Ich bin so froh, am Leben zu sein
DREIMAL habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen. Aber jetzt bin ich so froh, am Leben zu sein.
Ich stamme aus einer zerrütteten Familie. Meine Eltern führten, soweit ich mich erinnern kann, nie eine glückliche Ehe. Als sie sich schließlich scheiden ließen, kam ich in ein Internat. Die Schulferien verbrachten meine Schwester und ich bei verschiedenen Verwandten, weil mein Vater, der als Matrose bei der Handelsmarine arbeitete, sich nicht um uns kümmern konnte. Wir wuchsen auf mit dem Gefühl, unerwünscht zu sein.
Schon als Teenager trat ich aus der katholischen Kirche aus, weil mir die Lehren widerspruchsvoll erschienen. Ich konnte nicht glauben, daß die Bösen in eine Hölle und die Guten in den Himmel kommen. Nach meiner Ansicht war der Tod lediglich ein friedlicher Zustand. Und sollte das menschliche Leben irgendeinen Sinn haben, so traf das auf mein Leben jedenfalls nicht zu.
Auch meine Heirat befreite mich nicht von meinen Problemen. Die Dinge begannen mir über den Kopf zu wachsen. Ab und zu ging ich zu Leuten, mit denen ich befreundet war. Aber oft wurde mir gesagt: „Ach, wir wollten gerade weggehen!“ Oder: „Könntest du mir einen Gefallen tun?“ Ich ging immer zu diesen Leuten hin, aber sie kümmerten sich nicht so um mich, wie ich es gern gehabt hätte.
Ich verbrachte fast den ganzen Tag mit Lesen. Zum Kochen und Backen hatte ich keine Lust mehr. Auch unterhielt ich mich nicht mehr mit anderen Leuten und tat nur noch das Allernotwendigste. Die Menschen in meiner Umgebung ignorierten mich — wenigstens glaubte ich das. Es war alles so merkwürdig. Ich fühlte mich elend, einsam und hätte dringend jemand gebraucht, mit dem ich hätte sprechen können. Aber da war niemand. Ich hatte mich gegen meine Umwelt völlig abgekapselt. Das führte zu meinem ersten Selbstmordversuch.
Warum Selbstmord?
Für den, der sich mit dem Gedanken trägt, Selbstmord zu begehen (viele bereiten ihn sehr sorgfältig vor), gibt es drei Kategorien von Menschen. Erstens solche, die er sehr liebt, die er aber, wie er meint, enttäuscht hat. Er denkt, diese geliebten Menschen seien ohne ihn besser daran. Zu der zweiten Kategorie gehören die, gegen die sich seine Aggressionen richten. Er hat das Gefühl, von ihnen tief verwundet worden zu sein und sich nur dadurch rächen zu können, daß er sich selbst umbringe — dann würden sie sicherlich von Gewissensbissen gequält werden. Zur dritten Gruppe zählen Personen, von denen er glaubt, daß er ihnen völlig gleichgültig sei und es ihnen nichts ausmache, wenn ihm etwas zustoße. Wenn ich jetzt zurückblicke, erkenne ich, daß alle drei Gruppen in meinem Denken eine Rolle spielten.
Dann kam die Zeit, da ich mich meinen Aufgaben nicht mehr gewachsen fühlte. Ich liebte meine Kinder, aber ich kam zu der Überzeugung, daß es ihnen ohne mich bessergehen würde, weil ich so unfähig sei. Nach einem Streit mit meinem Mann sagte ich mir, mein Tod wäre sicherlich ein Schlag für ihn. Und außerdem gab es keinen Menschen, der sich für mich interessierte und mit dem ich über meine Probleme hätte sprechen können.
Ich bereitete meinen Selbstmord sorgfältig vor. Dann drehte ich den Gashahn auf und legte mich zum Sterben hin. Merkwürdigerweise rief mein Mann in diesem Augenblick an, weil er sich wegen des Streites entschuldigen wollte. Da niemand den Hörer abnahm, fuhr er sofort nach Hause und kam gerade noch zur rechten Zeit. Er roch das Gas und ahnte, was vorgefallen war. So brach er die Tür auf und rettete mir das Leben.
Als ich zu mir kam, geriet ich außer mich vor Wut. Ich war dermaßen frustriert, daß ich bald wieder einen Selbstmordversuch unternahm. Wiederum hatte ich mich mit meinem Mann gestritten, aber anstatt meine Probleme anzupacken, lief ich vor ihnen davon. Hätte ich nur gewußt, wie ich sie bewältigen konnte!
Ich zog den dicksten Mantel an, den ich besaß, und ging an die kilometerweit entfernte Themse. Mein Gedanke war: Der schwere Mantel würde sich mit Wasser vollsaugen und da ich Nichtschwimmerin war, würde ich bald im Wasser versinken. Die Überlegung war schon richtig. Aber zufällig befand sich ein Polizeiboot in der Nähe der Brücke, von der ich ins Wasser sprang. Fünf oder sechs Minuten später zog man mich an Bord. Die Polizisten sagten, wären sie nur ein wenig später gekommen, wäre ich zufolge der nassen Kleidung untergegangen.
