Ein Besuch am Großen Barriereriff
Von unserem Korrespondenten in Australien
DIE freudige Erregung der Touristen, die in Cairns an Bord gegangen sind, erreicht ihren Höhepunkt, als das Ausflugsboot gegen Ende der 29 Kilometer langen Fahrt die Geschwindigkeit drosselt. Eine Gruppe von Mädchen verrät ihre Aufregung durch ansteckendes Kichern — gleich werden sie Green Island betreten, eine besondere Sehenswürdigkeit des Großen Barriereriffs von Australien.
„Aber was ist ein Barriereriff?“ fragst du vielleicht. „Und womit verdient dieses hier die Bezeichnung ‚groß‘?“
„Groß“ ist nicht übertrieben
Das Große Barriereriff ist der größte Korallenriffgürtel der Erde. Der über 2 000 Kilometer lange Gürtel ist der Küste des Bundesstaates Queensland im Norden Australiens vorgelagert. Die Größe der einzelnen Riffe, aus denen er besteht, ist sehr unterschiedlich, doch einige sind bis zu 2 Kilometer breit und 24 Kilometer lang. Insgesamt erstreckt sich das Naturschutzgebiet Great Barrier Reef über eine Fläche von 349 000 Quadratkilometern, wobei der Abstand von der australischen Küste 16 Kilometer, aber auch mehr als 300 Kilometer betragen kann.
Der Ausdruck „Barriereriff“ bezeichnet ein Wallriff, das entlang einer Küste verläuft, doch weiter davon entfernt ist als ein küstennahes Saumriff. Eine andere Riffart stellt das Atoll dar, das durch seine Ringform gekennzeichnet ist und eine Lagune umschließt.
Am Barriereriff herrscht ein angenehmes Klima — in den Wintermonaten ist es warm, und während des übrigen Jahres wird die tropische Hitze durch erfrischende Meeresbrisen gelindert. Die „Größe“ des Riffs besteht außerdem darin, daß es ein riesiges Schutzgebiet für Vögel und Meerestiere ist. Es ist berühmt für seine Vielfalt an Speisefischen wie Thunfisch, Gelber Fleckenbarsch und Meerforelle, ganz zu schweigen von Schwarzem Marlin, Schwertfisch, Barrakuda und Hai — der beliebten Beute von Sportfischern.
Die Muscheln, die hier zu finden sind, gehören zu den imposantesten Muscheln der Welt — auch was die Größe betrifft. Mördermuscheln mit einem Gewicht von über 230 Kilo sind nichts Ungewöhnliches. Und einige der größten Austern der Welt sind am Riff geerntet worden. Selbst Perlmuscheln wurden am nördlichen Teil gesammelt.
Ein großartiges Schauspiel bieten die prächtigen Farben der Korallen. Im Wettstreit damit liegen die unzähligen leuchtend bunten tropischen Fische, von denen es hier nur so wimmelt: ein lebendiger Kontrast zwischen Blau und Orange, Schwarz und Gold, sogar Scharlachrot und Grün. Verwunderung rufen zudem die bizarren Formen dieser Fische hervor, die eindrucksvoll zur Geltung kommen, während die Fische zwischen den prächtigen, verzweigten Korallenstöcken umherhuschen oder dahingleiten.
Das Wunderwerk Koralle
Die Koralle ist ein Kalksteingehäuse oder Skelett, das von einem kleinen Meerestier, Polyp genannt, hergestellt wird. Zeit seines Lebens baut der kleine Polyp am Korallengehäuse. Wenn er stirbt, hinterläßt er das Skelett nachfolgenden Generationen als Vermächtnis. Im Larvenstadium schwimmt der Polyp frei umher, doch bald setzt er sich an einer von seinen Vorgängern zurückgelassenen Koralle fest. Einmal fest verankert, entwickelt er einen schlauchähnlichen Körper, an dessen oberem Ende sich eine Mundöffnung befindet, aus der kleine Tentakel herauswachsen. Nun beginnt er, sich von tierischem Plankton — hauptsächlich Kleinkrebsen und Fischlarven — zu ernähren.
Von jetzt an baut er fleißig, indem er dem Meerwasser Kalziumsalze entzieht und eine harte, kalksteinähnliche Substanz absondert, wodurch an seinem „Fuß“ ein steiniger Becher entsteht. Nachfolgende Generationen bauen auf diesen becherförmigen Skeletten auf, die je nach Art des bauenden Korallenorganismus verschiedene Formen und Farben annehmen.
