Können Hormone, Vitamine und Mineralstoffe helfen?
KANN zwischen der Ernährung und einer Geisteskrankheit oder einer emotionellen Störung ein Zusammenhang bestehen? Ist es möglich, durch eine Ernährungs- oder Hormontherapie bei Geisteskrankheiten eine Besserung zu erzielen?
Hippokrates, der im 5. Jahrhundert v. u. Z. lebte und „Vater der Medizin“ genannt wird, vermutete einen Zusammenhang zwischen schlechter Ernährung und Geisteskrankheiten. Und kein Geringerer als Sigmund Freud, der „Vater der Psychoanalyse“, schrieb in seinen späteren Jahren: „Ich bin fest davon überzeugt, daß alle diese Störungen, die zu erforschen wir bemüht sind, eines Tages mit Hormonen oder ähnlichen Stoffen behandelt werden.“
Die Anwendung von Hormonen
In den letzten Jahren ist eine ganze Anzahl von Geisteskranken erfolgreich mit Hormonen behandelt worden. Ein Psychiater am New Yorker „Medical College“ stellte zum Beispiel fest, daß synthetische Geschlechtshormone wirksamer und „weniger traumatisch sind als der Elektroschock und schneller zum Ziel führen als die konventionellen Medikamente“. Mit der Hormontherapie hat er depressive Patienten geheilt und bei anderen eine Besserung erzielt (Washington Star-News, 9. Mai 1974).
Noch ermutigender sind die Ergebnisse, die ein Forscherteam in Worcester (Massachusetts), bestehend aus Biochemikern und Psychiatern, durch die Anwendung ähnlicher Geschlechtshormone erzielt hat. Es gelang ihnen, bei 80 Prozent ihrer Patientinnen eine Besserung des Zustandes zu erreichen. Und sie erzielten diese Ergebnisse, obschon sie Patientinnen ausgesucht hatten, „die bis dahin stationär behandelt worden waren, und zwar mit verschiedenen konventionellen Therapien — Schocktherapie, Antidepressiva [Medikamente mit depressionslösender Wirkung] und Psychotherapie —, jedoch ohne Erfolg“ (The Boston Globe, 30. September 1974).
Die Ernährungstherapie
Von der als Pellagra bekannten Krankheit weiß man schon lange, daß sie die Folge einer Fehlernährung ist. Sie wird durch einen Mangel an Nikotinsäureamid verursacht und führt u. a. zu nervlichen und psychischen Störungen.
Zu den Befürwortern der Ernährungstherapie bei Geisteskrankheiten gehört George Watson; er war früher als Universitätsprofessor tätig, widmet sich aber jetzt ganz der psychochemischen Forschung. In seinem Buch Nutrition and Your Mind (Die Ernährung und dein Geist) schreibt er, daß einige Menschen die Nahrung besser verwerten würden als andere und die Ernährung entsprechend abgestimmt werden müsse. Er vertritt folgende Ansicht: „Was man ißt, bestimmt die geistige Verfassung und in einem gewissen Sinne auch, was für ein Mensch man ist.“ Watson behauptet ferner: „In den meisten Fällen werden Verhaltensstörungen durch ein ungenügend ernährtes Gehirn, ein erschöpftes Nervensystem oder durch eines der vielen anderen physischen Probleme, die in direktem Zusammenhang mit einem unrichtig funktionierenden Stoffwechsel stehen, verursacht.“ Er berichtet, daß es ihm gelungen sei, eine Patientin, die an einer extremen Form von Schizophrenie gelitten habe, dadurch zu heilen, daß er ihr die notwendigen oder die fehlenden Nährstoffe verabreicht habe.
Eine ähnliche Behandlungsmethode wenden die über 500 Ärzte und Psychiater der Stiftung zur Erforschung der Hypoglykämiea an. Sie sind der Meinung, daß ein niedriger Blutzuckerspiegel Depressionen, Angst, Vergeßlichkeit, Zittern, Alpdrücken und einen Nervenzusammenbruch hervorrufen könne.
In der Ernährungstherapie für Geisteskranke spielen auch die Spurenelemente eine wichtige Rolle. So wird allgemein die Bedeutung von Lithium anerkannt. In Texas stellte ein Biochemiker fest, daß in Städten, in denen der Lithiumgehalt des Trinkwassers höher war als in anderen, die Zahl der Geisteskranken niedriger war. Dr. Leon Eisenberg, Professor für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Harvarduniversität, schrieb: „Wir können bereits manisch-depressiven Patienten helfen, nach einer Krankheitsepisode gesund zu bleiben, indem wir das Element Lithium prophylaktisch verabreichen“ (Weltgesundheit, Oktober 1974)b.
Außer Lithium mögen auch andere Spurenelemente, die in gewissen Nahrungsmitteln vorhanden sind — zum Beispiel Zink, Calcium, Mangan, Magnesium, Eisen, Kupfer, Kobalt, Chrom, Selen und Molybdän —, bei Geisteskrankheiten eine wichtige Rolle spielen. Tatsächlich erkennen immer mehr Psychiater die Bedeutung der Spurenelemente an.
