Ausharren durch Glauben an Jehova
Von Carey W. Barber erzählt
ALS der Redner den Saal in Plainfield (New Jersey) betrat, stellte er fest, daß die Polizei den Bühneneingang besetzt hatte. Während er dann auf die Bühne ging, bemerkte er, daß die Polizei hinter den Vorhängen zwei Maschinengewehre aufgestellt hatte, die er während seiner Ansprache im Rücken haben würde. Die Polizei erklärte, man habe einen Aufruhr angedroht und sie sei dazu da, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Dennoch verlief der Vortrag „Religiöse Unduldsamkeit: Warum?“ ohne Zwischenfälle und wurde von allen Anwesenden, auch von mir, begeistert aufgenommen.
Der Redner war J. F. Rutherford, der damalige Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society. Anfang der dreißiger Jahre war Plainfield ein Zentrum des Widerstandes gegen die Tätigkeit der Zeugen Jehovas. Deshalb hatte Rutherford beschlossen, am 30. Juli 1933 dort jene öffentliche Veranstaltung durchzuführen. Ich kann dir versichern, daß die Atmosphäre während jenes Vortrags über „Unduldsamkeit“ sehr gespannt war!
Erfahrungen wie diese, die ich in jungen Jahren machte, stärkten meinen Glauben und ermutigten mich, in den vergangenen 60 Jahren im Dienste Jehovas auszuharren.
Ein faszinierendes neues Projekt
Ich wurde am 4. Juli 1905 in Trowbridge (Wiltshire, England) geboren. Am 18. April 1921 wurde ich mit sechzehn Jahren auf einem kleinen Kongreß der Internationalen Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden, in Winnipeg (Kanada) getauft.
Um diese Zeit begann die Watch Tower Society ein kühnes neues Projekt. J. F. Rutherford beschloß, die gebundenen Bücher der Gesellschaft nicht mehr in kommerziellen Druckereien, sondern — mit Jehovas Hilfe — von Gott hingegebenen Christen herstellen zu lassen. Also erwarb die Gesellschaft in Brooklyn, New York, 18 Concord Street ein Fabrikgebäude und rief Brüder in Kanada und in den Vereinigten Staaten dazu auf, zu kommen und bei der Arbeit zu helfen.
So trafen mein Zwillingsbruder Norman und ich — noch keine achtzehn Jahre alt — im April 1923 im Bethel, der Brooklyner Zentrale der Gesellschaft, ein, bereit, an diesem neuen Projekt zu arbeiten.
Meine erste Aufgabe bestand darin, an einer Heftmaschine die Broschüre Die Wiederkunft unseres Herrn zu heften. Der Aufseher erklärte mir, wie man das macht, zeigte mir einen riesigen Stapel Broschüren und sagte: „Beeil dich, und sieh zu, daß du fertig wirst, denn Harmagedon ist nahe!“
„Seitdem sind aber viele Jahre vergangen“, magst du sagen. „Es war bestimmt kein Grund zur Eile da.“ Es stimmt, der Tag des Zornes Jehovas ist noch nicht gekommen. Doch wenn du die Herausforderung bedenkst, vor der wir standen — Bücher zu drucken, damit die gute Botschaft „auf der ganzen bewohnten Erde“ gepredigt werden konnte —, dann kannst du die Dringlichkeit verstehen, die wir verspürten (Matthäus 24:14). Erfahrene Männer aus dem Druckereigewerbe schüttelten den Kopf und sagten: „Das schafft ihr nie.“ Ich kann dir versichern, daß wir Neulinge die Kunst, Bücher zu drucken und zu binden, manchmal auf frustrierende Weise lernten! Unser Glaube und unser Ausharren wurden wirklich auf die Probe gestellt. Oft dachte ich daher über die Worte aus Hebräer 10:36 nach: „Ihr bedürft des Ausharrens, damit ihr, nachdem ihr den Willen Gottes getan habt, die Erfüllung der Verheißung empfangen mögt.“
Ausharren beim Predigen nötig
Die Predigttätigkeit von Tür zu Tür war damals für uns etwas völlig Neues, und es gab religiöse Gegner.
So wurden an einem Samstagnachmittag, nicht lange nachdem ich ins Bethel gekommen war, mein Bruder Norman und ich zusammen mit einem anderen Bethelbruder verhaftet, während wir Wohnungsinhaber besuchten, um mit ihnen über Gottes Wort zu sprechen. Man teilte uns mit, daß es in jener Gegend gegen das Gesetz sei, biblische Schriften von Haus zu Haus zu verbreiten, und wir wurden zu einer Geldstrafe verurteilt. Da wir nicht wußten, wie wir uns in einer solchen Situation verhalten sollten, bezahlten wir die Strafe.
