AUSLEGUNG, DEUTUNG
Ein griechisches Wort, das in Verbindung mit Auslegung gebraucht wird, ist di·ermēneuō. Es ist die verstärkte oder intensivierte Form von hermēneuō („erklären, deuten, übersetzen, dolmetschen“). (Siehe ÜBERSETZUNG.) Es bezieht sich zwar gewöhnlich auf das Übersetzen von Sprachen (Apg 9:36; 1Ko 12:30), aber es bedeutet auch „völlig erklären, völlig auslegen“. Daher benutzte Lukas das Wort di·ermēneuō, als er beschrieb, wie Jesus auf dem Weg nach Emmaus zweien seiner Jünger ‘in allen Schriften die Dinge auslegte, die ihn betrafen’, und dabei von den Schriften des Moses und der Propheten ausging. Die beiden Jünger erzählten später anderen von der Begegnung, bei der Jesus ihnen „die Schriften völlig erschloss“ (Luk 24:13-15, 25-32).
dys·ermḗneutos hat eine gegenteilige Bedeutung. Dieses Wort gebrauchte Paulus; es kommt aber nur in Hebräer 5:11 vor und bedeutet „schwer zu interpretieren“ (Fn.), das heißt „schwer zu erklären“.
Ein anderes griechisches Wort, das mit „Auslegung“ wiedergegeben wird, ist epílysis, das von einem griechischen Verb hergeleitet wird, das wörtlich „auflösen“ und daher im übertragenen Sinn „erklären“ oder „klären“ bedeutet. Die Quelle echter Prophezeiungen sind nicht menschliche Meinungen oder Deutungen, sondern ihre Quelle ist Gott. Deshalb schreibt Petrus: „Keine Prophezeiung der Schrift [entspringt] irgendeiner privaten Auslegung [epilýseōs] ..., sondern Menschen redeten von Gott aus, wie sie von heiligem Geist getrieben wurden“ (2Pe 1:20, 21). Die Prophezeiungen der Bibel waren nie das Ergebnis scharfsinniger Schlussfolgerungen oder der Voraussicht von Menschen, gestützt auf ihre persönlichen Analysen von Ereignissen oder Trends.
Es gab Prophezeiungen, deren Sinn klar war, und deshalb bestand keine Notwendigkeit, sie zu deuten, so zum Beispiel, als der Prophet voraussagen musste, dass die Judäer ‘dem König von Babylon 70 Jahre als Gefangene dienen müssten’ oder dass Babylon ‘eine wüste Einöde werden würde’. Natürlich war nicht immer bekannt, wann eine Prophezeiung in Erfüllung gehen würde, doch in einigen Fällen wurde auch das ausdrücklich gesagt. Es gab auch viele Prophezeiungen oder besondere Aspekte davon, die nur teilweise verstanden wurden; es musste abgewartet werden, bis Gott ein vollständiges Verständnis darüber offenbarte oder eine Deutung ermöglichte. Das traf auf eine Anzahl von Daniels Prophezeiungen zu sowie auf Prophezeiungen in Bezug auf den Messias und das ihn betreffende „heilige Geheimnis“ (Da 12:4, 8-10; 1Pe 1:10-12).
Die Magie treibenden Priester und die Weisen Ägyptens waren außerstande, die Träume Pharaos, die göttlichen Ursprungs waren, zu deuten. „Da war keiner, der sie für Pharao deutete“ (1Mo 41:1-8). Dann erfuhr Pharao, dass Joseph den Traum des Obersten der Mundschenken und des Obersten der Bäcker richtig gedeutet hatte (1Mo 40:5-22; 41:9-13). Joseph hatte jedoch das Verdienst dafür nicht für sich in Anspruch genommen, sondern die beiden darauf aufmerksam gemacht, dass Jehova der Deuter von Träumen sei, indem er erklärt hatte: „Sind Deutungen nicht Sache Gottes?“ (1Mo 40:8). Auch als Pharao Joseph rufen ließ, damit er ihm seinen Traum deute, sagte Joseph: „Das steht nicht bei mir! Gott wird Pharao Wohlergehen ankündigen“ (1Mo 41:14-16). Pharao hörte sich die Deutung an und gab dann zu, dass in Joseph „der Geist Gottes“ war, weil „Gott ... [Joseph] all dies hat wissen lassen“ (1Mo 41:38, 39).
Auch Daniel wurde von Gott gebraucht, Träume zu deuten, allerdings die Nebukadnezars. Bevor Daniel sich vor den König führen ließ, um ihm den Traum, den dieser vergessen hatte, bekannt zu geben und auch zu deuten, betete er zu Gott um Verständnis des Geheimnisses, worauf es ihm in einer nächtlichen Vision geoffenbart wurde (Da 2:14-26). In seinen einleitenden Worten erwähnte Daniel, dass alle Weisen, Beschwörer, Magie treibenden Priester und Astrologen des Königs nicht in der Lage waren, den Traum des Königs zu deuten. „Aber es existiert ein Gott in den Himmeln“, fuhr Daniel fort, „der ein Offenbarer von Geheimnissen ist, ... was mich betrifft, es wird mir dieses Geheimnis nicht durch irgendwelche Weisheit, die in mir mehr als in irgendwelchen anderen Lebenden vorhanden ist, geoffenbart, außer zu dem Zweck, dass die Deutung dem König selbst bekannt gegeben werde“ (Da 2:27-30).
Bei einer zweiten Gelegenheit, als alle Magie treibenden Priester, alle Beschwörer, Chaldäer und Astrologen den Traum des Königs von dem großen Baum, der umgehauen wurde, nicht zu deuten vermochten, rief man Daniel erneut. Auch in diesem Fall wurde der göttliche Ursprung der Prophezeiung hervorgehoben. Der König erkannte diese Tatsache im Grunde an, als er zu Daniel sagte: „Ich selbst ... weiß, dass der Geist der heiligen Götter in dir ist“, und: „Du bist sachkundig, weil der Geist heiliger Götter in dir ist“ (Da 4:4-18, 24).
Jahre später, in der Nacht, in der die Meder und Perser Babylon eroberten, wurde der greise Diener Jehovas, Daniel, wiederum gerufen, damit er einem König eine göttliche Botschaft deute. Während Belsazars Festmahl hatte eine geheimnisvolle Hand MENE, MENE, TEKEL, PARSIN auf die Wand des Königspalastes geschrieben. Kein einziger der Weisen Babylons vermochte die rätselhafte Schrift zu deuten. Da erinnerte sich die Königinmutter, dass Daniel, „in dem der Geist heiliger Götter ist“, in dem „Erleuchtung und Einsicht und Weisheit gleich der Weisheit von Göttern“ gefunden wurde, noch lebte. Daniel deutete die Schrift, die eigentlich eine Prophezeiung war, und er verherrlichte Jehova wiederum als den Gott wahrer Prophezeiungen (Da 5:1, 5-28).