Unsere Erlebnisse während des libanesischen Bürgerkrieges
Vom „Awake!“-Korrespondenten im Libanon
ÜBER Monate hinweg stand der Libanon am Rand des Ruins. Das Land glich einem blutigen Schlachtfeld, insbesondere die Hauptstadt, Beirut. Der Sachschaden und der Steuerausfall beliefen sich auf Milliarden Dollar.
Noch schlimmer war die große Zahl der Getöteten und Verletzten. Im Frühjahr (zur Zeit der Abfassung dieses Berichts) betrug die Zahl der Toten 15 000 bis 20 000, und die der Verwundeten ging ebenfalls in die Tausende. Hätten die Vereinigten Staaten in einem Bürgerkrieg ebenso große Verluste im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung zu beklagen, so ergäbe das weit über eine Million (Libanon hat nur etwas mehr als drei Millionen Einwohner). Das wäre mehr als das Dreifache der Soldaten, die die USA im Zweiten Weltkrieg verloren haben.
Ich habe festgestellt, daß viele Leute der Ansicht sind, dieser Krieg habe Sonntag, den 13. April 1975 begonnen. An diesem Tag fuhr ein Bus, mit palästinensischen Kommandos besetzt, durch den maronitischena („christlichen“) Vorort Ainel-Rummaneh. Der Bus wurde mit Maschinengewehren beschossen und alle der rund dreißig Insassen kamen dabei ums Leben. Dieser Zwischenfall hatte Straßenkämpfe in Beirut zur Folge, die fast eine Woche dauerten.
Der Krieg, der von da an geführt wurde, bestand in einer Reihe von Kämpfen, auch „Runden“ genannt. Dazwischen herrschte Waffenruhe. (Bis zur Abfassung dieses Artikels waren es über 30 Feuerpausen.) Im Frühjahr, als die Kämpfe an Heftigkeit zunahmen, wurden einmal in nur zwei Wochen 2 000 Personen getötet und 4 000 verwundet. Gegen Ende jedes Monats trat jeweils eine Kampfpause ein — wahrscheinlich um die Wiederherstellung der Ordnung soweit zu ermöglichen, daß die Banken öffnen und die Kämpfenden ihren Sold abholen konnten.
Religion ein Faktor
Wie in Irland, so kämpfte auch hier eine religiöse Gruppe gegen die andere. Im Libanon befehdeten sich „Christen“ und Moslems. Im Jahre 1943 (damals war ich erst dreizehn Jahre alt) wurde der Libanon, der bis dahin französisches Mandatsgebiet gewesen war, unabhängig. Zu jener Zeit soll die „christliche“ Bevölkerung etwas größer gewesen sein als die moslemische, und es wurde vereinbart, daß das Verhältnis in der Legislative und in der Exekutive 6 zu 5 sein sollte. Ferner wurde festgelegt, daß der Präsident immer ein maronitischer Christ, der Regierungschef ein sunnitischer und der Präsident des Parlaments ein schiitischer Moslem sein sollte.
Aber jetzt verhält es sich anders. Heute gibt es im Libanon mehr Moslems als „Christen“. Deshalb fordern die Moslems, daß die Ämter und Sitze in der Regierung entsprechend verteilt werden. Außerdem leben gegenwärtig in diesem Land 400 000 palästinensische Flüchtlinge. Ein großer Teil von ihnen ist schwer bewaffnet. Die Lage ist sehr kompliziert, weil es so viele rivalisierende Gruppen gibt. Und wegen der blutigen Kämpfe, die immer wieder aufflammten, flüchteten Tausende aus dem Land.
Wir, meine Frau und ich, zogen es vor, im Land zu bleiben, um der notleidenden libanesischen Bevölkerung die trostreiche Botschaft von Gottes Königreich bringen zu können. Im Libanon gibt es rund 1 800 Zeugen Jehovas, die sich ebenfalls an diesem Werk beteiligen. Es war für uns ein Schutz, daß wir uns absolut neutral verhielten. Einzelne Zeugen wurden dennoch verletzt oder gar getötet.
Eine Zeugin Jehovas wurde von einem Heckenschützen erschossen, als sie Wäsche aufhängte. Und ein Zeuge Jehovas, der davor gewarnt worden war, das Haus, in dem sich die Zeugen versammelt hatten, zu verlassen, wurde erschossen, als er in sein Haus zurückkehrte. Andere Zeugen sind von Kugeln oder Schrapnellen getroffen worden. Einer ist durch ein Bajonett verletzt worden. Wir sind dankbar, daß das Ausnahmen sind.
