität erklärt gemäß dem Werk The Crucible of Christianity (Der Schmelztiegel des Christentums), daß im 2. Jahrhundert das Christentum einen großen Zustrom hatte von „Heiden, die der Philosophie kundig waren“. Sie bewunderten die Gelehrsamkeit der Griechen und glaubten zwischen der griechischen Philosophie und den Lehren der Bibel Gemeinsamkeiten zu erkennen. Professor Wolfson sagt weiter: „Einige von ihnen äußerten sich manchmal dem Sinne nach dahin gehend, daß die Philosophie ein besonderes Geschenk sei, das Gott den Griechen durch den Verstand gegeben habe, genauso wie er den Juden die Heilige Schrift durch direkte Offenbarung übermittelt habe.“ Dann fährt er fort: „Die Kirchenväter ... ließen sich darauf ein, systematisch zu beweisen, daß sich hinter der einfachen Sprache der Heiligen Schrift die Lehren der Philosophen verbärgen, eingebettet in den unklaren Spezialausdrücken, die in der Akademie, im Lyzeum und in der Stoa [griechischen Philosophenschule] geprägt worden seien.“
7 Aufgrund dieser Denkweise konnten die Lehren der Christenheit von der griechischen Philosophie und ihrer Terminologie beeinflußt werden; das traf besonders auf die Lehre von der Dreieinigkeit und auf den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zu. Wolfson äußert sich dazu folgendermaßen: „Die [Kirchen]väter begannen, in der Unmenge von philosophischen Fachausdrücken nach zwei speziellen Wörtern zu suchen, von denen das eine Wort ausdrücken sollte, daß jedes Glied der Dreieinigkeit in Wirklichkeit ein von den andern beiden sich unterscheidendes Einzelwesen ist, und das andere Wort, daß alle Glieder eigentlich eine Einheit bilden.“ Sie mußten aber zugeben, daß „die Vorstellung von einem dreieinigen Gott ein Geheimnis ist, das durch menschliche Vernunft nicht gelüftet werden kann“. Doch Paulus hatte die Gefahr einer solchen Verunreinigung und ‘Verdrehung der guten Botschaft’ deutlich erkannt, denn er schrieb an die Christen in Kolossä das Folgende: „Seht zu, daß nicht jemand da sei, der euch als Beute wegführe durch die Philosophie (griechisch: philosophías) und leeren Trug gemäß der Überlieferung der Menschen, gemäß den elementaren Dingen der Welt und nicht gemäß Christus“ (Galater 1:7-9; Kolosser 2:8; 1. Korinther 1:22, 23).
Die Auferstehungslehre aufgegeben
8. Welches Rätsel wollte der Mensch schon immer entwirren, und wie haben es die meisten Religionen zu lösen versucht?
8 Wie aus dem vorangegangenen Teil des Buches zu erkennen ist, wollte der Mensch schon immer das Rätsel seines kurzen und begrenzten, im Tode endenden Daseins entwirren. Gerhard Herm sagt diesbezüglich in seinem Buch Die Kelten. Das Volk, das aus dem Dunkel kam: „Religion ist unter anderem auch der Versuch, Gläubige damit auszusöhnen, daß sie sterben müssen. Das kann dadurch geschehen, daß ihnen ein besseres Dasein jenseits des Grabes versprochen wird oder eine Wiedergeburt oder beides.“ So gut wie jede Religion stützt sich auf den Glauben, daß die Menschenseele unsterblich ist und daß sie nach dem Tode irgendwo weiterlebt oder in ein anderes Geschöpf übersiedelt.
9. Welche Schlußfolgerung zog der spanische Gelehrte Miguel de Unamuno daraus, daß Jesus an die Auferstehung glaubte?
9 Heute glauben fast alle Religionsorganisationen der Christenheit an die Unsterblichkeit der Seele. Miguel de Unamuno, ein bekannter spanischer Gelehrter des 20. Jahrhunderts, schrieb über Jesus: „Er glaubte vielleicht wie die Juden an eine Wiederauferstehung des Fleisches [wie sich dies im Fall des Lazarus zeigt (siehe Seite 248—251)] und nicht wie [der Grieche] Plato an die Unsterblichkeit der Seele. ... Beweise dafür könnte man in jedem beliebigen exegetischen Werk aufrichtigen und ehrlichen Charakters finden.“ Der Schriftsteller fährt fort: „Die Unsterblichkeit der Seele ... ist ein Dogma der heidnischen Philosophie“ (Die Agonie des Christentums). Dieses „Dogma der heidnischen Philosophie“ durchsetzte die Lehre der Christenheit, obwohl Christus eine solche Auffassung niemals vertreten hatte (Matthäus 10:28; Johannes 5:28, 29; 11:23, 24).
10. Was war die Folge davon, daß man an die Unsterblichkeit der Seele glaubte?
10 Der heimtückische Einfluß der griechischen Philosophie spielte bei der Abtrünnigkeit, die nach dem Tod der Apostel einsetzte, eine entscheidende Rolle. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele machte verschiedene Bestimmungsorte der Seele erforderlich: den Himmel, das Höllenfeuer, das Fegefeuer, das Paradies und den Limbus.a Dadurch, daß eine Klasse von Geistlichen diese Lehren zu ihren Gunsten veränderte, war es für sie leicht, die Gläubigen unterwürfig zu halten, ihnen Angst vor dem Jenseits einzujagen sowie Geschenke und Geldspenden aus ihnen herauszupressen. Daraus ergibt sich die Frage: Wie ist in der Christenheit diese besondere Klasse der Geistlichkeit entstanden? (Johannes 8:44; 1. Timotheus 4:1, 2).