Wir drei waren entsetzt, daß ein solches Vorgehen in einem „freien“ Land möglich war. Doch statt unsere Entschlossenheit, die gute Botschaft zu predigen, zu dämpfen, steigerte dieser Vorfall unseren Eifer. Unser kleines Erlebnis war nur eines in einer Kampagne, die gegen uns gestartet wurde und die im Laufe der Jahre an Heftigkeit zunehmen sollte. Aber Jehovas Zeugen gaben nicht kampflos auf! Mehr darüber etwas später.
Materiell versorgt
Nachdem ich die Strafe bezahlt hatte und wieder im Bethel war, hatte ich kein Geld mehr. Ich kann aber ehrlich sagen, daß es mir von dieser Zeit an bis heute nie an Nahrung, Kleidung oder Obdach gefehlt hat. Einige, die ich kannte, nahmen den Vollzeitdienst nicht auf, weil sie Angst hatten, sie würden nicht das zum Leben Notwendige haben. Andere gaben auf, weil sie meinten, ihr Taschengeld reiche für ihre Bedürfnisse nicht aus. Oder sie bezweifelten, daß sie im Alter versorgt würden, und so nahmen sie eine weltliche Arbeit an. Doch mein Glaube an die Verheißung Jehovas, stets für das zum Leben Notwendige zu sorgen, hat mir geholfen, im Vollzeitdienst auszuharren (Matthäus 6:25-34). Ich habe volles Vertrauen, daß mich Jehova nie verlassen wird (Hebräer 13:5, 6).
Ich kann mir zwar gewissen Luxus nicht leisten, aber ich bin immer mit dem zufrieden gewesen, was Jehova mir gegeben hat. Ich habe aus Erfahrung gelernt, daß Gott jedem, der ‘zuerst das Königreich und Seine Gerechtigkeit sucht’ (Matthäus 6:33), alles geben wird, was er braucht, um auszuharren und glücklich zu sein. Ich kann persönlich die Wahrhaftigkeit von Sprüche 10:22 bezeugen, wo es heißt: „Der Segen Jehovas — der macht reich, und keinen Schmerz fügt er ihm hinzu.“
Rechtskämpfe
Mit der Zeit lernte ich, eine Akzidenzpresse zu bedienen, und einer der vielen Aufträge, die ich zu erledigen hatte, war das Drucken von juristischen Schriftsätzen, die Bruder Rutherford und andere in Rechtskämpfen gegen diejenigen benutzten, die ‘durch Verordnung Unheil schmiedeten’ (Psalm 94:20). Als das Fieber des Zweiten Weltkriegs Anfang der vierziger Jahre seinen Höhepunkt erreichte, sah es wirklich so aus, als würden unsere Gegner unserem Werk ein Ende machen. Aber welch eine Ermutigung, als Jehova seinem Volk am 3. Mai 1943 gewaltige Siege schenkte! Das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten entschied in zwölf von dreizehn Fällen zu unseren Gunsten!
Ein wirklich hervorragender Fall, an den ich mich noch erinnere, war der Fall Murdock gegen Pennsylvania. Bei diesem Prozeß ging es darum, ob ein Zeuge Jehovas zum Predigen einen Gewerbeschein haben und eine gewisse Steuer bezahlen müsse. Das Gericht stieß ein früheres Urteil um und erklärte: „Man behauptet, die Tatsache, daß die Gewerbescheingebühr diese Tätigkeit unterdrücken oder kontrollieren könne, sei, wenn sie sich nicht so auswirke, unwichtig. Doch das hieße den Charakter dieser Gebühr verkennen. Es handelt sich um eine Gewerbescheingebühr — eine allgemeine Gebühr, die für die Beanspruchung eines Rechts erhoben wird, das die Bill of Rights gewährt. Ein Staat darf keine Gebühr für den Genuß eines von der Bundesverfassung gewährleisteten Rechts erheben.“ Welch ein Sieg für Gottes Volk!
Diese Ereignisse und die Art und Weise, wie Jehova alles lenkte, gaben mir viel Kraft und überzeugten mich davon, daß er alles zum Guten derer ausgehen lassen kann, die ihn lieben.
Aufregende Kongresse!
Wenden wir uns wieder dem Jahr 1922 zu. Von jenem Jahr an bis 1928 hielten die Bibelforscher sieben bedeutende Kongresse ab. Ich hatte das Vorrecht, an jedem dieser Kongresse entweder durch meine Anwesenheit oder durch das Drucken und die Verbreitung der begeisternden Resolutionen, die jeweils angenommen wurden, einen Anteil zu haben. Durch die Gemeinschaft mit den anderen Kongreßteilnehmern und die ganze damit verbundene Tätigkeit wurde mein Glaube weiter gestärkt, und ich wußte, daß ich mit Jehovas Hilfe ausharren konnte.
