Jugoslawien — ein Land von faszinierender Vielfalt
Von unserem Korrespondenten in Jugoslawien
„WIE heißt das auf jugoslawisch?“ Auf diese Frage könnte ein Ausländer mindestens drei verschiedene Antworten erhalten — jede in einer anderen Sprache. Und fragt man einen Jugoslawen nach seiner Nationalität, dann wird man eine von mindestens sechs möglichen Antworten erhalten — höchstwahrscheinlich lautet keine davon: „Ich bin Jugoslawe.“
Jugoslawien überrascht durch seine Vielfalt. Das hängt mit seiner geographischen Beschaffenheit zusammen. Es liegt auf der Balkanhalbinsel im Südosten Europas; seine Westgrenze ist das Adriatische Meer. Da Jugoslawien an sieben Länder grenzt — Italien, Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Albanien —, ist es auch einer Vielfalt von kulturellen Einflüssen unterworfen.
Selbst das Wetter ist vielfältig: heiße, trockene Sommer und milde, regnerische Winter an der Küste; kurze, kühle Sommer und lange, schneereiche Winter in den Gebirgsgegenden; heiße Sommer und kalte Winter in den nördlichen Ebenen. Und das in einem Land, das nur rund 1 000 Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle etwa 600 Kilometer breit ist.
Ein Nationalitätenstaat
Eine noch größere Vielfalt ist unter den Menschen zu finden. Gemäß einer Schätzung im Jahre 1987 bezeichnen sich verhältnismäßig wenige der 23,5 Millionen Bewohner des Landes als Jugoslawen (Südslawen). Die übrige Bevölkerung zählt sich zu den Serben, den Kroaten, den Bosniern, den Slowenen, den Makedoniern, den Montenegrinern oder zu einer der zahlreichen Minderheiten.
Somit gibt es auch keine „jugoslawische“ Sprache; Serbokroatisch, Slowenisch und Makedonisch sind die Amtssprachen von Jugoslawien. Zu der Vielfalt kommt noch hinzu, daß zwei Schriften in Gebrauch sind: die lateinische und die kyrillische.
Das liegt daran, daß in Jugoslawien eine Reihe kleinerer Volksgruppen leben, von denen jede ihre eigene Sprache und Kultur hat, ihre eigenen Bräuche und Traditionen. Doch diese Vereinigung von Nationalitäten besteht erst seit relativ kurzer Zeit. Sie kam 1918 zustande, als das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ geboren wurde. Es war eine instabile Allianz, aber sie hielt bis zum Zweiten Weltkrieg. Aus der Asche dieses Krieges stieg die „Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien“ empor. Somit ist Jugoslawien von Anfang an vielfältig gewesen. Außerdem trägt es den kulturellen Stempel der beiden großen Reiche, von denen es in der Vergangenheit beherrscht wurde: Österreich-Ungarn im Norden und das Osmanische Reich im Süden.
Vielfalt an Gaumenfreuden
Da diesem Land die Vielfalt eigen ist, kann man kaum erwarten, daß es ein typisch jugoslawisches Gericht gibt. Im Nordwesten ist die Küche mitteleuropäisch. In der Mitte und im Südosten des Landes labt man sich an türkisch-orientalischen Köstlichkeiten. An der Küste wird Fisch und guter Wein angeboten. Dennoch sind bestimmte Spezialitäten bei den Touristen beliebt. Viele bestellen Ćevapčići (ausgesprochen „tschewaptschitschi“) — gegrillte, stark gewürzte Hackfleischröllchen, bei denen einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Sehr gefragt ist auch der Slibowitz, der berühmte Pflaumenbranntwein. Und in gastfreundlichen Häusern im ganzen Land wird einem stets turska kafa angeboten — ein starker, schwarzer türkischer Kaffee —, der unbedingt zu einem geselligen Beisammensein gehört. Er wird in einer kleinen Tasse, fildžan (ausgesprochen „fildschan“) genannt, serviert, und man sollte ihn langsam schlürfen, damit man so lange etwas davon hat, wie die Unterhaltung andauert.