Wie sich die Klasse der Geistlichkeit entwickelte
11, 12. (a) Was war ein weiteres Zeichen von Abtrünnigkeit? (b) Welche Funktion hatten die Apostel und die Ältesten in Jerusalem inne?
11 Ein weiteres Zeichen von Abtrünnigkeit war, daß nicht mehr, wie Jesus und die Apostel es gelehrt hatten, alle Christen Prediger waren, sondern nur noch die Klasse der Geistlichkeit, die sich in der Christenheit entwickelt hatte (Matthäus 5:14-16; Römer 10:13-15; 1. Petrus 3:15). Im 1. Jahrhundert, nach Jesu Tod, erteilten seine Apostel zusammen mit anderen geistig befähigten christlichen Ältesten in Jerusalem der Christenversammlung Rat, und sie hatten die Leitung inne. Niemand von ihnen kam sich besser vor (Galater 2:9).
12 Im Jahre 49 u. Z. war es erforderlich, daß sie in Jerusalem zusammenkamen, um einige Streitpunkte zu klären, die alle Christen angingen. Aus dem Bibelbericht geht hervor, daß nach einer unvoreingenommenen Besprechung „es die Apostel und die älteren Männer [presbýteroi] zusammen mit der ganzen Versammlung für gut [befanden], Männer aus ihrer Mitte auszuwählen und sie mit Paulus und Barnabas nach Antiochia zu senden, ... und durch ihre Hand schrieben sie: ‚Die Apostel und die älteren Männer, Brüder, den Brüdern in Antiochia und Syrien und Zilizien, die aus den Nationen sind: Grüße!‘ “ Die Apostel und die Ältesten fungierten in den weit verbreiteten Versammlungen von Christen offensichtlich als maßgebendes Verwaltungsorgan (Apostelgeschichte 15:22, 23).
13. (a) Auf welche Weise wurde jede der frühchristlichen Versammlungen beaufsichtigt? (b) Welchen Erfordernissen mußten die Ältesten einer Versammlung entsprechen?
13 Diese leitende Gruppe in Jerusalem war zwar die frühchristliche Vorkehrung für die Aufsicht über alle Christen. Doch was für ein Führungssystem hatte jede Ortsversammlung? Aus dem Brief des Paulus an Timotheus geht hervor, daß in den Versammlungen Aufseher (griechisch: epískopos, das Wurzelwort für „episkopal“) dienten, die in geistigem Sinne Älteste (presbýteroi) waren, Männer, die durch ihren Lebenswandel und ihr Geistiggesinntsein bewiesen hatten, daß sie befähigt waren, ihre Glaubensbrüder zu lehren (1. Timotheus 3:1-7; 5:17). Im 1. Jahrhundert bildeten diese Männer keine besondere Klasse, keine Klasse der Geistlichkeit. Sie unterschieden sich nicht von anderen durch ihre Kleidung. Ihr Unterscheidungsmerkmal war ihr Geistiggesinntsein. Und in jeder Versammlung hatte nicht wie in einer Monarchie ein einziger Mann die Leitung inne, sondern eine Ältestenschaft (die Aufseher) (Apostelgeschichte 20:17; Philipper 1:1).
14. (a) Wie wurden die christlichen Aufseher schließlich durch die Bischöfe der Christenheit ersetzt? (b) Wer von den Bischöfen strebte nach dem Primat?
14 Erst nach einer gewissen Zeit wurde der Ausdruck epískoposb (Aufseher, Leiter) in „Bischof“ umgewandelt, ein Wort, das einen Geistlichen bezeichnet, der über die anderen Geistlichen seiner Diözese die Oberaufsicht führt. Der spanische Jesuit Bernardino Llorca erklärt: „Anfangs wurde zwischen den Bischöfen und den Presbytern kaum ein Unterschied gemacht, und man schenkte nur der Bedeutung der Wörter Beachtung: Bischof ist die Entsprechung von ‚Aufseher‘; Presbyter ist die Entsprechung von ‚älterer Mann‘. ... Doch nach und nach wurde zwischen beiden immer mehr unterschieden: die bedeutenderen Aufseher, die die höchste priesterliche Gewalt besaßen und die Befugnis hatten, die Hände aufzulegen und das Priesteramt zu übertragen, erhielten die Bezeichnung Bischof“ (Historia de la Iglesia Católica [Die Geschichte der katholischen Kirche]). Ja, die Bischöfe begannen ihr Amt in einer Art monarchischem System auszuüben, und zwar besonders vom Anfang des 4. Jahrhunderts an. Es entstand eine Hierarchie oder eine herrschende Klasse der Geistlichkeit, und mit der Zeit wurde der Bischof von Rom — er beanspruchte, der Nachfolger Petri zu sein — von vielen als der oberste Bischof und Papst anerkannt.
15. Welche Kluft existiert zwischen der Leitung in der frühen Christenversammlung und der Leitung in der Christenheit?
15 Heute ist die Stellung eines Bischofs in den verschiedenen Kirchen der Christenheit mit Ansehen und Macht verbunden. Bischöfe werden gut bezahlt und oft mit der Oberschicht, der herrschenden Klasse, einer Nation gleichgesetzt. Aber zwischen den Bischöfen, die auf ihren hohen Rang stolz sind, und den Ältesten oder Aufsehern der frühen Christenversammlung, die Christus unterstellt war, besteht ein gewaltiger Unterschied. Und was ist zu der Kluft zwischen Petrus und seinen sogenannten Nachfolgern zu sagen, die, von Luxus umgeben, im Vatikan geherrscht haben? (Lukas 9:58; 1. Petrus 5:1-3).