Manchmal versuchten wütende Pöbelrotten, unsere friedlichen Kongresse zu sprengen. Zum Beispiel war ich dabei, als am Sonntag, dem 25. Juni 1939, Gruppen der Katholischen Aktion im Madison Square Garden in New York J. F. Rutherfords öffentlichen Vortrag „Herrschaft und Friede“ verhindern wollten. Doch wir waren vorbereitet.
Eine Anzahl von uns aus dem Bethel wurde zusammen mit anderen Brüdern als Ordner eingeteilt. Gegen 16 Uhr war der größte Teil des Saales mit Zeugen gefüllt mit Ausnahme der Galerie direkt hinter dem Redner. Kurz nach Beginn der Zusammenkunft kam eine Pöbelrotte, bestehend aus rund 500 Anhängern von Charles E. Coughlin, dem bekannten katholischen „Radiopriester“ der dreißiger Jahre, in den Saal und füllte die Sitzreihen in der Galerie. Ein wenig später schaltete jemand in der Galerie die Lichter an, und das war für die Pöbelrotte das verabredete Zeichen, in Aktion zu treten.
„Heil Hitler!“ „Viva Franco!“ und andere Schreie ertönten aus dieser Richtung. Was würde Rutherford tun?
„Seht! Heute würden die Nazis und die Faschisten gern diese Zusammenkunft sprengen! Aber dank der Gnade Gottes gelingt es ihnen nicht“, erklärte Bruder Rutherford von der Bühne aus. Wir klatschten Beifall und standen ihm bei. Daraufhin entfernten die Ordner die Eindringlinge aus dem Saal.
Welch ein aufregender Kongreß! Durch Erlebnisse wie dieses wurden unsere Ergebenheit und unser Glaube, daß Jehova sein Volk wirklich beschützt, auf die Probe gestellt. Solche Episoden hielten meinen Glauben an Jehova lebendig und ermutigten mich, in seinem Dienst auszuharren.
Die Streitfrage der christlichen Neutralität
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Streitfrage der christlichen Neutralität gegenüber weltlichen Konflikten in den Vordergrund gerückt. Und wieder einmal befand ich mich inmitten eines Kampfes!
Diejenigen von uns, die im wehrpflichtigen Alter waren, erhielten die Aufforderung, vor der örtlichen Musterungskommission zu erscheinen. Wir ließen die medizinischen Untersuchungen durchführen und stellten einen Antrag auf Befreiung vom Wehrdienst, wie es das Gesetz einräumte. Die Musterungskommission versuchte nachzuweisen, daß uns eine Befreiung nicht zustehe. Aber Jehova war wieder einmal mit uns — keiner von uns wurde aus dem Bethel geholt. Wenn alle jüngeren Brüder aus dem Bethel eingezogen worden wären, wäre das wichtige christliche Predigtwerk ernsthaft behindert worden.
Wegen der Freiheitsbeschränkungen in vielen Ländern und als Vorsichtsmaßnahme für die Bethelfamilie wurde in South Lansing (New York) ein Zufluchtsort gebaut. Er wurde jedoch nie für diesen Zweck benötigt. Statt dessen wurde das Gebäude unter Jehovas Anleitung später in ein Wohnheim und eine Schule, Wachtturm-Bibelschule Gilead genannt, umgewandelt. Das geschah, während der Zweite Weltkrieg noch tobte. Im Jahre 1943 begann die erste Klasse mit 100 Studenten. Die Schule (die mir später zugute kommen sollte) sollte zur Ausbildung von Missionaren dienen, um die Verbreitung der guten Botschaft von Gottes Königreich zu fördern.
Eine neue Aufgabe
Zu dieser Zeit war ich bereits 20 Jahre im Bethel, und obwohl es scheinen mochte, daß die Weltereignisse auf einen Höhepunkt zusteuerten, ging das weltweite Predigtwerk jetzt erst einmal richtig los.
Einige Jahre später, im Jahre 1948, erhielt ich eine neue Aufgabe. Ich wurde als reisender Beauftragter der Gesellschaft ausgesandt, und das sollte meine Aufgabe für die nächsten 30 Jahre sein. Es wäre unmöglich, auch nur zu versuchen, all das zu beschreiben, was sich in dieser Zeit ereignete.
