Todbringende Niederschläge
„Wir glauben, daß das Urteil feststeht. Wissenschaftler in der ganzen Welt stimmen darin überein, daß es Säureniederschläge gibt und daß etwas getan werden muß, um sie einzuschränken“, sagte Robert F. Flacke von der Umweltbehörde New York State Department of Environmental Conservation.
„Wir glauben, daß das Urteil noch nicht feststeht“, erwiderte Carl E. Bagge, Präsident der National Coal Association. „Die Ursachen und die Auswirkungen des sauren Regens sind unbekannt“, behauptete er.
Zwei führende Sprecher, zwei gegensätzliche Meinungen. Welche Seite hat recht?
„ALS ich hierherkam, war es ein Anglerparadies.“ Während Peter Peloquin, ein langjähriger Ortsansässiger und Eigentümer eines Sommerhauses am Chiniguchisee in Kanada, dies sagte, beugte er sich über den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „In der Chiniguchi-Seenkette“, fuhr er fort, „wurde früher in fast einem Dutzend großer Seen enorm viel gefischt.“
Doch Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre geschah in diesem See etwas Eigenartiges. Junge Forellen wanden sich an der Wasseroberfläche hin und her — was sie sonst nie tun — und wurden zu einer leichten Beute für die Möwen. In demselben Zeitraum wurden die letzten großen Fische gefangen. Heute gibt es sowohl im Chiniguchisee als auch in Hunderten von Seen in der Umgebung keinen einzigen Fisch mehr.
Was ist die Ursache dieses Mißstandes? Saurer Regen — eines der schwerwiegendsten Umweltprobleme unserer Zeit.
Abgase der Industrie
In Nordamerika werden 30 Prozent des sauren Regens durch Stickoxyde hervorgerufen — die Hälfte davon stammt aus dem Auspuff von Kraftfahrzeugen. Die andere Hälfte entsteht durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, vor allem von Kohle, in Kraftwerken und anderen Industriebetrieben. Kohle ist auch der Ausgangsstoff eines weiteren Bösewichts, nämlich des Schwefeldioxyds, das die übrigen 70 Prozent des sauren Regens ausmacht. In Nordamerika werden jährlich 54 Millionen Tonnen dieser Gase freigesetzt. Die Atmosphäre wird zur Müllkippe.
Solche Oxyde erfahren hoch oben in der Atmosphäre unter Einwirkung von Sonnenlicht und Wasserdampf komplexe und heute noch kaum verstandene chemische Veränderungen. Durch die sich daraus ergebenden Reaktionen entstehen Schwefel- und Salpetersäure — saurer Regen. Diese Säuren kommen auch in Form von saurem Schnee, Hagel, Graupelregen und Nebel und sogar in Trockenform herunter.
Eine zunehmende Plage
Als der englische Wissenschaftler Robert Angus Smith im Jahre 1852 in der Nähe der durch Kohleverbrennung verseuchten Industriestadt Manchester sauren Regen entdeckte, galt das lediglich als eine örtliche Erscheinung. Doch in den 1950er und 1960er Jahren entfachte die Verschmutzung durch Rauchgase einen Sturm der Entrüstung in Gemeinden rund um kohle- und ölbetriebene Fabriken.
Die Lösung der 70er Jahre? Höhere Schornsteine. In Sudbury beispielsweise blies Kanadas Industriegigant International Nickel (jetzt Inco Limited) täglich über 6 300 Tonnen Schwefeldioxyd in die Luft. Durch die Rauchgase wurde die Umgebung derart verwüstet, daß Ende der 60er Jahre amerikanische Astronauten dort Mondspaziergänge übten. Dann baute Inco den Superschornstein — mit über 400 m Höhe damals der höchste der Welt. In Sudbury wuchsen wieder Gras, Blumen und Bäume. Doch der Superschornstein und viele weitere verlängerte Schornsteine in Kanada, in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern erwiesen sich, was den Umweltschutz betrifft, als Reinfall — aus einem örtlichen Problem wurde ein internationales.
Die Schadstoffe werden so hoch in die Luft geblasen, daß sie jetzt auch über anderen Ländern abregnen. Schweden und Norwegen sind zu Müllkippen für Schadstoffe aus Europas industrialisiertem Kernland geworden. Über Kanada ziehen säureverseuchte Luftströmungen aus den Vereinigten Staaten hinweg. Kanada wiederum „exportiert“ sauren Regen in den Nordosten der Vereinigten Staaten. Abgelegene Inseln wie Hawaii und die Bermudas bleiben nicht verschont. Selbst China und Länder in der südlichen Hemisphäre sind davon betroffen.
Wie wirkt sich das auf die Umwelt aus?
In besonders säureverseuchten Gebieten ist das Wasser der Seen unnatürlich klar, da das Plankton und andere Formen mikroskopischen Lebens eingehen. Die Fortpflanzung der Wassertiere wird gestört oder verhindert. Außerdem werden Aluminium und andere Metalle, die normalerweise in harmlosen Verbindungen vorkommen, in giftiger Form aus dem Boden ausgewaschen. Das Aluminium greift die Kiemen der Fische an und erschwert das Atmen. Sie ersticken förmlich.