Die Macht und das Ansehen des Papstes
16, 17. (a) Wieso wissen wir, daß die frühe Christenversammlung in Rom keinem Bischof oder Papst unterstand? (b) Wie kam es zu dem Titel „Papst“?
16 Zu den ersten Versammlungen, die die Leitung der Apostel und der Ältesten in Jerusalem akzeptierten, gehörte die Versammlung in Rom. Die christliche Wahrheit erreichte diese Stadt wahrscheinlich kurz nach Pfingsten des Jahres 33 u. Z. (Apostelgeschichte 2:10). Wie damals in allen Versammlungen der Christen gab es in der Versammlung in Rom Älteste, die als Körperschaft als Aufseher dienten; niemand führte die Oberaufsicht. Mit Sicherheit wurde kein Aufseher dieser Versammlung von seinen Zeitgenossen als Bischof oder als Papst betrachtet, denn es gab in Rom noch kein monarchisches Episkopat. Der genaue Zeitpunkt, wann sich das monarchische Episkopat — ein Episkopat mit einem Mann an der Spitze — zu entwickeln begann, ist schwer zu bestimmen. Vieles weist jedoch auf das 2. Jahrhundert hin (Römer 16:3-16; Philipper 1:1).
17 Der Titel „Papst“ (abgeleitet von dem griechischen Wort pápas, Vater) wurde in den ersten zwei Jahrhunderten nicht verwendet. Der ehemalige Jesuit Michael Walsh erklärt: „Der Bischof von Rom wurde anscheinend im 3. Jahrhundert zum erstenmal ‚Papst‘ genannt, und zwar verlieh man Papst Kalixt I. den Titel ... Gegen Ende des 5. Jahrhunderts war gewöhnlich mit dem Ausdruck ‚Papst‘ ausschließlich der Bischof von Rom gemeint. Allerdings erst im 11. Jahrhundert konnte ein Papst den Titel für sich allein beanspruchen“ (An Illustrated History of the Popes).
18. (a) Wer war einer der ersten Bischöfe von Rom, die ihrer Macht Geltung verschafften? (b) Worauf stützt der Papst seinen Primat? (c) Wie ist Matthäus 16:18, 19 zu verstehen?
18 Einer der ersten Bischöfe von Rom, die ihrer Macht Geltung verschafften, war Papst Leo I. (Papst von 440 bis 461 u. Z.). Michael Walsh fährt fort: „Leo eignete sich den einst heidnischen Titel Pontifex maximus an, einen Titel, den noch heute die Päpste innehaben und der bis gegen Ende des 4. Jahrhunderts von den römischen Kaisern getragen wurde.“ Leo I. stützte sich dabei auf die katholische Auslegung der Worte Jesu aus Matthäus 16:18, 19. (Siehe Kasten, Seite 268.) Er „erklärte, daß der Kirche des heiligen Petrus eine Vorrangstellung eingeräumt werden sollte, denn der heilige Petrus sei der Erste unter den Aposteln gewesen“ (Man’s Religions). Dadurch machte er deutlich, daß der Kaiser in dem im Osten gelegenen Konstantinopel zwar die weltliche Macht besaß, er aber in dem im Westen befindlichen Rom die geistliche Macht. Diese wurde auch dadurch demonstriert, daß Papst Leo III. im Jahre 800 u. Z. Karl den Großen zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches krönte.
19, 20. (a) Als was wird der Papst in der heutigen Zeit betrachtet? (b) Wie lauten einige offizielle Titel des Papstes? (c) Welcher Unterschied besteht zwischen dem Verhalten des Papstes und dem Verhalten des Petrus?
19 Seit 1929 betrachten die weltlichen Regierungen den Papst von Rom als Herrscher eines souveränen Staates, der Vatikanstadt. Die katholische Kirche kann also wie keine andere Religionsorganisation zu allen Staatsregierungen in der Welt diplomatische Vertreter — Nuntien — entsenden (Johannes 18:36). Dem Papst wurden viele Titel verliehen, unter anderem Stellvertreter Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, Oberhaupt der allgemeinen Kirche, Patriarch des Abendlandes, Primas von Italien und Souverän des Staates der Vatikanstadt. Er wird mit Pomp und feierlichem Zeremoniell umhergetragen, und man erweist ihm die einem Staatsoberhaupt gebührende Ehre. Man beachte jedoch, wie im Gegensatz dazu Petrus — angeblich der erste Papst und Bischof von Rom — reagierte, als ihm der römische Zenturio Kornelius zu Füßen fiel und ihm huldigte: „Petrus ... hob ihn auf und sprach: ‚Steh auf; ich selbst bin auch ein Mensch‘ “ (Apostelgeschichte 10:25, 26; Matthäus 23:8-12).
20 Es entsteht nun die Frage: Auf welche Weise gelangte die abtrünnige Kirche der ersten Jahrhunderte zu so großer Macht und zu so großem Ansehen? Wie kam es, daß die Einfachheit und die Demut Christi und die der ersten Christen dem Pomp und dem Stolz der Christenheit wichen?
Die Grundlage der Christenheit
21, 22. Welcher große Wechsel soll angeblich im Leben Konstantins eingetreten sein, und wie nutzte er dies aus?