Es zeigte sich sehr deutlich, daß der Krieg einen religiösen Aspekt hatte, und dieser Aspekt war wahrscheinlich das Erschreckendste daran. In vorwiegend moslemischen Gebieten wurden „Christen“ mitten in der Nacht aus ihren Wohnungen geholt, und viele von ihnen kehrten nie mehr zurück. Die „Christen“ verfuhren ebenso mit den Moslems. Doch von Jehovas Zeugen wußte man, daß sie anders waren.
Friedfertig gegenüber allen
Wir haben uns stets bemüht, alle, „Christen“ und Moslems, gleich zu behandeln und folgenden Rat der Bibel anzuwenden: „Wenn möglich, haltet, soweit es von euch abhängt, mit allen Menschen Frieden“ (Röm. 12:18). Eines Tages erhielt ein Zeuge Jehovas Besuch von Angehörigen der Maronitischen Liga. Sie wünschten, daß er und seine Kinder sich für Wachdienste zur Verfügung stellten und daß er 300 libanesische Pfund für Waffen spende.
Der Zeuge Jehovas entgegnete ihnen: „Ich möchte mich an nichts beteiligen, was mit Krieg zu tun hat. Der Krieg, den Sie führen, ist nicht Gottes Krieg. Gott wird bald alle Menschen, die mit Waffen umgehen, samt ihren Waffen vernichten, und unter Christi Herrschaft wird eine Ordnung des Friedens erstehen.“ Später, als sich die Verhältnisse in der Umgebung besserten, merkte der Zeuge, daß er sich durch seine entschiedene und neutrale Haltung die Achtung seiner Nachbarn erworben hatte.
Unsere neutrale Haltung ist uns wiederholt zugute gekommen. Eines Abends bot ein Zeuge Jehovas einem moslemischen Arbeitskollegen an, ihn im Auto mit nach Hause zu nehmen. Unterwegs wurden sie von bewaffneten Männern angehalten, die den Zeugen Jehovas töten wollten, weil er Christ war. Aber sein moslemischer Mitfahrer setzte sich für ihn ein, indem er sagte: „Dieser Mann ist anders als die Leute, die sich Christen nennen. Er ist neutral. Er mischt sich nicht in die Politik ein.“
Als die Freischärler nicht auf den Moslem hören wollten, erklärte er: „Wenn ihr uns nicht gehenlassen wollt, müßt ihr auch mich töten.“ Da sie merkten, daß er es absolut ehrlich meinte, ließen sie beide gehen.
Ein anderer Zeuge Jehovas berichtete, daß er eines Tages nichts Eßbares mehr im Hause hatte, sich aber niemand auf die Straße wagte, weil sich überall bewaffnete Freischärler aufhielten. Plötzlich erschien ein moslemischer Junge aus einem Nachbardorf an der Tür. „Meine Eltern“, erklärte er, „schicken Ihnen dieses Brot. Und wenn Sie noch etwas benötigen, sollen Sie es uns bitte sagen. Wir beschaffen es Ihnen gern.“
Die Einstellung der Zeugen wird bekannt
Im Norden des Landes liegt inmitten moslemischer Dörfer ein „christliches“ Dorf. In diesem Dorf gibt es zwei Versammlungen der Zeugen Jehovas. Als die Moslems das Dorf angriffen und in das Haus kamen, in dem sich die Zeugen versammelt hatten, erklärten diese den bewaffneten Männern: „Wir sind Zeugen Jehovas. Wir besitzen keine Waffen und sind vollkommen neutral. Das hier sind unsere Häuser, tun Sie, was Sie für richtig halten.“ Die bewaffneten Männer waren sehr überrascht und versprachen, sie nicht zu beschädigen.
In einem Dorf, das ich später besuchte, hatte sich sogar der katholische Priester mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Man wollte die Zeugen mit allen Mitteln bewegen, ihre Neutralität aufzugeben und sich ebenfalls für den erwarteten Angriff zu bewaffnen. Weil sie nicht einwilligten, sagte ein Führer der „christlichen“ Miliz: „Wenn dieser Krieg vorbei ist, werden wir uns mit euch befassen!“ Doch was geschah, als am 20. Januar 1976 der Angriff begann?