Besonders tragisch ist es im Frühjahr, wenn das Leben aus dem Winterschlaf erwacht, wenn die Fische laichen und die Frösche und Salamander ihre Eier in Schmelzwassertümpeln legen. Die Konzentration der Verschmutzung im schmelzenden Schnee erhöht oft den Säuregehalt um ein Hundertfaches, so daß aus 80 Prozent der Eier keine Jungen schlüpfen.
„Das ganze Wassersystem verändert sich“, sagte Dr. Harold Harvey, ein Pionier der Säureregenforschung. „Zuerst verschwinden die Muscheln, dann die Schnecken und dann die Flußkrebse, danach viele Wasserinsekten wie die Eintagsfliegen, die Kleinlibellen, die Steinfliegen und die Großlibellen. Als nächstes sind die Amphibien an der Reihe. ... Dann kommen die Fische usw.“
Was ist das Ergebnis? In 2 000 bis 4 000 Seen der kanadischen Provinz Ontario können keine Forellen und Barsche mehr leben. In neun Flüssen der Provinz Neuschottland, wo der Lachs einst gedieh, stirbt er jetzt aus. In Regierungsberichten heißt es, daß noch 48 000 weitere Seen bedroht sind.
Im Nordosten der Vereinigten Staaten gibt es in über 200 Seen der Adirondack Mountains keinen Fisch mehr. Das gleiche trifft auf zehn Prozent der größten Süßwasserseen in Neuengland zu. Eine Regierungsstudie aus Ohio sagte voraus, daß, „wenn nicht schnell etwas unternommen wird, in Ontario, Quebec und Neuengland bis zum Ende des Jahrhunderts jedes Jahr 2 500 Seen sterben werden“.
Noch schlimmer sieht es in Schweden aus. Gemäß dem Umweltminister Anders Dahlgren ist dort die Zahl der toten Seen auf 20 000 angewachsen.
Die Schäden häufen sich
Der saure Regen schädigt das Erdreich — wesentliche Nährstoffe wie Kalzium, Magnesium, Kalium und Natrium werden ausgewaschen. Todbringendes Aluminium greift die Wurzeln der Bäume an, drosselt ihre Wasserversorgung und zerstört ihren Schutz gegen Krankheiten. Seit 1965 sind in den Green Mountains des amerikanischen Bundesstaates Vermont 50 Prozent der Fichten — junge und alte — abgestorben.
Auch in Großbritannien und Frankreich, in der Schweiz, in Jugoslawien und Polen sterben die Wälder. Schätzungsweise 30 Prozent des bewaldeten Drittels der Bundesrepublik Deutschland sind schwer geschädigt. Selbst wenn die Schwefelabgase gleichbleiben, so sagen die Experten, verlieren die Bäume ihre Fähigkeit, die Säure abzuwehren. In einem alarmierenden Bericht des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz) heißt es, das Ausmaß der Waldschäden in der Bundesrepublik habe sich in weniger als einem Jahr verdoppelt. In Europa gilt der saure Regen als „ökologischer Holocaust“.
Das ist nicht alles. Durch die Säuregüsse nimmt die Korrosion von Metallen zu. Das Schwefeldioxyd in der Luft wandelt das in Sandstein, Kalkstein, Beton und Putz enthaltene Kalzium in zerbröckelndes Kalziumsulfat um. Ein amerikanischer Ausschuß für Umweltfragen schätzte den jährlichen Schaden an Gebäuden und Denkmälern auf mehr als zwei Milliarden Dollar. Die Säulen des Parthenon in Athen, das Kolosseum in Rom und die kanadischen Parlamentsgebäude sind schon angegriffen.
Was die menschliche Gesundheit anbelangt, sind die Beweise der schädlichen Auswirkungen des sauren Regens unvollständig, aber dennoch alarmierend. Das säurehaltige Wasser aus Seen hat schon giftiges Blei und Kupfer aus dem Material von Rohrleitungen gelöst, das dann ins Trinkwasser gelangt ist. In einigen Gegenden hat das zum Beispiel zu Durchfall bei Säuglingen geführt. Aber noch schockierender sind Studien, die zeigen, daß das Schwefeldioxyd in der Luft Bronchitis, Emphyseme und eine Belastung des Herzens und des Kreislaufs verursacht, wodurch Krankheiten entstehen, an denen jedes Jahr vielleicht 50 000 Amerikaner sterben.
Was ist die Lösung?
Offensichtlich muß die Umwelt gereinigt werden. Aber die Kohleindustrie und viele Versorgungsbetriebe des amerikanischen Mittleren Westens sagen, es gebe keine schlüssigen Beweise, daß strenge Abgasvorschriften irgendwelche Auswirkungen auf den Säuregehalt des Regens hätten.