21 Der Wendepunkt für diese neue Religion des Römischen Reiches trat 313 u. Z. ein, an dem Tag, als Kaiser Konstantin angeblich zum „Christentum“ bekehrt wurde. Wie kam diese Bekehrung zustande? Im Jahre 306 u. Z. folgte Konstantin seinem Vater auf den Thron und wurde nach einiger Zeit im Römischen Reich der Mitregent des Licinius. Er stand unter dem Einfluß seiner Mutter, die eine ergebene Christin war; auch war er davon überzeugt, daß er göttlichen Schutz genoß. Ehe er im Jahre 312 u. Z. in die Schlacht an der Milvischen Brücke nahe bei Rom zog, behauptete er, daß ihm in einem Traum befohlen worden sei, das „christliche“ Monogramm — die griechischen Buchstaben Chi und Rho, die ersten beiden Buchstaben des Namens Christi in Griechisch — auf die Schilde seiner Soldaten zeichnen zu lassen.c Mit diesem „heiligen Talisman“ bezwangen Konstantins Streitkräfte seinen Feind Maxentius.
22 Kurz nach dem Sieg behauptete Konstantin, daß er gläubig geworden sei (obwohl er erst 24 Jahre später, kurz vor seinem Tod, getauft wurde). Danach verschaffte er sich die Unterstützung derjenigen in seinem Reich, die sich zum Christentum bekannten, indem „er [die griechischen Buchstaben] Chi und Rho [ ] zu seinem Emblem machte ... Die Ligatur [Buchstabenverbindung] Chi-Rho war jedoch schon in christlichen und in heidnischen Texten verwendet worden“ (The Crucible of Christianity [Der Schmelztiegel des Christentums], herausgegeben von Arnold Toynbee).
23. (a) Wann nahm gemäß den Worten eines Publizisten die Christenheit ihren Anfang? (b) Wieso kann gesagt werden, daß Christus nicht der Gründer der Christenheit war?
23 Auf diese Weise wurde die Grundlage für die Christenheit gelegt. Der englische Publizist Malcolm Muggeridge schrieb diesbezüglich in seinem Buch The End of Christendom (Das Ende der Christenheit): „Die Christenheit nahm mit Kaiser Konstantin ihren Anfang.“ Er machte aber auch folgende scharfsinnige Bemerkung: „Vielleicht kann man sogar sagen, daß Christus der Christenheit, schon ehe sie begann, eine Absage erteilte, indem er sagte, sein Königreich sei kein Teil der Welt. Das war einer seiner weitreichendsten und bedeutendsten Aussprüche.“ Und diese Äußerung wird von den religiösen und den politischen Führern der Christenheit am wenigsten beachtet (Johannes 18:36).
24. Welche Änderung trat mit Konstantins „Bekehrung“ in der Kirche ein?
24 Mit der Unterstützung Konstantins wurde die Religion der Christenheit die offizielle Staatsreligion Roms. Elaine Pagels, Professorin für Religion, erklärt: „Die christlichen Bischöfe — einst Opfer von Festnahmen, Mißhandlungen und Hinrichtungen — wurden nun von der Steuerpflicht befreit, erhielten Geschenke aus dem Staatsschatz, genossen Ansehen und gewannen sogar Einfluß bei Hofe; ihre Kirchen gelangten zu neuem Reichtum und zu Macht, und sie nahmen an Bedeutung zu.“ Sie waren die Freunde des Kaisers geworden, die Freunde der römischen Welt (Jakobus 4:4).
Konstantin, Ketzerei und Rechtgläubigkeit
25. (a) Worüber wurden in den Tagen Konstantins heftige Debatten geführt? (b) Welche Auffassung hatte man vor dem 4. Jahrhundert von dem Verhältnis Christi zu seinem Vater?
25 Warum war die „Bekehrung“ Konstantins von so großer Bedeutung? Weil er als Kaiser auf die Angelegenheiten der lehrmäßig gespaltenen „christlichen“ Kirche einen maßgeblichen Einfluß hatte, und er wollte, daß sein Reich geeint war. Damals führten die griechisch- und die lateinischsprechenden Bischöfe heftige Debatten über „das Verhältnis zwischen dem ‚Wort‘ oder ‚Sohn Gottes‘, verkörpert in Jesus, und ‚Gott‘ selbst, der jetzt als ‚der Vater‘ bezeichnet wurde — sein Name Jahwe war allgemein in Vergessenheit geraten“ (The Columbia History of the World). Einige vertraten den biblisch gestützten Standpunkt, daß Christus, der Lógos, erschaffen worden und deshalb dem Vater unterstellt sei (Matthäus 24:36; Johannes 14:28; 1. Korinther 15:25-28). Zu ihnen gehörte Arius, ein Priester in Alexandria (Ägypten). R. P. C. Hanson, Professor der Theologie, sagte diesbezüglich: „Vor dem Ausbruch des arianischen Streits [im 4. Jahrhundert] gab es in der östlichen und der westlichen Kirche keinen Theologen, der nicht in gewissem Sinne den Sohn als dem Vater untergeordnet betrachtete“ (The Search for the Christian Doctrine of God).