Die Angehörigen der Miliz, die das Dorf hätten verteidigen sollen, flohen. Der Priester entledigte sich seiner Waffe und versteckte sich. Manche Dorfbewohner, die sich bewaffnet hatten, suchten ihre Waffen zu verstecken, andere warfen sie weg. Ein Führer der „christlichen“ Miliz sagte zu einem Zeugen Jehovas: „Es ist bekannt, daß Jehovas Zeugen sich nicht bewaffnen“ und wollte ihm seine Waffe in die Hand drücken.
Viele Leute suchten in den Wohnungen der Zeugen Jehovas Schutz. In einer solchen Wohnung waren einmal über sechzig Personen versammelt! Nachdem einer der Zeugen zu Jehova um Schutz gebetet hatte, sagte die Tochter eines politischen Führers: „Jetzt habe ich keine Angst mehr, denn Jehova ist ein Gott, der schützen kann.“ Wohl drangen Freischärler in die Wohnung ein und stahlen einige Wertgegenstände, aber niemand kam zu Schaden.
In einer anderen Wohnung von Zeugen Jehovas hatten sich etwa fünfzig Personen zusammengefunden. Der vorsitzführende Aufseher der dortigen Zeugen Jehovas berichtete: „Ich hörte, wie ein moslemischer Nachbar zu den Freischärlern sagte: ,Laßt die Leute in diesem Haus in Ruhe. Sie sind Bibelforscher und anders als die anderen.‘ Später kamen die Freischärler aber doch in unser Haus. Ich hatte absichtlich keine Tür verriegelt. Als sie anklopften, öffnete ich schnell und bat sie einzutreten. Ich erklärte ihnen freundlich und ruhig, wir seien Zeugen Jehovas. Da sie keine Waffen fanden, gingen sie wieder weg.“ Sämtliche Häuser in der Umgebung wurden geplündert, nur dieses Haus nicht.
In der nördlich von Beirut gelegenen Stadt Tripoli kam es zwischen den kämpfenden Gruppen zu heftigen Zusammenstößen. Hunderte von Geschäften und Häusern wurden geplündert und in Brand gesteckt, auch die meiner leiblichen Brüder. Vor allem für die Christen war es sehr gefährlich. Ein moslemischer Nachbar sagte zu einem Zeugen Jehovas: „Diese Leute wissen nicht, daß Sie Zeugen Jehovas sind. Sagen Sie uns bitte, was Sie benötigen, und wir werden es für Sie einholen.“
Gut davongekommen
Manchmal, wenn die Kämpfe allzu heftig wurden, erschien die Flucht angezeigt. Eine Zeugin Jehovas aus Tripoli berichtete, daß die vier Wagen, in denen sie und andere Zeugen Jehovas flohen, am Stadtrand von dreißig bis vierzig Freischärlern angehalten wurden. Sie kannte einige von ihnen mit Namen. Diese Männer legten ein gutes Wort für die Zeugen ein. Später sagte einer von ihnen zu ihr: „Gott war mit Ihnen. Sie wissen nicht, was sonst aus Ihnen geworden wäre.“
Einige mußten wegen der heftigen Kämpfe mehrmals aus ihrer Wohnung flüchten. Ein Zeuge Jehovas aus einem Beiruter Vorort berichtete, wie ihm am 27. Oktober frühmorgens zur Flucht verholfen wurde:
„Wir entdeckten, daß unser Haus umstellt war. Als ich vorn aus dem Fenster schaute, sah ich Freischärler, und als ich hinten aus dem Fenster schaute, sah ich Bewaffnete, die zu einer gegnerischen Gruppe gehörten. Keine der beiden Gruppen wußte von der Anwesenheit der anderen; aber mir war klar, daß sie es bald herausfinden würden. Meine Frau und ich legten uns sofort flach auf den Boden und entgingen so den Kugeln, die kurz darauf durch die Luft zu fliegen begannen.
Glücklicherweise drang keiner der Kämpfenden in unser Haus ein. Wir wissen nicht, warum sie es nicht taten, aber wir sind Jehova dankbar dafür. Um 9.30 Uhr, als die Schießereien etwas nachgelassen hatten, fuhr ein Nachbar, der offensichtlich nicht wußte, was los war, bei uns vor. In diesem Augenblick begann das Feuergefecht erneut. Ich öffnete schnell die Tür, und er legte sich mit uns auf den Boden.