Dann gab am 29. Juni 1983 der amerikanische National Research Council einen Bericht heraus, der gemäß der Zeitschrift Science wahrscheinlich über viele Jahre hinaus die maßgebende Studie über sauren Regen sein wird. Das Gremium kam zu dem Ergebnis, daß 90 bis 95 Prozent des sauren Regens im amerikanischen Nordosten künstlich entstehen, wie zum Beispiel durch Industrie- und Autoabgase. „Eine 50prozentige Verminderung der Schwefel- und Stickstoffgase“, hieß es, „würde eine 50prozentige Verminderung der Säuren bewirken, die der Wind von der Abgasquelle aus auf Land und Wasser verbreitet.“
Die amerikanische Elektrizitätsgesellschaft, die eine Reihe von Kohlekraftwerken im Mittleren Westen betreibt, behauptet, daß ein Zusatzartikel zu den Umweltvorschriften zur Folge hätte, daß die Haushaltungen 50 Prozent und die Industriebetriebe 80 Prozent mehr Stromkosten bezahlen müßten.
Die Umweltschützer dagegen sind anderer Meinung und führen ihre eigenen Zahlen an. Gemäß einem neulich angestellten Kostenvergleich, beruhend auf einer für das Edison Electric Institute und einer anderen für die National Wildlife Federation und die National Clean Air Coalition erstellten Studie, würden im Jahre 1990 die Kosten zwischen 2,4 Milliarden und 4,6 Milliarden US-Dollar liegen — ein Anstieg der Stromkosten von nur 2,4 bis 4,6 Prozent.
Trotz der Kosten ist eine Anzahl von Ländern bereits zur Tat geschritten. In Japan werden die Abgase schon seit Jahren durch Skrubber wirksam nachbehandelt, wobei die Stromkosten um bescheidene 12 Prozent gestiegen sind. Dort gibt es auch eine Schwefelabgassteuer zur Bestrafung von umweltbelastenden Industriebetrieben. In Schweden sind ölbetriebene Fabriken strengen Einschränkungen unterzogen worden, obwohl 67 Prozent der dortigen Umweltverschmutzung über die Grenzen ins Land gelangen. All das ist unternommen worden, obschon manche umweltbelastende Industriezweige behaupten, es gebe nicht genügend Beweise, um handeln zu müssen.
Wie viele Jahre müssen wir noch warten, bis entsprechende Maßnahmen ergriffen werden? Der Säureregenexperte Eville Gorham warnte: „Wenn wir warten, bis das letzte Beweisstückchen gefunden und die ganze Kette zwischen Ursache und Wirkung nachgewiesen worden ist, sind die empfindlichen Lebewesen auf unserem Planeten bereits geschädigt.“ Der Preis für die Verzögerung könnte „eine für immer angegriffene und vergiftete Umwelt, eine ruinierte Fischerei, Forstwirtschaft und Touristik und möglicherweise eine geschädigte menschliche Gesundheit“ sein, wie es in einem Bericht für die kanadische Regierung hieß.
Bei all dem Gerede ist man sich nicht sicher, was man glauben soll. Auf der einen Seite werden Umweltschützer beschuldigt, auf die Gefahren des sauren Regens übertrieben zu reagieren. Auf der anderen Seite sagte die Zeitschrift Time: „Die Sorge der Umweltschützer ist, daß sich die Industriellen weiterhin der Verzögerungstaktik bedienen werden, um kostspieligen Investitionen aus dem Wege zu gehen, die notwendig wären, um die Abgase zu verringern.“
Während jedoch die Menschen reden und streiten, ist bereits eine Dauerlösung in Vorbereitung. Bald wird der große Schöpfer der Erde zur Tat schreiten, um sie von allen selbstsüchtigen Verschmutzern zu reinigen, damit diese unsere Heimat nie mehr durch sauren Regen oder eine andere Industrieplage ihrer Schönheiten berauben können. Sagt dir diese Lösung zu? Dann denke ernsthaft über die zuverlässigen biblischen Prophezeiungen in bezug auf die herannahende Königreichsregierung nach (Offenbarung 11:17, 18).
[Diagramm auf Seite 16]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Der saure Regen verursacht in vielen Wäldern in Europa und im Norden der USA schwere Schäden
Kalziummangel; Baumkronen sterben ab
Manganmangel; Kiefernnadeln werden gelb
Nadeln oder Blätter fallen ab
Schützende Wachsschicht der Nadeln zerstört; Nadeln angegriffen; Atmung behindert
Baumwuchs behindert; weniger Widerstandskraft gegen Frost und Ungeziefer
Wasser- und Nährstoffversorgung gestört
Bakterien an der Zersetzung abgestorbener Nadeln gehindert; weniger Nährstoffe
Giftiges Aluminium zerstört Wurzelenden; Schutz vor Krankheiten beeinträchtigt
Regenwürmer vernichtet
Säure wäscht wichtige Nährstoffe aus — Kalzium, Magnesium, Kalium und Natrium
[Diagramm auf Seite 17]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Europa ist ein Windkessel von Schwefelabgasen. In Mitteleuropa sterben die Wälder. Tausende von säureempfindlichen Seen in Skandinavien sind bereits tot.
[Diagramm auf Seite 17]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Die Schwefelabgase werden von den vorherrschenden Winden vom Ohiotal nach Kanada getragen. Kanada wiederum „exportiert“ seine Abgase in den Nordosten der Vereinigten Staaten.