26. Wie stand es Anfang des 4. Jahrhunderts um die Dreieinigkeitslehre?
26 Andere sahen diese Ansicht als ketzerisch an und wandten sich mehr der Anbetung Jesu als „Gottmensch“ zu. Professor Hanson sagt aber, daß die betreffende Periode (das 4. Jahrhundert) „keine Zeit war, in der eine allgemein anerkannte, festgelegte Lehre [von der Trinität] gegen die Angriffe der Ketzer [Arianer] geschützt wurde. Hinsichtlich des Punktes, um den es in den Diskussionen hauptsächlich ging, gab es noch keine orthodoxe Lehre.“ Er fährt fort: „Alle Parteien glaubten, daß sie die Heilige Schrift als Grundlage hätten, und jede sagte, die anderen seien nicht rechtgläubig und hielten sich nicht an die Tradition und die Bibel.“ Die religiösen Führer waren sich in dieser theologischen Streitfrage gänzlich uneinig (Johannes 20:17).
27. (a) Wodurch versuchte Konstantin die Debatte um die Natur Jesu zu beendigen? (b) War die Kirche auf dem Konzil von Nizäa gut vertreten? (c) Waren mit der Formulierung des Nizäischen Glaubensbekenntnisses die Streitigkeiten um die sich entwickelnde Dreieinigkeitslehre zu Ende?
27 Konstantin wollte, daß in seinem Reich Einheit herrschte. Deshalb berief er im Jahre 325 u. Z. ein Konzil nach Nizäa ein — die Stadt lag im östlichen, griechischsprachigen Teil seines Reiches, von der neuen Stadt Konstantinopel aus auf der anderen Seite des Bosporus. Es heißt, daß zwischen 250 und 318 Bischöfe, nur eine Minderheit, am Konzil teilnahmen und daß die meisten aus dem griechischsprachigen Gebiet kamen. Selbst Papst Silvester I. war nicht anwesend.d Nach heftigen Debatten wurde auf diesem nicht repräsentativen Konzil das Nizäische Glaubensbekenntnis formuliert, das sehr von trinitarischem Gedankengut beeinflußt war. Die Streitigkeiten um die Dreieinigkeitslehre waren aber damit nicht zu Ende. Die Rolle des heiligen Geistes Gottes in dieser Lehre war noch immer nicht klar. Die hitzigen Debatten hielten jahrzehntelang an, und um schließlich in dieser Hinsicht Einigkeit zu erzielen, waren die Einberufung weiterer Konzilien, die Autorität verschiedener Kaiser und die Verbannung als Strafmaßnahme erforderlich. Die Theologie gewann einen Sieg, während diejenigen, die sich an die Bibel hielten, eine Niederlage hinnehmen mußten (Römer 3:3, 4).
28. (a) Was waren einige Folgen davon, daß die Dreieinigkeit gelehrt wurde? (b) Wieso gibt es für die Verehrung Marias als „Mutter Gottes“ keine biblische Grundlage?
28 Aufgrund der Dreieinigkeitslehre, die unter anderem besagt, daß Christus Gott sei, geriet der eine wahre Gott, Jehova, im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit.e Da gemäß dieser Theologie Jesus ein Gottmensch war, war die nächste logische Schlußfolgerung, daß Jesu Mutter Maria die „Mutter Gottes“ war. Mit der Zeit führte diese Auffassung dazu, daß Maria auf die verschiedenste Weise verehrt wurde, und das, obwohl ihr in keiner Bibelstelle irgendeine bedeutende Rolle zugewiesen wird, ausgenommen die Rolle der demütigen leiblichen Mutter Jesuf (Lukas 1:26-38, 46-56). Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte die katholische Kirche die Lehre von der Mutter Gottes weiter und schmückte sie aus, und die Folge davon ist, daß die Katholiken Maria viel mehr verehren als Gott.
Die Spaltungen in der Christenheit
29. Vor welcher Entwicklung warnte Paulus?
29 Ein weiteres Merkmal der Abtrünnigkeit ist, daß sie zu Spaltungen und Zersplitterung führt. Der Apostel Paulus hatte folgendes vorhergesagt: „Ich weiß, daß nach meinem Weggang bedrückende Wölfe bei euch eindringen und die Herde nicht schonen werden, und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen und verdrehte Dinge reden, um die Jünger hinter sich her wegzuziehen.“ Paulus hatte den Korinthern deutlichen Rat erteilt, als er zu ihnen sagte: „Nun ermahne ich euch, Brüder, durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus, daß ihr alle übereinstimmend redet und daß keine Spaltungen unter euch seien, sondern daß ihr in demselben Sinn und in demselben Gedankengang fest vereint sein mögt.“ Trotz der Ermahnung des Paulus wurzelten sich bald Abtrünnigkeit und Spaltungen ein (Apostelgeschichte 20:29, 30; 1. Korinther 1:10).
30. Welche Situation entwickelte sich schon bald in der jungen Kirche?
30 Wenige Jahrzehnte nach dem Tod der Apostel machten sich unter den Christen bereits Spaltungen bemerkbar. Will Durant erklärt: „Celsus [ein Gegner des Christentums aus dem 2. Jahrhundert] selbst hatte die sarkastische Bemerkung gemacht, die Christen seien in unzählige Gruppen aufgespalten, und jeder einzelne wolle seine eigene Partei haben. Um 187 zählte Irenaeus zwanzig Abarten des Christentums auf; um 384 nannte Epiphanius deren achtzig“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 5: Weltreiche des Glaubens).
31. Wie kam es in der katholischen Kirche zu einer größeren Spaltung?
31 Konstantin bevorzugte die östliche, griechische Seite seines Reiches und ließ deshalb dort, wo heute die Türkei liegt, eine riesige neue Hauptstadt bauen. Diese nannte er Konstantinopel (das heutige Istanbul). Die Folge war, daß sich die katholische Kirche im Laufe der Jahrhunderte sprachlich und geographisch spaltete: in das lateinischsprachige Rom im Westen und das griechischsprachige Konstantinopel im Osten.