Als wieder eine Gefechtspause eintrat, beschlossen wir zu flüchten. Wir stürzten ins Auto und fuhren los. Wohl fielen noch einige Schüsse, aber wir wurden nicht getroffen. Ich hatte ein paar Tage zuvor mein Auto verkauft; daher betrachteten wir es als ein Geschenk des Himmels, daß dieser Mann mit seinem Auto kam und wir darin flüchten konnten.“
In diesem merkwürdigen Krieg geschahen manchmal auch merkwürdige Dinge. Ein Zeuge Jehovas berichtete folgende Begebenheit, die sich am 10. Dezember während eines Feuergefechts in einem Beiruter Vorort zutrug: „Zu unserer Überraschung vernahmen wir aus einem Lautsprecher die Aufforderung, daß beide Seiten das Feuer einstellen sollten. Der Sprecher sagte: ,Wir sind Brüder. Hört auf zu kämpfen.‘
Wir schauten hinaus und sahen einen unbewaffneten Armeeoffizier in Begleitung eines Priesters. Während sie die Straße entlanggingen, krochen viele der Kämpfenden hinter ihren Barrikaden hervor und schlossen sich den beiden an. Das Feuer hörte auf. Die Leute traten auf die Balkone und freuten sich über den Frieden. Aber schon nach drei Stunden begannen die Kämpfe erneut.“
Sie dauerten tagelang. Inmitten dieses Gebietes wohnten auch Zeugen Jehovas. Schließlich gelang ihnen die Flucht. Kugeln und Schrapnelle hatten in ihre Wohnungen eingeschlagen, aber niemand war verletzt worden.
Wir hatten immer unsere Sachen gepackt, um jederzeit fliehen zu können. Aber nur einmal verließen wir die Wohnung, um uns anderswo in Sicherheit zu bringen. Wir blieben vier Tage, und als sich die Verhältnisse besserten, kehrten wir in unsere Wohnung zurück. Vor allem zog es uns heim, weil wir unsere christliche Versammlung vermißten.
Später wurde der Ort, an den wir geflüchtet waren, der Schauplatz von schweren Kämpfen. Eine Frau, mit der wir eng befreundet waren, erzählte uns, was sich eines Morgens im Dezember zutrug. „Um 11 Uhr wurde unser Haus von einer heftigen Explosion erschüttert. Mein Mann rief die Kinder und mich zu sich und sagte: ,Wir sind mit knapper Not entkommen. Wir wollen Jehova dafür danken, daß wir noch am Leben sind.‘ Darauf beteten wir gemeinsam.
Nachdem die Kämpfe aufgehört hatten, öffneten wir die Haustür und sahen, daß unsere Veranda mit Glassplittern und Schrapnellen übersät war. Das Mörsergeschoß war neben dem Schlafzimmer gelandet, in dem wir alle nachts geschlafen hatten. Die Betten waren mit Mörtel, Glas und Schrapnellen bedeckt. Hätte das Geschoß eingeschlagen, während wir schliefen, wären wir alle bestimmt schwer verletzt oder getötet worden.“
Mitarbeiter des Zweigbüros in Gefahr
Wir fragten uns, wie es wohl unseren Mitchristen im Zweigbüro der Zeugen Jehovas erging, denn das Büro befand sich in einem moslemischen Stadtteil Beiruts. Vor seiner Verlegung an einen sichereren Ort außerhalb der Stadt erlebten die Mitarbeiter des Zweigbüros allerlei Schauerliches. Am 6. Februar schilderte ein Mitarbeiter die Lage wie folgt:
„Etwa einen Monat lang schliefen wir nicht in unseren Betten, sondern schleppten jeden Abend die Matratzen in die kleine Eingangshalle, da sie uns als der sicherste Ort im ganzen Haus erschien. Dort legten wir uns in den Kleidern hin, denn wir wußten nie, was die Nacht bringen würde. Als diese Phase des Kampfes vorüber war, versuchten die Rechtsgerichteten strategische Gebäude in unserem Stadtviertel in ihre Hände zu bekommen.