Das Ergebnis ist eine eindrucksvolle Vielfalt von prächtigen Korallen, die so anschauliche Namen tragen wie Fächerkoralle, Pilzkoralle, Geweihkoralle, Sternkoralle und Hirnkoralle, um nur einige zu nennen. Und die atemberaubend schöne Farbenpalette lebender Korallen reicht von Weiß über Gelb, Grün, Braun, Orange, Rosa, Rot, Purpurrot, Blau bis hin zu Schwarz.
Das sind also die Bausteine des Großen Barriereriffs: farbenprächtige, hinreißend schöne Korallen. Und obwohl man hier hauptsächlich die runde Stern- und Hirnkoralle sowie die zierliche Geweihkoralle vorfindet, soll es am Riff mindestens 350 verschiedene Korallenarten geben. Die riffbildenden Korallenbänke sind unterschiedlich dick. Bei zwei Versuchsbohrungen auf einer Koralleninsel stieß man erst in 120 Meter Tiefe auf Sand.
Die Schönheit liegt unter Wasser
In seichtem Wasser sehen Korallen nicht besonders schön aus, da sie dort meist tot und zerbrochen sind. Die atemberaubend schönen Farben finden sich bei den lebenden Korallen in tieferen Gewässern. Die eigentliche Schönheit des Riffs kann man daher nur durch den Glasboden eines Bootes oder beim Tauchen sehen.
Das Wasser im Riffbereich ist kristallklar, so daß die faszinierten Passagiere, die um den Glasboden der besonders konstruierten Boote herumsitzen, selbst Gegenstände in 30 Meter Tiefe gut erkennen können. Da Riffkorallen am besten in sonnenbeschienenem Wasser wachsen und sich die Riffbildung verlangsamt, sobald das Wasser tiefer als 11 Meter wird, können sogar die am tiefsten liegenden Korallen mühelos von der Wasseroberfläche aus gesehen werden.
Feinde des Riffs
Der Mensch ist nicht selten der größte Feind von Naturwundern wie dem Barriereriff. Deshalb sind viele froh, daß die australische Regierung das Bohren nach Öl mit Ausnahme einiger Versuchsbohrungen bisher untersagt hat.
Es gibt aber einen „Feind“, dessen man nicht so leicht Herr werden kann: ein Seestern mit der Bezeichnung Dornenkrone. Der Name leitet sich von seinem Aussehen ab; bis zu 23 Arme ragen aus seinem Körper wie die Speichen eines Rades. Die gesamte Oberfläche ist mit Tausenden scharfer Stacheln bedeckt, deren Gift auch dem Menschen gefährlich werden kann. Mit seinen bis zu 70 Zentimetern Durchmesser ist er einer der größten Seesterne der Welt.
Dornenkronenseesterne ernähren sich von lebenden Korallen, das heißt von den korallenbildenden Polypen, und sie haben in Teilen des Riffs schon großen Schaden angerichtet. Seit sie 1962 zum ersten Mal beobachtet wurden, sind sie Gegenstand heftiger Debatten gewesen.
Einige vertreten die besorgniserregende Ansicht, das gesamte Barriereriff sei in Gefahr, und machen Voraussagen wie „Kein Riff mehr im Jahr 2000“. Andererseits gibt es Wissenschaftler, die diese Verseuchung für natürlich und notwendig halten und sie mit dem langfristigen Nutzen von Busch- oder Waldbränden vergleichen. Sie weisen darauf hin, daß bis jetzt nur ein Drittel des Riffs von Seesternen befallen ist.
Ungeachtet ihrer persönlichen Meinung über diesen stachligen Seestern und den Schaden, den er dem Korallenriff zufügt, stimmen die meisten darin überein, daß eine umfassendere wissenschaftliche Forschung notwendig ist. Aus diesem Grund ist seit einigen Jahren das vielleicht gründlichste Studium eines Meerestieres im Gange, das je in australischen Gewässern durchgeführt wurde. Welche Ergebnisse letztendlich erzielt werden, bleibt abzuwarten. Wenn du aber in der Zwischenzeit nach Australien reisen kannst, dann wird ein Besuch am bezaubernden und farbenprächtigen Großen Barriereriff zweifellos deine Wertschätzung für die Wunder der Schöpfung vertiefen.
[Karte/Bilder auf Seite 24, 25]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Großes Barriereriff
AUSTRALIEN
[Bildnachweis]
Korallenfotos: Mit freundlicher Genehmigung Australian Overseas Information Service