32, 33. (a) Welche weiteren Streitpunkte gab es in der Christenheit? (b) Was sagt die Bibel über den Gebrauch von Bildern bei der Anbetung?
32 Debatten über die noch nicht vollentwickelte Dreieinigkeitslehre waren der Einheit nicht gerade zuträglich und brachten fortgesetzt Unruhe in die Christenheit. Im Jahre 451 u. Z. tagte ein weiteres Konzil, das Konzil von Chalkedon, wo die Art der „Naturen“ Christi definiert wurde. Während die westliche Kirche das auf diesem Konzil abgefaßte Glaubensbekenntnis annahm, lehnte es die östliche Kirche ab; die Folge davon war die Gründung der koptischen Kirche in Ägypten und Abessinien sowie der Kirchen der „Jakobiten“ in Syrien und Armenien. Die Einheit der katholischen Kirche wurde ständig durch Streitigkeiten um schwerverständliche theologische Fragen bedroht, besonders durch den Streit um die Definition der Dreieinigkeitslehre.
33 Eine andere Ursache der Uneinigkeit war die Bilderverehrung. Im 8. Jahrhundert empörten sich die Bischöfe des Ostens über den Götzendienst und lösten den sogenannten Bilderstreit aus, der mit der Zerstörung von Bildern einherging. Doch mit der Zeit wurde die Verehrung von Heiligenbildern wiedereingeführt (2. Mose 20:4-6; Jesaja 44:14-18).
34. (a) Wodurch wurde in der katholischen Kirche eine große Spaltung hervorgerufen? (b) Was war das Endresultat dieser Spaltung?
34 Als dann die westliche Kirche dem Nizäischen Glaubensbekenntnis das lateinische Wort filioque („und vom Sohn“) hinzufügte, um anzudeuten, daß der heilige Geist sowohl vom Vater als auch vom Sohn ausging, traten weitere Schwierigkeiten auf. Diese im 6. Jahrhundert vorgenommene Korrektur führte zu einer Spaltung. „Im Jahre 876 verurteilte eine Synode [von Bischöfen] in Konstantinopel den Papst, weil er sich politisch betätigte und den Zusatz Filioque nicht für ungültig erklärte. Mit diesem Vorgehen fing etwas an, was dann zur völligen Ablehnung der Behauptung des Papstes, er sei das Oberhaupt der Kirche, führte“ (Man’s Religions). Im Jahre 1054 exkommunizierte der Vertreter des Papstes den Patriarchen von Konstantinopel, der wiederum den Bannfluch auf den Papst schleuderte. Dieser Bruch führte schließlich dazu, daß die östlichen orthodoxen Kirchen entstanden: die griechische, die russische, die rumänische, die bulgarische, die polnische und die serbische Kirche sowie andere eigenständige Kirchen.
35. Wer waren die Waldenser, und inwiefern unterschieden sich ihre Lehren von denen der katholischen Kirche?
35 Noch eine andere Bewegung brachte Unruhe in die Kirche. Im 12. Jahrhundert stellte Petrus Valdes aus Lyon (Frankreich) „Gelehrte an, die ihm die Bibel in die langue d’oc [eine regionale Sprache] Südfrankreichs übersetzen mußten. Er studierte die Übersetzung eifrig und kam zu dem Schluß, die Christen müßten wie die Apostel leben, also ohne individuellen Besitz“ (Will Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Band 6: Das frühe Mittelalter). Er rief eine Bewegung von Predigern ins Leben, die als die Waldenser bekannt wurden. Sie verwarfen das katholische Priestertum, den Ablaßhandel, das Fegefeuer, die Transsubstantiation und andere katholische Bräuche und Glaubenslehren. Sie breiteten sich auch in anderen Ländern aus. Um ihr weiteres Wachstum zu verhindern, verbot 1229 das Konzil von Toulouse den Besitz von Bibelbüchern. Nur Stundenbücher waren erlaubt, und zwar ausschließlich in Lateinisch, einer toten Sprache. Doch es standen noch mehr religiöse Spaltungen und Verfolgungswellen bevor.
Die Verfolgung der Albigenser
36, 37. (a) Wer waren die Albigenser, und was glaubten sie? (b) Wie wurden die Albigenser unterdrückt?
36 Eine weitere Bewegung nahm im 12. Jahrhundert in Südfrankreich ihren Anfang: die Albigenser (auch als die Katharer bekannt), deren Name sich von der Stadt Albi ableitet, wo sie besonders zahlreich vertreten waren. Sie hatten ihre eigenen Geistlichen, die nicht heirateten und die erwarteten, daß man sie ehrfurchtsvoll grüßte. Gemäß ihrer Lehre hatte Jesus nur an einen übertragenen Sinn gedacht, als er beim letzten Abendmahl vom Brot sagte: „Das ist mein Leib“ (Matthäus 26:26, EÜ). Sie verwarfen die Lehre von der Dreieinigkeit, der jungfräulichen Geburt, der Hölle und dem Fegefeuer. Also ließen sie sich in eine aktive Kritik an den Lehren Roms ein. Papst Innozenz III. ordnete die Verfolgung der Albigenser an. Seinen Worten gemäß sollte ihnen nötigenfalls mit dem Schwert ein Ende bereitet werden.