Es kam zu heftigen Straßenkämpfen. Um jede Straße und jedes Haus wurde gekämpft. Man hatte den Eindruck, die Rechtsgerichteten würden auf der Straße vor dem Haus und die Linksgerichteten auf der Straße hinter dem Haus heranrücken. Wir beschlossen daher auszuziehen. Aber es bestand keine Möglichkeit, das Viertel zu verlassen, doch gab es darin Häuser, die nicht so gefährdet waren. Ein Zeuge Jehovas, der etwa anderthalb Kilometer von uns entfernt wohnte, nahm uns auf. Wir blieben zwei Wochen bei ihm, und dann konnten wir in unser Haus zurückkehren.“
Eine Nacht war für die Mitarbeiter des Zweigbüros besonders schrecklich. In dieser Nacht wurde das Hauptgeschäftszentrum Beiruts in Brand gesteckt, und auch die Gebäude um das Zweigbüro herum sollten zerstört werden. Zeugen Jehovas, die im Zweigbüro mitarbeiten, berichteten folgende Einzelheiten:
„Etwa um 22.30 Uhr wurden wir durch Maschinengewehrfeuer direkt vor unserem Haus aufgeschreckt. Als zwei Mitarbeiter des Zweigbüros von der Veranda hinunterschauten, sahen sie fünf oder sechs Freischärler aus dem Hotel herauskommen, das dem Zweigbüro gegenüberlag. Dann erfolgte plötzlich eine Explosion. Sämtliche Fensterscheiben und Glastüren von sieben Stockwerken zerbarsten, und die Splitter regneten vor uns auf die Straße herab.
Darauf wurde ein Geschäft nach dem anderen angezündet, und Freischärler fuhren vor den Geschäften auf und ab und schütteten Brennstoff in die Flammen, damit sie nicht ausgingen. Auch schossen sie auf jeden, der versuchte, einen der Brände zu löschen. Der ganze Nachthimmel war vom Feuer der Brände gerötet. Während wir von einem der Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses die Brände beobachteten, erschütterte eine weitere Explosion das Haus. Wir liefen in einen der vorderen Räume und sahen, daß eine Bombe im Lebensmittelladen in unserem Haus explodiert war. Unser eigenes Haus brannte! Am meisten machte uns das Gasflaschenlager im Keller Sorgen. Wenn das Feuer bis dahin um sich greifen konnte, würde wahrscheinlich das ganze Haus sowie das Nachbarhaus in die Luft fliegen. Alle Anwohner der Straße halfen mit, das Feuer zu bekämpfen, und es gelang uns, es zu löschen, bevor es großen Schaden anrichten konnte.“
Straßensperren und Entführungen
Dann trat eine Kampfpause ein. Doch das normale Leben in der Stadt konnte nicht in Gang kommen wegen der Straßensperren, der Entführungen und der Heckenschützen. Es erschienen jeweils ganz plötzlich mehrere Autos voll Freischärler, die die Straßen sperrten und Menschen aus ihren Wagen schleppten. Auch Passanten wurden entführt. Ein Mitarbeiter des Zweigbüros der Zeugen Jehovas berichtete:
„Wir konnten vom Fenster unseres Hauses aus viele Entführungen beobachten. Freischärler, die Barrikaden errichteten, hielten an unserer Hausecke und entführten Menschen, die völlig schuldlos waren. Diese Entführungen waren vor allem deshalb so schrecklich, weil viele der Entführten nie mehr zurückkehrten. Auch einige Zeugen Jehovas wurden entführt, etliche wurden auch geschlagen, aber sonst wurde niemandem ernster Schaden zugefügt.“
Ein anderer Mitarbeiter des Zweigbüros hatte folgendes Erlebnis: „Nachdem wieder einmal Waffenstillstand vereinbart worden war, gab der Regierungsrundfunk bekannt, daß die Straßen sicher waren. Ich fuhr daher an jenem Samstagmorgen zur Post in der Innenstadt. Das Leeren des Postfaches des Zweigbüros gehört mit zu meiner Arbeit. Als ich die Post betrat, hörte ich, daß auf den Straßen, durch die ich auf dem Rückweg fahren mußte, Passanten entführt worden waren.
Ich fragte einen Polizisten, welches der sicherste Weg zurück zum Zweigbüro sei. Er antwortete: ,Ich weiß es nicht. Ich könnte Ihnen eine Straße nennen, die im Augenblick sicher ist, aber fünf Minuten später mag sie es nicht mehr sein.‘ Die Freischärler errichteten diese fliegenden Straßensperren blitzschnell und verlegten sie von einem Ort zum anderen.