Beim Sprung ins Wasser hatte ich mich verletzt und mußte deshalb monatelang im Krankenhaus liegen. Meine Kinder wurden vom Jugendamt aus in Pflege gegeben. Man war auch bemüht, mir zu helfen, und versuchte es mit Pfarrern, Psychologen und Psychiatern. Aber sie hatten nicht viel Erfolg.
Nach meiner Entlassung nahm ich Pillen, um mich munter zu machen, andere, um mich zu entspannen, wieder andere, um einschlafen zu können — täglich bis zu 20 verschiedene Pillen! Ich konnte sehen, daß meine Kinder gestört waren. Ich durfte sie nur einmal in der Woche nach Hause holen, aber schon das schadete ihnen. Deshalb beschloß ich, sie von mir zu befreien, indem ich mir das Leben nehmen würde.
Spätabends ging ich an einen sehr einsamen Ort, den einsamsten Ort, den ich kannte, und schluckte meine sämtlichen Pillen — alle auf einmal. Normalerweise würde ich nicht mehr leben, um die Geschichte zu erzählen. Aber am frühen Morgen wurde ein Mann, der in der Nähe wohnte, von seinem Hund geweckt, worauf er mit ihm spazierenging. Er fand mich im Gras liegend. Ich wurde auf dem schnellsten Weg in ein Krankenhaus gebracht, wo man mir den Magen auspumpte.
Als ich aufwachte, brach ich in Tränen aus. Ich war fassungslos, fühlte mich elend. Es war, als befände ich mich in einem stockdunklen Raum. Meine Einsamkeit war riesengroß. Es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte. Man hatte mir das Leben gerettet, aber wozu? Ich wünschte nichts sehnlicher, als zu sterben.
Mein Rettungsanker — das Gebet
Mein Mann richtete liebevoll eine neue Wohnung für mich und die Kinder ein, und ich nahm mir vor, für sie zu sorgen, bis sie alt genug wären, es selbst zu tun. Danach würde ich mir überlegen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Ich hatte immer noch eine defätistische Einstellung.
Eines Tages unterhielt sich mein Mann mit einem Zeugen Jehovas. Als der Zeuge auf Einladung meines Mannes wiederkam, sprach ich mit ihm. Ich hatte schon immer Achtung vor der Bibel gehabt und staunte über das Bibelwissen dieses Mannes. Jede Frage, die ich ihm stellte, beantwortete er mir anhand der Bibel.
Damals war ich sehr niedergeschlagen. Instinktiv wußte ich zwar schon immer, daß es ein höheres Wesen gab, aber ich wußte nicht, wie man mit diesem Wesen in Verbindung treten konnte. Dieser Mann konnte beten — und er lehrte auch mich beten. Ich erinnere mich noch, daß ich ihn fragte: „Warum muß man im Namen Jesu beten? Warum muß man zu Gott beten? Warum kann man nicht zu Jesus Christus oder zu Maria beten?“ Aus der Bibel las er mir Antworten vor, die mich befriedigten. Es war so, als hätte mir jemand eine Tür geöffnet, und dankbar ging ich hindurch (Matth. 6:9; Joh. 16:23, 24).
Schon nach wenigen Wochen begann ich zu beten, wie ich nie zuvor gebetet hatte. Ich merkte, daß ich nicht auf mich selbst angewiesen war. Ich brauchte nicht alles selbst zu tun (Phil. 4:6, 7). Damals rauchte ich noch täglich 60 bis 70 Zigaretten. Aber schon nach drei bis vier Wochen hatte ich mir das Rauchen abgewöhnt. Ich brauchte diese Krücke nicht mehr.
Kurz danach fing ich an, auch andere Menschen mit der „guten Botschaft“, die mich getröstet hatte, zu trösten. Das bereitete mir Freude und schenkte mir Zufriedenheit. Eine Kraftquelle waren außerdem die Zusammenkünfte im Königreichssaal der Zeugen Jehovas. Sechs Monate später, im Mai 1975, gab ich mich Jehova Gott hin.
Es sind nun schon mehr als 10 Jahre her, daß ich zum erstenmal versuchte, mir das Leben zu nehmen. Es passiert mir immer noch gelegentlich, wenn mir alles über den Kopf zu wachsen droht, daß ich niedergeschlagen bin; doch vermutlich ist das jeder ab und zu. Aber jetzt besitze ich eine „Kraft, die über das Normale hinausgeht“ (2. Kor. 4:7, 8). Jehova steht mir bei. Ich kann noch so deprimiert sein, stets klopft er an meine Tür — natürlich nicht buchstäblich, doch in dieser oder jener Weise sagt er sozusagen zu mir: „Du bist nicht allein!“
Das Gebet ist stets mein Rettungsanker. Ich bin wirklich dankbar: Ich bin noch am Leben, habe eine liebenswerte Familie, und mein Leben hat Sinn und Inhalt. Kann man sich noch mehr wünschen? (Eingesandt von einer „Erwachet!“-Leserin aus England.)