37 Gegen die „Ketzer“ wurde ein Kreuzzug gestartet, und die katholischen Kreuzfahrer erschlugen in Béziers (Frankreich) 20 000 Männer, Frauen und Kinder. Nachdem viel Blut vergossen worden war, wurde 1229 der Frieden wiederhergestellt; die Albigenser waren besiegt worden. Das Konzil von Narbonne „untersagte allen Laien den Besitz jedes Teiles der Bibel“. Die Ursache des Problems bestand für die katholische Kirche offensichtlich darin, daß die Bibel in der Sprache des Volkes vorhanden war.
38. Was war die Inquisition, und was sollte durch sie bewirkt werden?
38 Der nächste Schritt der Kirche war die Einsetzung der Inquisition, eines Gerichts, das der Ketzerei ein Ende machen sollte. Das abergläubische Volk war schon von einem Geist der Intoleranz durchdrungen und jederzeit bereit, „Ketzer“ zu lynchen und zu ermorden. Die Zustände im 13. Jahrhundert schufen die besten Voraussetzungen für den Machtmißbrauch der Kirche. Aber „von der Kirche verurteilte Ketzer waren dem ‚weltlichen Arm‘ — den örtlichen Behörden — zu übergeben, um auf dem Scheiterhaufen zu brennen“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 6: Das frühe Mittelalter). Dadurch, daß die eigentliche Vollstreckung des Urteils der weltlichen Gewalt überlassen wurde, hatte es den Anschein, als ob die Kirche frei von Blutschuld sei. Die Inquisition leitete eine Zeitspanne der religiösen Verfolgung ein, mit der Mißhandlungen, unberechtigte und anonyme Anzeigen, Mord, Raub, Folterungen und der langsame Tod von Tausenden einhergingen, die es wagten, eine andere Ansicht zu haben als die Kirche. Es war verboten, seine religiöse Meinung frei zu äußern. Gab es für diejenigen, die den wahren Gott suchten, irgendeine Hoffnung? Diese Frage wird in Kapitel 13 beantwortet werden.
39. Welche religiöse Gemeinschaft wurde im 7. Jahrhundert geformt, und wie?
39 Abseits von all diesen Geschehnissen in der Christenheit trat im Nahen Osten ein Araber gegen die religiöse Gleichgültigkeit und den Götzendienst seines Volkes auf. Im 7. Jahrhundert formte er eine religiöse Gemeinschaft, die heute von fast einer Milliarde Menschen Gehorsam und Unterwürfigkeit verlangt. Diese Gemeinschaft ist der Islam. Im nächsten Kapitel wird die Geschichte seines Propheten und Stifters behandelt, und es werden einige seiner Lehren und deren Ursprung erklärt.
[Fußnoten]
a Die Ausdrücke „unsterbliche Seele“, „Höllenfeuer“, „Fegefeuer“ und „Limbus“ sind im hebräischen und griechischen Urtext der Bibel nicht zu finden. Aber das griechische Wort für „Auferstehung“ (anástasis) kommt 42mal vor.
b Der griechische Ausdruck epískopos bedeutet wörtlich „der etwas oder jemanden beaufsichtigt, darauf achtgibt“. Die lateinische Entsprechung ist episcopus, woraus im Althochdeutschen biscof und später „Bischof“ wurde.
c Gemäß einer bekannten Legende sah Konstantin in einer Vision ein Kreuz und die lateinischen Worte „in hoc signo vinces“ (durch dieses Zeichen siege). Einige Historiker vertreten den Standpunkt, daß es sich dabei eher um die griechischen Worte „en tuto nika“ (durch dieses siege) gehandelt habe. Die Legende wird von einigen Gelehrten angezweifelt, da sie Zeitwidrigkeiten enthält.
d In dem Werk The Oxford Dictionary of Popes wird von Silvester I. gesagt: „Obwohl er während der Herrschaft Konstantins des Großen (306—337), einer Zeit einschneidender Entwicklungen für die Kirche, fast 22 Jahre Papst war, spielte er bei den damaligen bedeutenden Ereignissen anscheinend nur eine Nebenrolle. ... Es gab zweifellos Bischöfe, die Konstantin zu seinen Vertrauten machte und mit denen er seine Kirchenpolitik absprach; doch ... [Silvester] gehörte nicht zu ihnen.“
e Näheres bezüglich der Debatten über die Dreieinigkeitslehre findet der Leser in der 32seitigen Broschüre Sollte man an die Dreieinigkeit glauben?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1989.
f Maria, die Mutter Jesu, wird in den vier Evangelien an 24 Stellen und einmal in der Apostelgeschichte namentlich genannt bzw. als Jesu Mutter bezeichnet. Sie wird in keinem der apostolischen Briefe erwähnt.
[Kasten auf Seite 262]
Die ersten Christen und das heidnische Rom
„Das Christentum, das sich im römischen Imperium ausbreitete, verlangte von den Bekehrten aus den Heiden, daß sie ihre Ansichten und ihr Verhalten änderten. Viele Heiden, die aufgrund ihrer Erziehung die Ehe als eine notwendige soziale und wirtschaftliche Einrichtung betrachteten, homosexuelle Beziehungen als etwas, was bei der Erziehung von Knaben dazugehört, die Prostitution — sowohl die männliche wie auch die weibliche — als etwas Normales und Legales und die Scheidung, die Abtreibung, die Empfängnisverhütung sowie die Aussetzung ungewollter Kinder [so daß sie dem Tod preisgegeben waren] als zweckdienlich, nahmen zum Erstaunen ihrer Angehörigen die christliche Botschaft, in der diese Praktiken verurteilt wurden, an“ (Adam, Eve, and the Serpent, von Elaine Pagels).