Ich beschloß, dem Verkehrsstrom zu folgen. Unterwegs entging ich zwei Straßensperren dadurch, daß ich Einbahnstraßen in der verkehrten Richtung befuhr. Am folgenden Tag las ich, daß auf den Straßen, die ich benutzt hatte, viele entführt und ermordet worden waren. Dieser Samstag wurde ,schwarzer Samstag‘ genannt, weil an diesem Tag Hunderte von Menschen entführt oder getötet worden waren.“
Unter diesen Umständen war jedes Verlassen des Hauses gefährlich — man setzte dabei jedesmal sein Leben aufs Spiel. Eine Zeugin Jehovas, eine Missionarin, berichtete, daß sie mit einer Frau, die aus ihrer Wohnung geflohen war, in deren Wohnung zurückkehrte, um noch einige Sachen zu holen. „Als wir die Taxe verließen, kam der Portier vom Nachbarhaus herübergeschlurft und murmelte leise: ,Bleiben Sie nicht hier; hier wird bald was los sein.‘
Wir erledigten schnell, was wir zu tun hatten, und stiegen mit zitternden Knien wieder ins Auto ein. Als wir an die Straßenecke kamen, sah ich einen jungen Mann mit einem merkwürdig roten Gesicht. Ich dachte: ,Armer Kerl, du mußt furchtbare Brandwunden erlitten haben.‘ Doch als ich dann nochmals hinschaute sah ich, daß er einen farbigen Frauenstrumpf über das Gesicht gezogen hatte. Auch war er nicht allein!
Ich erblickte noch andere, die sich ebenso gräßlich vermummt hatten. War es eine Straßensperre? Mir gerann fast das Blut. Niemand im Wagen sprach ein Wort. Der Fahrer fuhr so schnell er konnte, aber seine Hände zitterten. Es war, als würden wir zwischen diesen Freischärlern hindurchfahren, ohne daß sie uns sahen. Erleichtert atmeten wir auf, als wir in dem Viertel anlangten, in dem wir vorübergehend wohnten.“
Christliche Zusammenkünfte und das Predigen
Während des Bürgerkrieges kamen wir nur in kleinen Gruppen zusammen, um unsere christlichen Zusammenkünfte abzuhalten. Auch das Kreiskongreßprogramm wurde dargeboten. Man kann sagen, daß viele Zusammenkünfte mit Maschinengewehrfeuer eröffnet und beendet wurden. Manchmal konnte man während der ganzen Zusammenkunft das scharfe Hämmern der Maschinengewehre und das dumpfe Dröhnen einschlagender Mörsergeschosse und Raketen hören. Gelegentlich schlugen die Geschosse ganz in der Nähe ein. Als wir einmal von einer Zusammenkunft nach Hause gingen und in eine verdunkelte Straße einbogen, starrten uns zwei Maschinengewehrläufe entgegen. Wir hasteten weiter, aber unser Herz schlug uns bis zum Hals.
Auch sind wir regelmäßig in den Predigtdienst gegangen und haben unseren Mitmenschen die tröstende Botschaft der Bibel überbracht: Wir haben ihnen verkündigt, daß Gottes Königreich nicht nur die Probleme der Libanesen, sondern auch die der übrigen Menschen bald lösen wird. Anfangs zögerten wir, von Haus zu Haus zu gehen. Aber dann wurde es zur Selbstverständlichkeit. Wir waren so vorsichtig wie möglich und vertrauten uns dem Schutz Jehovas an. Und es fehlt nicht an Beweisen dafür, daß er uns auch beschützt hat.
In unserem Haus in einem Vorort von Beirut wohnen noch andere Zeugen. Einmal, als ich außer Haus war, hängte die Frau eines reisenden Predigers, die bei uns zu Gast war, auf dem Balkon Wäsche auf. Zufällig schaute sie auf die Straße und sah zwei junge Männer mit je einem Maschinengewehr an der Hausmauer kauern. Sie lief zur Haustür und erwischte meine Frau, die in den Predigtdienst gehen wollte, gerade noch rechtzeitig. Hätte sie in jenem Augenblick das Haus verlassen, wäre sie in das Kreuzfeuer geraten. Eine halbe Stunde blieben die beiden Frauen im Flur, während vor dem Haus MG-Salven krachten.