„Orthomolekulare Psychiatrie“
Der Ausdruck „orthomolekulare Psychiatrie“ wurde von dem Nobelpreisträger Dr. Linus Pauling geprägt. Damit bezeichnete er eine Therapie, bei der Wert darauf gelegt wird, daß „an den richtigen Stellen die richtige Konzentration der richtigen Substanzen vorhanden ist“. Der Ausdruck ist aus ortho, was „gerade“, „aufrecht“, „richtig“ oder „recht“ bedeutet (wie in dem Wort „orthodox“), und molekular, abgeleitet von dem Wort „Molekül“, zusammengesetzt.
Pauling schreibt: „Es ist bekannt, daß das Gehirn nur richtig funktionieren kann, wenn Moleküle vieler verschiedener Substanzen darin vorhanden sind“, die dem Gehirn durch das Blut zugeführt werden. Er ist der Meinung, daß es bei gewissen Geisteskrankheiten dem Organismus nicht möglich ist, die Vitamine und Spurenmineralien, die in der Nahrung vorhanden sind, richtig zu verwerten. Um diesen genetischen Defekt zu kompensieren, empfiehlt er die Einnahme hoher Dosen von Vitaminen und/oder die Ernährung des Patienten auf andere Weise auf ihn abzustimmen. Das Schwergewicht sollte auf die Einnahme der Vitamine B1, B5 (Nikotinsäureamid), B6, B12, C und H gelegt werden.
Es tobt ein heftiger Streit der Meinungen über den Nutzen der „orthomolekularen Psychiatrie“. Professor Carlos A. León (Ecuador) sagte zum Beispiel, es gebe noch keinen überzeugenden Beweis für ihre Nützlichkeit. Ähnlich äußerte sich auch die Amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie. Ihr Sprecher erklärte, die Verfechter der Megavitamin-Therapie hätten aufsehenerregende, aber in vielen Fällen haltlose Behauptungen über ihre Wirkung erhoben. Und Dr. S. Kety, Professor für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Harvarduniversität, behauptete, bei dieser Methode handle es sich um eine „verfrühte Anwendung unvollständiger Kenntnisse“.
Dr. David Hawkins (Manhasset, New York) dagegen berichtet, er habe auf diese Weise 5 000 Schizophrene behandelt und bei mehr als 4 000 von ihnen sei eine Besserung eingetreten. Er hat sogar die Erfahrung gemacht, daß er die Heilungsrate fast verdoppeln, die Zahl der Dauerpatienten auf die Hälfte vermindern und Selbstmorde völlig ausschalten kann — die Zahl ist unter Schizophrenen sonst sehr hoch —, wenn er bei seinen Patienten nicht nur die übliche Psychotherapie und Chemotherapie anwendet, sondern sie auch mit Vitaminen behandelt.
Dr. Abram Hoffer, Präsident der Kanadischen Stiftung zur Erforschung der Schizophrenien sowie der entsprechenden Stiftung in Amerika, sagte: „Meine Patienten halten mich für einen verrückten Psychiater, weil ich ihnen, wenn sie mit psychischen Problemen zu mir kommen, einen Ernährungsplan mit nach Hause gebe. Aber schließlich kommen auch sie zu der Überzeugung, daß die Ernährung wichtig ist.“
Gegenwärtig wenden in den USA über 300 Psychiater — und ihre Zahl wächst ständig — die „orthomolekulare“ Methode an. Sie behaupten, damit bei rund 30 000 Patienten eine Besserung erzielt zu haben. Nicht unbeachtet lassen sollte man auch die Tatsache, daß dieses Heilverfahren weit billiger ist als andere Heilverfahren.
Was man tun kann
Vielleicht leidet jemand in deiner Familie — du oder ein anderes Familienglied — an einer Geisteskrankheit oder an einer psychischen Störung. Wie wir nun gesehen haben, kann man manches tun, um eine Heilung zu erzielen.
Da eine Geisteskrankheit oft durch übermäßige Belastung ausgelöst wird, sollte man alles daransetzen, die Streßursache zu beseitigen oder zu vermindern. Das Verhältnis zu einem unserer Mitmenschen mag uns Kummer bereiten, oder wir mögen Eheprobleme haben oder in Verbindung mit unserer Arbeit eine Entscheidung treffen müssen oder sonst irgendein Lebensproblem haben. Dann sollte man das Problem lösen oder sich bemühen, es aus dem Sinn zu verbannen.
Bei schweren psychischen Störungen bestehen Möglichkeiten wie die Anwendung von Medikamenten oder der Elektroschocktherapie, um der Krankheit Herr zu werden. Allerdings dürfen solche Verfahren nur unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt werden, und im allgemeinen sollten sie als allerletztes Mittel angewandt werden. In den vergangenen Jahren hat man auch mit der Anwendung von Vitaminen und Hormonen vorzügliche Ergebnisse erzielt. Es mag sich als nützlich erweisen, sich mit diesen Möglichkeiten näher zu befassen.
Grundlegend muß dem Geisteskranken jedoch geholfen werden, sein Denken zu beherrschen. Viele wenden sich deshalb der allbekannten Psychotherapie zu, um in einem solchen Fall Hilfe zu bekommen. Was ist Psychotherapie? Verhilft sie einem wieder zum inneren oder seelischen Gleichgewicht?
[Fußnoten]
a Hypoglykämie bedeutet Erniedrigung des Blutzuckergehaltes.
b In der Zeitschrift The Medical Letter (Ausgabe vom 3. Januar 1975) konnte man lesen, daß Lithium wegen möglicher nachteiliger Nebenwirkungen nur unter sorgfältiger Überwachung genommen werden darf.