[Kasten auf Seite 266]
Christentum gegen Christenheit
Porphyrios, ein im 3. Jahrhundert lebender Philosoph aus Tyrus und ein Gegner des Christentums, fragte, „ob nicht die Anhänger Jesu und weniger Jesus selbst für die besondere Form der christlichen Religion verantwortlich seien. Porphyrios (und Julian [im 4. Jahrhundert römischer Kaiser und Gegner des Christentums]) zeigte auf der Grundlage des Neuen Testaments, daß Jesus sich selbst nicht Gott nannte, daß er nicht über sich selbst, sondern über den einen Gott aller Menschen predigte. Seine Anhänger waren es, die seine Lehre aufgaben und eine neue (ihre eigene) Lebensweise einführten, bei der Jesus (nicht der eine Gott) Gegenstand der Gottesverehrung und der Anbetung wurde. ... [Porphyrios] rührte an eine für christliche Denker heikle Frage: Beruht der christliche Glaube auf Jesu Predigt oder auf den in den Generationen nach seinem Tod von den Jüngern entwickelten Ideen?“ (Die frühen Christen: wie die Römer sie sahen).
[Kasten auf Seite 268]
Petrus und das Papsttum
Gemäß Matthäus 16:18 sagte Jesus zum Apostel Petrus: „Und ich sage dir: Du bist Petrus [griechisch: Pétros], und auf diesen Felsen [griechisch: pétra] will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Al). Auf diesen Text stützt sich die katholische Kirche, wenn sie behauptet, Jesus habe seine Kirche auf Petrus aufgebaut, der gemäß ihren Worten die ununterbrochene Linie der Bischöfe von Rom, der Nachfolger des Petrus, anführe.
Wer war der gemäß Matthäus 16:18 von Jesus erwähnte Felsen, Petrus oder Jesus? Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß es in dem Gespräch um die Identifizierung Jesu als der „Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ ging, wie Petrus es selbst sagte (Matthäus 16:16, Al). Demnach wäre logischerweise Jesus selbst die felsengleiche feste Grundlage der Kirche und nicht Petrus, der später Christus dreimal verleugnete (Matthäus 26:33-35, 69-75).
Wieso wissen wir, daß Christus der Grundstein ist? Petrus selbst bezeugte dies, als er schrieb: „Zu ihm kommend als zu einem lebendigen Stein, von Menschen zwar verworfen, bei Gott aber auserwählt, kostbar ... Denn es ist in der Schrift enthalten: ‚Siehe! Ich lege in Zion einen Stein, auserwählt, einen Grundeckstein, kostbar; und keiner, der Glauben an ihn ausübt, wird irgendwie enttäuscht werden.‘ “ Und Paulus sagte folgendes: „Ihr seid auf der Grundlage der Apostel und Propheten aufgebaut worden, wobei Christus Jesus selbst der Grundeckstein ist“ (1. Petrus 2:4-8; Epheser 2:20).
Es gibt in der Bibel oder in der Geschichte keinen Hinweis darauf, daß Petrus gegenüber den anderen Aposteln eine vorrangige Stellung innehatte. Ja weder in seinen eigenen Briefen noch in den übrigen drei Evangelien — einschließlich des Evangeliums von Markus, das wahrscheinlich eine Wiedergabe des Berichtes von Petrus ist — werden die an Petrus gerichteten Worte Jesu erwähnt (Lukas 22:24-26; Apostelgeschichte 15:6-22; Galater 2:11-14).
Es ist nicht einmal eindeutig bewiesen, daß Petrus jemals in Rom war (1. Petrus 5:13). Als Paulus nach Jerusalem kam, unterstützten ihn „Jakobus und Kephas [Petrus] und Johannes, diejenigen, die Säulen zu sein schienen“. Damals war also Petrus eine von mindestens drei Säulen in der Versammlung. Er war kein „Papst“, und er war nicht als solcher oder als oberster „Bischof“ in Jerusalem bekannt (Galater 2:7-9; Apostelgeschichte 28:16, 30, 31).
[Bild auf Seite 264]
Das Dreieck, das die geheimnisvolle Dreieinigkeit der Christenheit darstellt
[Bilder auf Seite 269]
Der Vatikan (unten seine Flagge) sendet Diplomaten zu anderen Regierungen
[Bilder auf Seite 275]
Auf dem Konzil von Nizäa wurde für die spätere Dreieinigkeitslehre die Grundlage gelegt
[Bilder auf Seite 277]
Die Verehrung Marias mit dem Kind (Mitte) ist eine Nachahmung der viel älteren Anbetung heidnischer Göttinnen wie Ägyptens Isis mit Horos (links) oder Roms Mater Matuta (rechts)
[Bilder auf Seite 278]
Östliche Kirchen: Sveti Nikolaj, Sofia (Bulgarien), und (unten) St. Vladimir, New Jersey (USA)
[Bild auf Seite 281]
Die Aufgabe der „christlichen“ Kreuzfahrer bestand nicht nur darin, Jerusalem vom Islam zu befreien, sondern auch, „Ketzer“ wie die Waldenser und die Albigenser hinzuschlachten
[Bilder auf Seite 283]
Tomás de Torquemada, ein Dominikanermönch, führte die grausame spanische Inquisition an, bei der mit Hilfe von Folterwerkzeugen Geständnisse erzwungen wurden