Ein anderes Beispiel: Wir, meine Frau und ich, führten nicht weit von unserer Wohnung mit einer elfköpfigen Familie ein Bibelstudium durch. Am Tag nach einem unserer Studien durchschlug eine Rakete das Dach und explodierte in dem Zimmer, in dem wir am Abend zuvor studiert hatten. Unglücklicherweise spielten in diesem Moment zwei Kinder auf dem Dach. Eines wurde getötet und das andere am Kopf verletzt.
Wir haben auch stets unsere biblischen Schriften erhalten. Wie? Nun, wir haben jeweils die Gefechtspausen am Ende des Monats, in denen die Freischärler ihren Sold abholten, benutzt, um unsere biblischen Schriften dahin zu befördern, wo sie benötigt wurden.
Natürlich war das stets eine gefährliche Sache, aber auch bei diesen Unternehmungen haben wir immer gespürt, daß Jehova uns schützte. Einmal wurde ein reisender Aufseher, der die Bücher trug, an einer moslemischen Kontrollstelle angehalten. Die Freischärler fragten: „Was sind das für Bücher?“
Darauf antwortete der reisende Aufseher: „Diese Bücher handeln vom Evangelium.“ Die bewaffneten Männer erwiderten: „Imschi, Maa Salami“, das heißt „Geh in Frieden“.
Besuche der reisenden Prediger
Wir sind auch regelmäßig von unseren reisenden Predigern besucht und durch ihre Besuche erbaut worden. Einer dieser Prediger erzählte mir:
„Wegen der anhaltenden schweren Kämpfe war es sehr schwierig, in jeder Versammlung das reguläre ganzwöchige Programm durchzuführen. Es kam öfter vor, wenn ich in eine Versammlung kam, daß die Ältesten, sobald die Kämpfe etwas nachließen, die Brüder und Schwestern zusammenriefen und wir dann alle regulären Zusammenkünfte hintereinander hatten.
Einmal besuchte ich eine Gruppe von Zeugen Jehovas in den Bergen. Als nächstes sollte ich eine Versammlung in Beirut besuchen, wo schwere Kämpfe im Gange waren. Wegen dieser Lage wurde beschlossen, die Zeugen Jehovas von Beirut für den Besuch ihres Kreisaufsehers in die Berge kommen zu lassen. Das mußte gut geplant werden, denn alle Straßen in die Berge waren wegen der Anwesenheit von Freischärlern gesperrt bis auf eine.
Die Ältesten der Versammlung teilten jeder Familie mit, wann sie am Versammlungsort eintreffen sollte. An jenem Sonntagmorgen kamen die Zeugen aus der Stadt pünktlich zu der für sie festgelegten Zeit an. Die Freude war groß, als wir feststellten, daß sechzig Personen gekommen waren. Obschon die Zusammenkunft von 9 bis 14 Uhr dauerte, war es den Brüdern und Schwestern nicht zuviel. Einige hatten sich schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Es war ergreifend, zu beobachten, wie sie einander begrüßten. Wir hätten sie gern noch lange beisammen gelassen, aber wir mußten sie ermuntern, den Heimweg anzutreten, damit sie vor Einbruch der Dunkelheit und bevor die Straße gesperrt wurde, zu Hause waren.
Häufig kamen wir nur mit knapper Not davon. Als wir einmal eine Versammlung in einer moslemischen Gemeinde besuchten, spürten wir, daß dicke Luft war. Wir kürzten deshalb die Zusammenkunft ab, so daß jeder vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause gelangen konnte. Wir, die Familie, bei der ich wohnte und ich, sollten den Zusammenkunftsort als letzte verlassen. (Nebenbei bemerkt waren in diesem Gebiet in der Woche zuvor viele Greueltaten verübt worden.)
Als die Reihe zum Weggehen an uns kam, war es bereits dunkel geworden. Auf dem Heimweg war uns allen nicht ganz wohl zumute. Außer uns war niemand auf der Straße, und wir konnten das Echo unserer Schritte hören. Wir hatten das Gefühl, aus allen Richtungen beobachtet zu werden. Je näher wir unserem Haus kamen, desto schneller gingen wir. Doch bei der letzten Biegung rief uns plötzlich jemand zu: ,Stehenbleiben!‘
Da wir befürchteten, erschossen zu werden, gehorchten wir sofort und fragten: ,Meinen Sie uns?‘ ,Ja‘, entgegnete man uns. Dann erhielten wir von drei vermummten jungen Männern, die mit Maschinengewehren ausgerüstet waren, den Befehl, ihnen zu folgen.