Gegensätzliche Temperamente
Die Jugoslawen sind auch in ihrer Einstellung und in ihrem Temperament unterschiedlich. Im Norden sind die Menschen den Mitteleuropäern ähnlich. Sie sind mehr oder weniger zurückhaltend, pflegen nicht allzu enge Freundschaften und respektieren die Privatsphäre anderer. Im südlichen Jugoslawien hingegen betrachtet man dieses Verhalten als mangelndes Interesse am Wohlergehen seiner Mitmenschen. Dort herrscht eher ein typisches Balkantemperament vor: Man zeigt seine Gefühle, pflegt enge Freundschaften, hält zusammen und ist wißbegierig bis hin zur Neugierde.
Im Süden zum Beispiel sieht man abends oft Gruppen, die anscheinend ziellos eine Straße auf und ab gehen. Das wird als korzo bezeichnet — ein Spaziergang, bei dem man bestimmt Bekannte trifft oder neue Bekanntschaften anknüpft. Man beobachtet auch Gruppen von Männern, die jeden Tag vor ihrem Haus oder ihrem Lieblingsladen sitzen. In einer solchen Gegend wird jeder Fremde bemerkt. Wenn man zum erstenmal ein Haus betritt, wird man gleich von Kindern und Erwachsenen umringt, die einen mit Fragen bestürmen: „Wie heißen Sie? Woher kommen Sie? Was wünschen Sie?“ Aber wenn man das nächste Mal kommt, weiß in dieser Straße jeder schon, wer man ist.
Religiöse Vielfalt
Das hat eine interessante Auswirkung auf das Werk der Zeugen Jehovas. Jehovas Zeugen sind in der ganzen Welt für ihre Hausbesuche bekannt und natürlich auch in diesem Land, wo der erste Besuch unter den Nachbarn oft große Aufmerksamkeit erregt. Beim nächsten Besuch stellen die Zeugen meist fest, daß sich in der Umgebung jeder eine feste Meinung über sie gebildet hat. Wenn positive Bemerkungen überwiegen, werden sie herzlich willkommen geheißen.
Bei ihrer Tätigkeit treffen Jehovas Zeugen auf eine Vielfalt von Glaubensansichten. Die serbisch-orthodoxe Kirche, die römisch-katholische Kirche, der Islam und die makedonisch-orthodoxe Kirche haben die größte Anhängerzahl. Diese Vielfalt ist wiederum die Folge geschichtlicher Einflüsse. Die Missionare der Christenheit — griechische Missionare im Osten und fränkische Missionare im Westen — bekehrten im neunten Jahrhundert das slawische Volk. Doch die spätere Spaltung der Christenheit in die westliche, römisch-katholische Kirche und in die östliche, orthodoxe Kirche entzweite auch das slawische Volk. Bis auf den heutigen Tag herrscht im Nordwesten von Jugoslawien die römisch-katholische Kirche vor und im Südosten die Ostkirche. Mit der Eroberung des Balkans durch die Osmanen kam der Islam in das Land.
Die jugoslawische Regierung ist anerkennenswerterweise gegenüber dieser religiösen Vielfalt tolerant. Jehovas Zeugen schätzen es besonders, daß sie ihre Anbetung ungehindert ausüben können. In den letzten Jahren erhielten sie in Slowenien sogar die Genehmigung, ihre Kongresse in öffentlichen Sälen und Turnhallen durchzuführen. Es bereitet ihnen Freude, in diesem Land von faszinierender Vielfalt anderen die biblischen Wahrheiten zu überbringen. (Eingesandt.)
[Karte/Bild auf Seite 13]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
JUGOSLAWIEN
Belgrad
ÖSTERREICH
UNGARN
RUMÄNIEN
ITALIEN
BULGARIEN
Adriatisches Meer
ALBANIEN
GRIECHENLAND
[Bildnachweis]
Mladinska knjiga; Turistička štampa
[Bildnachweis auf Seite 15]
Mladinska knjiga; Turistička štampa