Mein erstes Tätigkeitsfeld war der Bezirk 6, der Westen der USA. Und was für ein Bezirk das war! Er begann in San Diego (Kalifornien) und reichte im Norden bis an die kanadische Grenze. Das war eine Entfernung von 2 400 Kilometern. In östlicher Richtung erstreckte er sich von der Westküste bis zu den Rocky Mountains. Dazu gehörten Washington, Idaho und Montana. In südlicher Richtung schloß er ganz Wyoming, Utah, Nevada, New Mexico, den Panhandle von Texas sowie Arizona ein und verlief schließlich wieder zurück nach Kalifornien. In jenen Tagen lagen die wöchentlichen Kreiskongresse der Zeugen Jehovas etwa 1 600 Kilometer auseinander. So mußte ich mit meinem Wagen wirklich gewaltige Strecken zurücklegen, um bei jedem Kongreß anwesend zu sein.
Es war für mich jedoch ein wunderbares Vorrecht, durch die gesamten Vereinigten Staaten zu reisen und zusammen mit treuen Brüdern und Schwestern Jehova Gott anzubeten und ihm zu dienen. Mit ihnen bei der Verkündigung der guten Botschaft zusammenzuarbeiten war wirklich glaubensstärkend.
Eine liebe, treue Schwester, an die ich mich noch erinnere, war Emma, die in New Mexico lebte. Jahrelang diente sie als Vollzeitverkündigerin der guten Botschaft. Sie war in einem riesigen Wüstengebiet des Staates zu Fuß unterwegs. Gewöhnlich ging sie den ganzen Tag von Haus zu Haus, und wenn die Nacht sie überraschte, blieb sie entweder bei einer gastfreundlichen Familie, oder sie legte sich unter irgendeinem schützenden Dach nieder. Manchmal wurde sie auf dem Wege von vorüberreitenden Viehhütern erkannt, und sie riefen ihr zu: „Willst du mit, Oma?“ Sie stieg dann auf und wurde ein paar Kilometer mitgenommen. Ihre große Liebe zu Jehova und ihr Eifer ermutigten mich, im Dienste Gottes auszuharren.
Nach acht Jahren erlebte ich einen weiteren großen Wechsel. Im Jahre 1955 wurde ich zur 26. Klasse der Gileadschule eingeladen. In dieser Klasse war auch eine Pionierschwester (eine Vollzeitevangelistin) namens Sydney Lee Brewer aus Kanada. Nach Abschluß der Schule reiste ich nicht allein ab, sondern Sydney und ich heirateten auf dem Weg zu unserem neuen Tätigkeitsfeld: Wir sollten Versammlungen in der Gegend von Chicago besuchen und ermuntern. Das war am 18. Februar 1956. Tatsächlich verbrachten wir unsere Flitterwochen damit, den Versammlungen zu dienen. Sydney arbeitet immer noch als treue Gefährtin an meiner Seite. Ihre fleißigen Bemühungen sind vielen eine Quelle der Ermunterung gewesen.
Nach etwa 30 Jahren im Reisedienst erhielt ich im Herbst 1977 vom Hauptbüro einen Brief, in dem ich eingeladen wurde, als Glied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas zu dienen. Und so kehrte ich in mein gutes altes Heim zurück — in das Brooklyner Bethel. Einen kleinen Anteil an der Tätigkeit der leitenden Körperschaft des Volkes Jehovas zu haben ist ein unvorstellbares Vorrecht und eine große Ehre.
Was soll ich sagen, wenn ich nun nach etwa 60 Jahren im Dienste Jehovas zurückblicke? Ich habe gesehen, wie Jehovas Zeugen von wenigen Tausend im Jahre 1923 auf über 2 000 000 im Jahre 1982 angewachsen sind. Ich habe erlebt, wie Gegner vergeblich versucht haben, das Predigtwerk aufzuhalten. Ich habe das Vorrecht genossen, mit Tausenden von Zeugen Jehovas in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern zusammenzutreffen und mit ihnen Gemeinschaft zu pflegen. Obwohl ich einige aufregende Erlebnisse hatte, haben mir mein Glaube an Jehova und meine Entschlossenheit, in seinem Dienst auszuharren, geholfen, sie zu überstehen.
Ich empfinde wie einst König David, der sich bewogen fühlte, Jehova zu lobpreisen, weil er für ihn wie ein liebevoller Hirte gewesen war (Psalm 23). Wie David hat es auch mir an nichts gemangelt. Jehova hat in all diesen Jahren tatsächlich meine Seele getränkt und erquickt. Ich hoffe, im Glauben und in der Liebe zu dem treuen Hirten, Jehova Gott, weiterhin zu wachsen. Ich bete darum, daß er mir die nötige Kraft geben möge, ‘im Hause Jehovas alle Tage meines Lebens’ weiterhin treu auszuharren (Psalm 27:4).
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J. F. Rutherford spricht im Madison Square Garden (1939).