Sie schauten uns gar nicht richtig an, sondern befahlen uns einfach, mit ihnen zu gehen. Das taten wir. Doch unsere Knie zitterten, und in unserem Herzen beteten wir zu Jehova Gott. Während wir hinter ihnen hergingen, sagte die Mutter der Familie, bei der ich wohnte, ein paar Worte zu ihrem Sohn. Darauf drehte sich einer der bewaffneten Männer plötzlich um. Er hatte ihre Stimme erkannt und merkte, daß es seine Nachbarin war. Er entschuldigte sich und sagte, daß er und die anderen beiden Männer gedacht hätten, wir seien Fremde und seien hierhergekommen, um zu spionieren. Da sie jedoch eine Hiesige sei, sollte sie nun schnellstens nach Hause gehen. Das taten wir natürlich auch.“
Vertrauen in die Zukunft
Obschon mehrmals Waffenstillstandsvereinbarungen getroffen wurden, kam es immer wieder zu Kämpfen. Entführungen, Morde, Plünderungen und andere Verbrechen waren an der Tagesordnung. Eine Zeitung meldete: „Die linksgerichteten Moslems und die rechtsgerichteten Christen leben und sterben mit der Waffe. ... Christen und Moslems sind von einem wilden Haß gegeneinander erfüllt. Jeder dürstet nach Rache. Es ist unwahrscheinlich, daß sich die Lage bald wieder normalisieren wird.
Der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung trug auch zu einer Schwächung der Moral bei. Einmal eroberten die Freischärler zum Beispiel ein Armeedepot, in dem Lebensmittel gelagert waren sowie Kleidung und anderes. Als die Leute in der Umgebung sahen, was geschehen war, beteiligten sie sich ebenfalls am Plündern.
Eine Familie von Zeugen Jehovas wurde ermuntert, sich ebenfalls daran zu beteiligen. Doch sie wollten nicht mitmachen. Das verwunderte die Nachbarn, ja sie konnten einfach nicht glauben, daß es ihnen mit ihrer Weigerung Ernst war, und brachten ihnen deshalb einiges aus dem Armeelager mit. Sie lehnten indessen alles ab und erklärten den Leuten, daß sie ihr biblisch geschultes Gewissen verletzen würden, wenn sie diese Sachen annähmen (Hebr. 13:18).
Eines ist sicher: Jehovas Zeugen im Libanon haben ihre christliche Lauterkeit bewahrt und sind vollkommen neutral geblieben. Und wir wollen fortfahren, allen Libanesen zu verkündigen, daß Gottes Königreich bald eine gerechte neue Ordnung herbeiführen und so jede Ursache für Schmerz und Leid beseitigen wird. Unser Dienst als Gesandte dieses Königreiches hat uns geholfen, den libanesischen Bürgerkrieg bisher zu überleben (2. Kor. 5:20).
[Fußnote]
a Maroniten sind Angehörige einer mit Rom unierten syrischen Christenvereinigung im Libanon.
[Herausgestellter Text auf Seite 17]
„Es zeigte sich sehr deutlich, daß der Krieg einen religiösen Aspekt hatte.“
[Herausgestellter Text auf Seite 18]
„Der Priester entledigte sich seiner Waffen und versteckte sich.“
[Herausgestellter Text auf Seite 19]
„Die Leute traten auf die Balkone und freuten sich über den Frieden.“
[Herausgestellter Text auf Seite 20]
„Es kam zu heftigen Straßenkämpfen.“
[Herausgestellter Text auf Seite 20]
„Sämtliche Fensterscheiben und Glastüren von sieben Stockwerken zerbarsten, und die Splitter regneten vor uns auf die Straße herab.“
[Herausgestellter Text auf Seite 21]
„Wir konnten vom Fenster unseres Hauses aus viele Entführungen beobachten.“
[Herausgestellter Text auf Seite 22]
Am Tag nach einem unserer Studien durchschlug eine Rakete das Dach und explodierte in dem Zimmer, in dem wir gewesen waren.
[Herausgestellter Text auf Seite 22]
Wir spürten, daß dicke Luft war.
[Herausgestellter Text auf Seite 23]
„Christen und Moslems sind von einem wilden Haß gegeneinander erfüllt.“